Zwi­schen Pra­xis und Pa­thos: Ta­gung «Bau­kul­tur heu­te!»

Die Probleme sind bekannt: Megatrends wie Klimakrise, steigende Strompreise und Wachstum fordern die Baukultur und die Landschaften der Schweiz heraus. Gleichzeitig wird so viel gebaut wie nie zuvor, es muss nach innen verdichtet werden. Wie soll heutzutage gebaut werden? Und was macht eine hohe zeitgenössische Baukultur aus? Dieser Frage ging Anfang Juni die Tagung «Baukultur heute! Gemeinden und Städte im Dialog» nach.

Publikationsdatum
13-06-2023

Oliver Martin (Bundesamt für Kultur) forderte zu Beginn der Tagung «Baukultur heute! Gemeinden und Städte im Dialog» das Einläuten einer Post-Wachstumsphase. Nur wie? Die Antworten sind komplexer und vielschichtiger als Planende, Verwaltungen, Politik und Medien oft gerne hätten.

Um sich über die Herausforderungen und mögliche Lösungen auszutauschen, versammelten sich am 6. Juni in Aarau knapp 300 Personen zur Tagung «Baukultur heute! Gemeinden und Städte im Dialog». Im Publikum sassen Fachpersonen aus Verwaltungen, Planungsbüros, Verbänden und Hochschulen. Sie vertraten 22 Kantone und 53 Gemeinden. Vorträge, Podien und Workshops sorgten für ein dichtes sowie abwechslungsreiches Programm. Dazwischen gab es Zeit für Diskussion und Erfahrungsaustausch an den Stehtischen im Foyer oder vor dem Kongresshaus an der Sonne. Veranstaltet wurde die Tagung von vier Trägerorganisationen: Bundesamt für Kultur, EspaceSuisse, Hochschule Luzern und Schweizer Heimatschutz.

Bedingungen für hohe Baukultur

Seit 1972 verleiht der Schweizer Heimatschutz jährlich den Wakkerpreis. Anhand dieser Auszeichnung untersuchte ein Forschungsteam der Hochschule Luzern Bedingungen für eine hohe Baukultur. Welche Herausforderungen liegen in der baulichen Gemeindeentwicklung? Und welche Instrumente und Strategien setzen Wakker-Gemeinden ein? Alexa Bodammer (Hochschule Luzern, Soziale Arbeit) veranschaulichte anhand der prämierten Gemeinden Sempach, Sion und Langenthal einige Schlüsselfaktoren für hohe Baukultur: der Einsatz von Expertisen, die Weiterentwicklung des Bestands, Kommunikation und Dialoge, eine aktive Bodenpolitik. Und obwohl den Gemeinden in der Gestaltung des gebauten Umfelds eine zentrale Rolle zuzuschreiben sei, handelten sie nicht allein. Laut der Studie entstehe Baukultur von hoher Qualität erst in der Zusammenarbeit von Verwaltung, Politik, Fachwelt und Zivilbevölkerung.

Eine Tagung der Beratenden

Zu Beginn der Tagung wurden die Teilnehmer:innen digital gefragt, auf welcher Seite der Beratung sie stehen: ob sie Beratung zu baukulturellen Themen suchen oder selbst beraten. 55% der Teilnehmer:innen gaben Letzteres an, 25% sahen sich in beiden Rollen. Beratungssuchende waren kaum an der Tagung vertreten. Beispiele aus den Wakker-Gemeinden Langenthal, Meyrin und Sempach zeigten jedoch, wie wichtig die Vermittlung und der Dialog auch ausserhalb der Baukulturszene ist: Im Vormittagspodium, moderiert von Karin Salm (Kulturjournalistin), ging es unter anderem um Partizipation, um Workshops mit der Zivilbevölkerung sowie um den richtigen Zeitpunkt, in den Dialog zu treten. Reto Müller (Stadtpräsident Langenthal BE) plädierte für einen besseren Zusammenhalt zwischen allen am Bau Beteiligten, da allfällige Schuldzuweisungen oder Stigmatisierungen den Prozess aufhielten.

Konkrete Erfahrungsberichte

Besonders anregend waren konkrete Beispiele aus Lichtensteig, Glarus Nord, Zug, Chur und La Sarraz. Mathias Müller (Stadtpräsident und Kantonsrat St. Gallen) präsentierte die Probleme, mit denen Lichtensteig bis vor Kurzem zu kämpfen hatte: Abwanderung, Leerstand, Bedeutungsverlust. Um die Abwärtsspirale zu stoppen, sprang die Politik in die Bresche und entwickelte gemeinsam mit der Bevölkerung und der Wirtschaft innovative Projekte für die Wiederbelebung der ungenutzten Räume im Zentrum von Lichtensteig.

In Glarus Nord hingegen stellte sich nach der 2011 erfolgten Zusammenlegung von acht Gemeinden die Frage nach einer gemeinsamen Identität. Um die Qualitäten der unterschiedlichen Dörfer zu analysieren, wurden «räumliche Dorfbilder» erstellt, kleine Büchlein mit dem aktuellen Stand der ortsbaulichen Strukturen. Diese Leitbilder wiederum dienten als Grundlage für eine Gesamtbetrachtung mit zehn Leitsätzen, die 2022 in die Legislaturziele der Gemeinde einflossen. Beispiele aus Zug und Chur veranschaulichten, wie das ISOS als Grundlage für eine erfolgreiche Stadtentwicklung dienen kann, gerade in sich schnell verändernden Ortschaften wie Zug.

Dialog auf allen Ebenen

Am Nachmittag stand der Erfahrungsaustausch im Zentrum. In vier Workshops wechselten sich die Teilnehmer:innen beispielsweise zu ihren Arbeitsprozessen auf der Verwaltung aus,  es ging um die Vermittlung von Baukultur, um Bodenpolitik, um die konkrete Anwendung des ISOS.

Das Publikum wurde gegen Schluss erneut digital befragt: Wie kann Baukultur gelingen? «Koordination, Kooperation, Kommunikation», «Baukultur muss ausgehandelt werden», «Dialog fördern» oder «schlaue partizipative Projekte» waren einige der 240 Antworten. Auch das Schlusspodium thematisierte die Wichtigkeit von interdisziplinärem Austausch. Es brauche Schlüsselpersonen in der Verwaltung und in der Politik, die diese Dialoge fördern. Und: Das Handlungsfeld Baukultur müsse in der Politik präsenter werden.

In dieser Schlussrunde mangelte es nicht an Pathos: Barbara Meyer (Stadtplanerin Schlieren) wünschte sich, die Menschen wieder für das Wahre, das Gute und das Schöne begeistern zu können. Doch was macht eine Stadt schön? Ist es die Mischung der Nutzungen, ist es der öffentliche Raum? Und ist ein traditionelles Bauernhaus gleich schön wie ein Block in der Agglomeration?

Die Haltung von Ariane Widmer Pham (Kantonsplanerin Genf) zur letzten Frage war unmissverständlich. Sie forderte dazu auf, hinauszugehen und sich die gebaute Umwelt anzusehen – gerade die Bauobjekte der zweiten Reihe, diejenigen in den Agglomerationen. Daraufhin applaudierte das Publikum spontan und zeigte: In diesem Raum herrscht Einigkeit. Hier war es einfach, über Baukultur zu sprechen. Die wahre Herausforderung liegt aber zu Hause in den eigenen Gemeinden. Dort muss weiterhin Überzeugungsarbeit geleistet und der Dialog erst recht weitergeführt werden.

Verwandte Beiträge