Und was, wenn wir Er­de wie Be­ton gies­sen wür­den?

In dieser neuen Serie untersucht Alia Bengana, Architektin und Dozentin für nachhaltiges Bauen, Betonalternativen und Ökobeton. Der erste Teil widmet sich dem Beton aus Flüssiglehm – einer zukunftsweisenden Technik, die die Aufwertung von Aushubmaterial verspricht.

Publikationsdatum
19-04-2022
Alia Bengana
Architektin, Dozentin am Labor ALICE der ETH Lausanne und an der Hochschule für Technik und Architektur Freiburg

Jedes Jahr fallen in den Kantonen Waadt und Genf 4.8 Mio. m3 Aushubmaterial an (Abfälle des Typs A). Zum Vergleich: Schätzungen zufolge wird sich bis 2030 allein auf den riesigen Baustellen im Ballungsraum von Paris Aushubmaterial von bis zu 400 Mio. m3 anhäufen.1 Das Gesetz versteht diese Erde als Abfall, weswegen sie in Mülldeponien landet. Doch der Lagerraum im Genferseegebiet wird allmählich knapp: Der Kanton Genf musste bereits 45 % der Erde exportieren (davon 25 % nach Frankreich);2 im Kanton Waadt werden die Lagerräume bis 2023 voll sein.3 Läge es da nicht nahe, diese Abfälle als Baumaterial zu verwenden? Denn genau das macht doch die Menschheit seit 11 000 Jahren: Bauen mit dem, was der Boden hergibt.

Einige Pionierinnen und Pioniere machen es vor, beispielsweise der Österreicher Martin Rauch mit seinen Stampflehmbauten und industriell vorgefertigten Mauern. Oder das Unternehmen Cycle Terre aus der Nähe von Paris, das gerade seine erste Fabrik zur Herstellung von Baumaterial aus Erde einweihen konnte. Und in Allaman VD vertreibt das Unternehmen Terrabloc komprimierte Lehmsteine. Auch wenn das Interesse an Erde aufgrund ihrer sehr geringen CO2-Belastung seit zehn Jahren kontinuierlich gestiegen ist, bleibt ihre Verwendung im Bausektor marginal. Die Gründe dafür sind vielgestaltig: Vorherrschaft des Betons, fehlende technische Referenzen, fehlende kompetente Unternehmen und Ausbildung der Architekten und Ingenieurinnen, teure Verbauung oder ganz einfach Misstrauen. Das könnte die Technik des Flüssiglehms ändern, da sie erlaubt, die Werkzeuge und das Wissen der Betonindustrie zu nutzen, um das im Überfluss vorhandene Material aufzuwerten – eine vielversprechende Idee also.

Prinzipien und Paradoxe

Bei Flüssiglehm, auch Erdbeton oder Lehmbeton genannt, werden ähnliche Materialien wie beim Zementbeton verwendet, allerdings in anderen Mengenverhältnissen. Zur Herstellung von Zementbeton braucht man 30 % Gesteinskörnung, 34 % Sand, 12–15 % Zement und 10 % Wasser sowie industrielle Zusatzstoffe wie Fliessmittel und Abbindebeschleuniger. Auch der Erdbeton besteht aus den in der Erde natürlich vorkommenden Materialien Sand und Kies, aber auch aus Lehm und Wasser. Für das Bindemittel verwendet man also nicht Zement, der hydraulisch abbindet, sondern mikroskopisch kleine Tonplättchen, die sich durch die Kapillarbrücken (des Wassers)4 miteinander verbinden.

Der Stampflehm, ebenfalls eine Art Erdbeton, der mithilfe von sehr wenig Wasser in feuchtem Zustand verbaut wird, ist sehr aufwendig, da die Schichten in der Schalung alle 12 cm verdichtet werden müssen. In einer Stampflehmmauer verbinden sich die Tonplättchen und das Wasser mit der Gesteinskörnung. Überschüssiges Wasser wie Rieselwasser oder kapillar aufsteigende Feuchtigkeit würde die Tonplättchen trennen, wodurch das Gefüge an Bindung und somit an Stabilität verlieren würde.

