Ver­wach­sen­de Kon­struk­tio­nen

Forscher der Universität Stuttgart arbeiten an Tragkonstruktionen aus lebenden Bäumen

Baubotanische Gebilde sind als Mischkonstruktionen technischer und pflanzlicher Elemente konzipiert. Sie vereinen Eigenschaften des Lebendigen wie des Technischen. An der Universität Stuttgart erforschen Baubotaniker diese Systeme und haben bereits Bauten wie einen Steg und eine Vogelbeobachtungsstation errichtet. Diesen Sommer wollen sie einen mehrgeschossigen Turm pflanzen. Vielleicht ermöglicht es die Baubotanik in einigen Jahren, Städte mit konstruierten Baumstrukturen auszustatten.

Publikationsdatum
20-01-2012
Revision
01-09-2015

Der Begriff Baubotanik entstand 2005 am Institut Grundlagen Moderner Architektur und Entwerfen der Universität Stuttgart. Er steht für den Ansatz, Tragstrukturen aus lebenden Bäumen zu bilden. Sowohl in der Architektur als auch in der Gartenkunst sind Beispiele zu finden, bei denen versucht wurde, Bäume architektonisch zu formen oder gar Bauwerke aus Bäumen entstehen zu lassen. Auch die Forschung und die Praxis der Baubotanik bewegen sich in diesem Feld, sie versuchen jedoch, den Ansatz auf natur- und ingenieurwissenschaftlicher Grundlage in Richtung einer Bauweise weiterzuentwickeln und die technischen wie ästhetischen Potenziale systematisch zu erforschen. 

Steg und Vogelbeobachtungsstation

Das erste grössere Baubotanik-Bauwerk ist ein Steg, der im Frühjahr 2005 realisiert wurde. Die Konstruktion ist einfach: Die begehbaren Laufflächen und die Handläufe wurden konventionell aus Stahl konstruiert, während alle vertikalen lasttragenden und aussteifenden Konstruktionselemente aus Bündeln von Weidensteckhölzern gebildet wurden. Weil die verwendeten Weiden unter geeigneten Bedingungen am unteren Ende eines abgeschnittenen Triebes neue, sogenannte Adventivwurzeln bilden können, verankerte sich das Bauwerk selbsttätig im Boden, ohne dass ein klassisches Fundament nötig war. Oberirdisch trieben die Pflanzen unmittelbar nach Fertigstellung aus, und mit den ersten Blättern stellte die anfangs eher technisch anmutende Struktur ihre Lebendigkeit unter Beweis. Im Verlauf des Sommers entstanden fast blickdichte «grüne Wände», und das Bauwerk ähnelte zunehmend einem grossen Gebüsch oder einer Hecke. Nur an den Stahlelementen und der geometrischen Form war es als ein artifizielles Gebilde zu erkennen. Mit dem Blattfall im Herbst dominierten wieder Technik und Geometrie. Doch auch im Winter ist offensichtlich, dass sich die Gestalt des Bauwerks durch die Wachstumsprozesse verändert, weil sich beispielsweise durch den Austrieb die ursprünglichen Proportionen verschieben. Die Grundgeometrie der Tragstruktur verändert sich jedoch nicht, da Bäume nur an den Triebspitzen ein Streckungswachstum zeigen – die Stegfläche wächst nicht in die Höhe. Die einzelnen Pflanzen werden jedoch im Laufe der Zeit dicker, und insbesondere an Knotenpunkten kann es durch Verwachsen und Überwallen zu einer sichtbaren Zunahme der Tragfähigkeit kommen – die anfangs jungen Ruten entwickeln sich zu einer knorrigen Verbundstruktur, deren Ausformung im Detail nicht planbar ist. 
Dennoch weist die Konstruktion einige «Kinderkrankheiten» auf. Beispielsweise kam es an einigen Verbindungsstellen zu Strangulationen des Saftflusses, und in den Bündelstützen stehen die Pflanzen so dicht, dass es zu einem sehr ausgeprägten Konkurrenzkampf um die knappe Ressource Licht kommt: Einige wenige Pflanzen setzen sich durch und wachsen stark, viele andere bleiben in der Entwicklung zurück oder sterben sogar ab. Diese in allen Pflanzenbeständen völlig normale Entwicklung kann in einer baubotanischen Konstruktion problematisch werden, weil absterbende Pflanzenteile einen potenziellen Fäulnisherd darstellen.
Mit einem etwas anderen Konstruktionssystem und verbesserten Details versuchte man bei der 2007 fertig gestellten Vogelbeobachtungsstation im Bayrischen Wald diese kritischen Punkte zu verbessern. Auch bei diesem Bauwerk bilden lebende Weidensteckhölzer das Haupttragwerk, hier wurden jedoch immer nur vier Pflanzen zu einem Bündel zusammengefasst. Während diese Bündel im unteren Bereich zu X-förmigen Stützen verbunden sind, bilden sie im oberen Bereich eine Art Gitterwand. So kommt es innerhalb der Stützen weniger schnell zu Strangulationen, und jeder einzelnen Pflanze steht mehr Raum und Licht zur Verfügung, wobei gleichzeitig durch die gitterartige Wandbildung der Eindruck eines geschlossenen Raumes entsteht. Mit einer 2.70 m über dem Erdboden eingehängten elliptischen Plattform aus Holz und Stahl und einem kelchförmigen Membrandach, das zwischen einem ebenfalls einwachsenden Ring in 6 m Höhe und der Ebene verspannt ist, ist die Vogelbeobachtungsstation das erste und bisher einzige baubotanische Bauwerk mit zwei «Stockwerken». Auch der Aufgang zur begehbaren Ebene ist baubotanisch gelöst: Der Besucher erklettert sich den Raum mit Hilfe von Leitersprossen, die in das Baumtragwerk eingebunden sind. Bis zu zehn Personen finden dann auf der Ebene, zwischen Membrandach und pflanzlicher Gitterwand, Platz. 