Bei Lehmziegeln (beispielsweise Adobe) – also bei in plastischem (stark feuchtem) Zustand geformter Erde – entsteht die Bindung durch das Trocknen am Boden durch die Sonnenwärme.5 Es ist also ein Unsinn, der Erde zur Verflüssigung grosse Mengen Wasser zuzufügen, denn damit sie zusammenhält und ausgeschalt werden kann, muss das überschüssige Wasser verdunsten können. Doch gerade die Schalung verlangsamt den Trocknungsprozess stark. Damit also die in flüssigem Zustand verbaute Erde ausgeschalt werden kann, fügt man Zement hinzu.

Pioniere des Flüssiglehms

Die ersten Versuche mit «Cast Earth» machte Harris Lowenhaupt im Bundesstaat Nevada zu Anfang der 1990er-Jahre. Er entwickelte einen Lehmbeton, der aus Erde, Wasser und 15 % Gips bestand, ein Material, das sich zur Verfestigung von flüssiger Erde eignet, damit diese ausgeschalt werden kann. Er schloss sich mit einem Erdbauer zusammen und konnte einige Kunden davon überzeugen, statt des dazumal in der Gegend sehr gefragten Stampflehms diese schnellere und kostengünstigere Technik anzuwenden.

In Frankreich trug das Forschungsprojekt Béton dArgile Environnemental (BAE) zwischen 2010 und 2013 dazu bei, das Material Erde und dessen Bindungsmechanismus besser zu verstehen. Das im Rahmen einer Studie vom französischen Umweltministerium mitfinanzierte Projekt6 rief verschiedene Universitäten und Unternehmen7 der ganzen Welt auf den Plan. In der Folge konnte mit dem Maison des Associations im französischen Manom ein Pilotprojekt realisiert werden (Architekturbüro Mil Lieux, 2015). Das Passivhaus gab natürlichen Materialien den Vorzug, mehrere Mauern im Erdgeschoss wurden zudem aus Lehmbeton erstellt. Diese Wände tragen durch ihre Masse zum sommerlichen Wärmeschutz bei, regulieren die Luftfeuchtigkeit, nehmen Gerüche auf und dämpfen den Schall zwischen den verschiedenen vom Raumprogramm geforderten Funktionen – Eigenschaften, die alle Lehmbautechniken aufweisen.

Tragende Mauern aus Flüssiglehm

Die unbewehrten, 35 cm starken, tragenden Mauern des Maison des Associations in Manom wurden vom französischen Ingenieur Martin Pointet entwickelt, der sich auf die Daten aus dem Forschungsprojekt BAE stützte, an dem er ebenfalls beteiligt war. Die vor Ort in einem Fahrmischer hergestellte Mischung besteht aus 40 % Betongranulat, 4 % Zement, 9 % Wasser und 47 % Erde. Die flüssige Erde wird in Betonschalungen gegossen, die Mauern nach fünf Tagen ausgeschalt und anschliessend in der gleichen Art nachbehandelt wie tragende Innenwände aus Zementbeton. Die Mauern werden anschliessend mithilfe von Stahlgewindestangen komprimiert, um die Fundamentplatte mit dem Ringanker am Mauerkopf zu verbinden. Die Mauern tragen Lasten bis zu 3 oder 4 MPa, verglichen mit Stahlbetonmauern weisen sie jedoch die doppelte Wandstärke (30–40 cm) auf. Die in Manom verbaute Erde stammt nicht vom Grundstück selbst, sondern von einem Kalksteinbruch, in dem durch das Waschen des Steins vor dessen Vertrieb grosse Mengen an Schlamm anfallen, sogenannte tonhaltige Kalkstein-Feinanteile.

Es ist natürlich fraglich, weshalb nicht das Aushubmaterial verwendet wurde. Klar ist, dass es genauso viele Arten von Erde gibt wie Böden und dass Bodenanalysen zum Schluss kommen können, dass sich die Erde aufgrund ihres Partikelgefüges oder ihres Lehmanteils für die Mischung nicht eignet. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wird die Zusammensetzung der Erde angepasst, indem Betonkies, lehmhaltigere Erde und oftmals auch mehr Zement zugefügt werden, oder aber es wird nach einer passenderen Erde gesucht.