Konstruktive Forschung in der Baubotanik

Verglichen mit konventionellen Konstruktionen sind Grösse und Nutzlast der Vogelbeobachtungsstation marginal, für die Baubotanik stellen sie jedoch bereits eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Zum einen ist die mögliche Grösse eines Bauwerks zunächst durch die Grösse der Pflanzen limitiert, und zum anderen fordert das empfindliche Pflanzenmaterial an allen Detailpunkten eine besondere Vorsicht ein, denn das lebende Gewebe sollte möglichst nicht beschädigt werden. Technische Elemente wie die begehbaren Plattformen können nur mit den Pflanzen verbunden werden, indem sie mit möglichst geringem Druck an diese gepresst werden – eine Verbindung, die natürlich zunächst nicht sehr belastbar ist. Gleichzeitig ist die Anzahl derartiger Detailpunkte begrenzt, denn die Zahl der Stützen kann nicht beliebig gesteigert werden, weil jeder Pflanze ein adäquater Kronenraum für die Fotosynthese zugestanden werden muss. Erst durch das einsetzende Dickenwachstum und das damit einhergehende Einwachsen der technischen Elemente kann die Tragfähigkeit im Verlauf der Zeit zunehmen. 
Leistungsfähige Tragstrukturen können also nur bedingt konstruiert werden, die Tragfähigkeit entsteht zu grossen Teilen durch Wachstumsprozesse nach dem Konstruieren. Möchte man jedoch Wachstumsprozesse tatsächlich konstruktiv nutzen, müssen sie auch in statische Berechnungen einbezogen werden. Baubotanische Tragstrukturen stehen als lebende Bäume in ständigem Austausch mit ihrer Umwelt und sind mit dem Pflanzenwachstum an schwer vorhersagbare Umweltfaktoren gekoppelt. Das Ziel konstruktiver Forschung in der Baubotanik ist es daher, einfache Regeln zu erarbeiten, durch die die potenzielle Zunahme der Tragfähigkeit bereits in Entwurf und Planung integriert wird, beispielsweise indem Nutzungsphasen mit sukzessiv steigender Belastung entwickelt werden. 
Auch wird zurzeit an einer möglichst einfachen Methode gearbeitet, die Tragfähigkeit einer wachsenden baubotanischen Struktur anhand visuell erkennbarer oder einfach zu messender Schlüsselparameter erfassen und quantifizieren zu können. Neben der Durchmesserzunahme der einzelnen Stämme ist es hier insbesondere der Grad der Überwallung technischer Bauteile, der die Tragfähigkeit wesentlich bestimmt und zurzeit in breit angelegten Versuchsreihen an unterschiedlichen Knotenpunkten untersucht wird. Neben diesen unmittelbar zugänglichen Punkten ist auch die Entwicklung des «Wurzelfundaments» von besonderer Bedeutung für die Tragstruktur. Sie entzieht sich jedoch der unmittelbaren Beobachtung und kann daher kaum visuell überprüft werden. 