Flüssiglehm aus der Westschweiz

In Genf und Lausanne betreibt zurzeit das Büro atba zusammen mit Terrabloc, dem Unternehmen Maulini, dem Planungsbüro EDMS und dem Material- und Konstruktionsprüfungslabor LEMS der HEPIA8 anwendungsorientierte Forschung. Dabei werden Tests durchgeführt, um die Rezeptur für Mauern aus Flüssiglehm für den Bau der Genossenschaft Bistoquette in Plan-les-Ouates (GE) sowie für das Wohnbauprojekt Plaines-du-Loup in Lausanne zu finden, das das Büro atba zurzeit prüft.

In Plan-les-Ouates förderten die Kernbohrungen Erfreuliches zutage: Die Erde des Grundstücks besteht aus einer stark mit Kies versetzten Lehm- und Tonmoräne. Durch die im Labor LEMS durchgeführten Tests konnte die Formel bestehend aus 42 % Erde des Baugrunds, 42 % Betonkies, 5 % Zement und 10 % Wasser eruiert werden. Für Stéphan Fuchs, den Gründer von atba, war das sehr erfreulich, da für ihn die Technik nur dann Sinn ergibt, wenn es möglich ist, dabei das Aushubmaterial zu verwenden. Bei der Genossenschaft Bistoquette wird der Flüssiglehm für die selbsttragenden, nicht armierten, 25 cm starken tragenden Innenwände zwischen den Wohnungen verwendet. Beim Projekt Plaines-du-Loup hingegen kommt die Technik nur im Erdgeschoss bei nicht tragenden Wänden zum Einsatz. Werden wir also bald auf Zement verzichten können, vor allem bei nicht tragenden Wänden?

Forschungen und aktuelle Entwicklungen

Unter der Leitung von Professor Guillaume Habert untersucht der Lehrstuhl für nachhaltiges Bauen der ETH Zürich die Zugabe von natürlichen Zusatzstoffen, wie mit Natriumlauge versetzte Tannine, zur Verflüssigung der Erde und das anschliessende Stoppen des Vorgangs mittels geringer Wassermengen.9 Vor zwei Jahren gründete Gnanli Landrou, einer der Doktoranden, gemeinsam mit Thibault Demoulin, einem Werkstoffingenieur der ETH Zürich, das Start-up Oxara mit dem Ziel, einen Flüssiglehm ohne Zement herzustellen. Die Rezeptur mit dem Namen Cleancrete kombiniert Entflockungsmittel mit Flockungsmitteln10 auf Mineralsalzbasis.

Oxara schloss sich mit dem Zürcher Transportbetonproduzenten KIBAG zusammen, der für die Tests Material und Infrastruktur zur Verfügung stellte. Gemeinsam mit dem Unternehmen Marti aus Genf stellten sie einen Prototyp her und arbeiten mit dem Zürcher Architekturbüro Duplex an einem Wohnprojekt der Stiftung Burkwil in Meilen ZH. Die Tragstruktur der zwölf Wohnungen besteht aus Holz, ein Teil der Aussenmauern und einige Innenmauern werden aus dem selbsttragenden Cleancrete gefertigt.

Zusammen mit der Technischen Universität München begleitet Oxara zudem ein Forschungsprojekt zur Fertigung von Geschossdecken aus Flüssiglehm und Holz. Den Unterlagsboden aus Lehm auf eine Betondecke zu giessen oder sogar direkt auf das Erdreich, so wie es im Untergeschoss einer Kirche in Wollishofen ZH gemacht wurde, ist eine gute Idee, da dieses Verfahren es erlaubt, das Problem der Schalung zu umgehen. Eine andere vielversprechende Technik, an der Oxara gegenwärtig arbeitet, ist die Vorfertigung von Mauern aus Cleancrete. Das Unternehmen kann dabei aus den Erfahrungen von Martin Pointet schöpfen, der die Mauern für die derzeit im Bau befindliche Mediathek Jean Quarré in Paris in horizontale Bewehrungskörbe aus Holz giesst (Projekt von Philippe Madec, in Zusammenarbeit mit Nicolas Miessner).

Eine Universallösung?

Kann also die Verwendung von Flüssiglehm in naher Zukunft zur Aufwertung von Aushubmaterial beitragen? Sicherlich, doch es wäre ein Trugschluss, zu glauben, dass diese Technik den traditionellen Beton ablösen wird. Die Technik erlaubt, die Ressourcen eines Baugrunds aufzuwerten und ein zurzeit noch wenig verwendetes Material mit niedrigem Kohlenstoffgehalt zu nutzen, da die Verbauung einfacher und damit auch billiger ist als die von Stampfbeton11 und das Material dennoch sehr viele Vorzüge aufweist. Die Möglichkeit der Vorfertigung und der Verwendung als Füllmaterial ermöglicht hybride Lösungen nach dem Motto: «Das richtige Material am richtigen Ort».

Bei dieser innovativen Technik ist zwar der Zement momentan noch das Bindemittel der Wahl, jedoch denken alle Fachleute, mit denen wir sprachen, dass es sich dabei nur um einen unumgänglichen Zwischenschritt handelt. Solange aber weder die Kantone noch der Bund mittels Richtlinien das Problem der riesigen Überschüsse von Aushubmaterial angehen, wird die Technik des Flüssiglehms eine Randerscheinung bleiben. Eine Möglichkeit bestünde darin, im Vorfeld der Wettbewerbe eine obligatorische Analyse der Erde des Grundstückes einzuführen, um herauszufinden, welche Technik sich eignet, und diese anschliessend im Wettbewerbsprogramm vorzuschreiben – Flüssiglehm für Decken oder Mauern, gepresste Lehmziegel, Putze, Füllmaterial für Decken – und den teuren Stampflehm nur noch für Sichtmauerwerk zu verwenden.

Anmerkungen

 

1 cycle-terre.eu[BB9] 

 

2 Abteilung für Geologie, Böden und Abfälle (GESDEC) des Kantons Genf, Quelle 2018

 

3 Kanton Waadt, Generaldirektion für Umwelt (DGE): Carrières, gravières et décharges – Compte rendu de la consommation, de la production et des réserves. 2019, 2. Ausgabe, April 2021 (gratis Download auf der Website von DGE-VD)

 

4 amaco.org/ce-qui-fait-tenir-un-mur-en-terre

 

5 Die Bindung einer Erde, die aus unterschiedlich grossen Körnungen und Lehm besteht, hängt von der Wassermenge ab. Je nach zugegebener Menge Wasser können folgende Materialzustände unterschieden werden: trocken, feucht, plastisch, weich und fliessfähig.

 

6 Béton dArgile Environnemental Résultats dun programme de recherche tourné vers lapplication, amàco und CRAterre-AE&CC-ENSAG, 2013. Erhältlich auf amaco.org

 

7 Baugenossenschaft Caracol, Steinbruch von Boulonnis, CTMNC, AKterre, ENTPE, INSA Lyon, CRAterre und amàco-Les Grands Ateliers

 

8 Das Material- und Konstruktionsprüfungslabor (LEMS) ist eine Abteilung des Instituts inPACT der Haute école du paysage, d’ingénierie et d’architecture (HEPIA) in Genf. Der Hauptschwerpunkt des LEMS liegt in der angewandten Forschung und in der Entwicklung von Baumaterialien.

 

9 Yi Du, Coralie Brumaud, Frank Winnefeld, Yin-Hung Lai, Guillaume Habert:  «Mechanisms for efficient clay dispersing effect with tannins and sodium hydroxide, Colloids and Surfaces A» aus: Physicochemical and Engineering Aspects, Band 630, 2021

 

10 Durch die Zugabe von Entflockungsmitteln wird das Erdgemisch flüssiger, ohne dass viel Wasser zugegeben werden muss. Die Zugabe von Flockungsmitteln stoppt diesen Vorgang und ermöglicht das Trocknen und Ausschalen.

 

11 Den Preis von Beton aus Flüssiglehm zu beziffern, ist immer noch sehr schwierig. Die befragten Fachleute vermuten aber, dass er 20–30 % höher liegt als der des klassischen Zementbetons. In Manom betrugen die Kosten für die Mauern aus Flüssiglehm etwa 300 €/m². Zum Vergleich: Armierte Zementbetonmauern kosten im Durchschnitt 200 €/m². Die Kosten für die Verbauung von Stampflehm beträgt in der Schweiz etwa 1000–1200 CHF/m².

 

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