Botanische Forschung in der Baubotanik

Entscheidend für das Entwerfen baubotanischer Bauten sind jedoch nicht nur Wachstumsprozesse nach dem Konstruieren. Ein baubotanischer Entwurf ist immer auch sehr stark durch die geometrischen sowie die mechanischen Eigenschaften der zum Konstruieren verwendeten Pflanzen geprägt, die ebenfalls durch einen mitunter Jahre dauernden Wachstumsprozess entstehen. Für baubotanische Konstruktionen sind hauptsächlich solche Pflanzen geeignet, die möglichst wenig verzweigt, lang, schlank und gerade gewachsen sind. Zudem sind hauptsächlich junge Triebe geeignet, da diese u. a. am besten miteinander verwachsen und sich am einfachsten formen lassen. Bei Weiden ist derartiges Pflanzenmaterial durchaus verfügbar, mit zunehmender Länge werden die Stämme aber auch immer dicker und steifer. Pflanzen, wie sie beispielsweise für die Vogelbeobachtungsstation verwendet wurden, sind bereits so kräftig, dass sie sich kaum biegen lassen. Bei anderen Baumarten ist derartiges Material kaum verfügbar und muss erst in Baumschulen wachsen. Gleichwohl bieten andere Baumarten wie Platanen viel grössere konstruktive und gestalterische Möglichkeiten. Weiden wachsen zwar sehr schnell, benötigen aber besonders viel Licht und Wasser. Sie sind deshalb der freien Landschaft vorbehalten und eignen sich nicht für urbane Räume. Doch gerade in Städten, in denen die ästhetischen wie ökologischen Qualitäten von Bäumen besonders gefragt sind, könnten baubotanische Strukturen ihre Qualitäten voll zur Geltung bringen. Bei den botanischen Forschungen in der Baubotanik soll ein möglichst breites Artenspektrum erschlossen werden. Auch das Zusammenfügen des lebenden Konstruktionsmaterials muss weiter untersucht werden. Dabei nimmt die Erforschung von Verwachsungen eine Schlüsselstellung ein. Wenn Verwachsungspartner fest und dauerhaft beispielsweise mittels sehr dünner Drahtseile aufeinandergedrückt werden, ist es möglich, Pflanzen gezielt so miteinander zu verbinden, dass innerhalb weniger Monate eine Art «Baumverschweissung» entsteht, die nicht nur mechanisch belastbar ist, sondern auch den Austausch von Wasser und Nährstoffen zwischen ursprünglich getrennten Pflanzen ermöglicht. So konnte in ersten Versuchen gezeigt werden, dass sich aus jungen und eher kleinen Pflanzen grosse und mehr oder weniger frei formbare baubotanische Strukturen bilden lassen, indem mehrere Pflanzen mitsamt ihren Wurzeln im Raum angeordnet und untereinander verbunden werden. Nachdem dann durch Verwachsung eine physiologische Einheit entstanden ist und sich im Boden ein leistungsfähiges Wurzelsystem etabliert hat, können die im Luftraum angeordneten Wurzeln sukzessive entfernt werden, und die Struktur «ernährt» sich ohne die anfangs notwendige Bewässerungstechnik selbstständig vom Boden aus. Im Sommer 2009 wurden diese Ansätze erstmals an einem 8 m hohen prototypischen Turm nahe dem bestehenden Steg in die Praxis umgesetzt. 

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