«Wir soll­ten das Wett­be­werbs­we­sen stär­ken und wei­ter­ent­wi­ckeln»

Stefan Roggo und Christoph Widmer Architekten über gesteigerte Anforderungen, ökonomischer Pragmatismus und offene, zweistufige Wettbewerbe.

Publikationsdatum
03-08-2021

espazium: Wie steht es in der Deutschschweiz um den Architekturwettbewerb?

Stefan Roggo und Christoph Widmer: Generell erachten wir die Situation in der Schweiz als aussergewöhnlich und komfortabel in dem Sinn, dass vergleichsweise viele Verfahren in hoher Regelmässigkeit ausgeschrieben werden. Gerade deshalb schätzen wir den aktuellen Diskurs diesbezüglich sehr. Insbesondere offene Wettbewerbe stellen für junge, engagierte Büros ohne entsprechende Referenzen für eine Bewerbung oder soziale Vernetzung für Einladungsverfahren eine einzigartige Möglichkeit dar. Gleichwohl können sich auch bereits etablierte Büros entwickeln und neue Bauaufgaben wahrnehmen.

Aus unserer Sicht kann das eigentliche Potenzial des Wettbewerbs – nämlich aus einer angemessenen Vielfalt qualitativ hochwertiger Projekte das Akkurateste auszuwählen – unter folgenden Aspekten am stärksten korrigiert werden: Wichtig empfinden wir die Wahl des richtigen Verfahrens; uns scheint diese Frage nicht immer genügend geklärt zu werden. Dabei betrachten wir weniger die Vielfalt der Verfahren oder ungleiche Partizipationschancen kritisch. Vielmehr sollte das gewählte Verfahren den Wissensstand der Auftraggeber und die Komplexität der Aufgabenstellung widerspiegeln, um mit vertretbarem Aufwand einigermassen zielgerichtet auf ein zufriedenstellendes Resultat hinarbeiten zu können.

Auch nehmen wir eine Steigerung der Anforderungen an die Projekte und abgaberelevanten Unterlagen wahr. Der erhöhte Arbeitsaufwand erschwert die Bewältigung und kann bei regelmässigen Teilnahmen ein echtes unternehmerisches Risiko darstellen.

Ist man beim Wettbewerb im Vorteil, wenn man experimentell vorgeht?

Diese Frage lässt sich kaum eindeutig beantworten. In seiner Konstitution kann insbesondere der offene Wettbewerb als Experimentierfeld (und Mittel zur Reflexion architektonischer Themen) begriffen werden. Erfahrungsgemäss ist das Korsett, zumindest bei Projektwettbewerben, ziemlich eng genäht: Aufgabenstellung, Raumprogramm und alle weiteren Anforderungen werden meistens in den Vorbereitungen gründlich aufgearbeitet und im Wettbewerbsprogramm grosszügig wiedergegeben. Dies liesse sich im ersten Moment als Einschränkung auffassen, kann jedoch im Gegenteil auch ein Umdenken mit sich bringen und Potenziale freisetzen.

Allein die regelmässige Teilnahme an Wettbewerben widerspiegelt eine hohe Risikobereitschaft. Um die Experimentierfreude der Architekt/-innen stärker herauszufordern, sollten als Grundvoraussetzung dieselben Eigenschaften aufseiten der Bauherrschaft vorhanden sein. Im Weiteren müssten der Zeitpunkt der Einbindung der Architekt/-innen und die Offenheit der Aufgabenstellung hinterfragt werden. Auch die häufig beobachtete höhere Gewichtung von funktionalen Aspekten zulasten der architektonischen Gestalt ist in dieser Hinsicht kaum förderlich.

Wir versuchen bei jeder Abgabe ein eigenständiges Projekt mit einer gewissen Radikalität und einem spezifischen Charakter vorzuschlagen. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist jedoch eher, ob eine solche Leistung vonseiten Jury/Bauherrschaft überhaupt gefordert, erkannt und honoriert wird. Öfters steht (verständlicherweise!) der ökonomische Pragmatismus im Vordergrund und wird (leider!) an den Wettbewerbsresultaten ablesbar.

Serie «u40 und der Wettbewerb»

Weitere Beiträge aus unserer Serie finden Sie hier.

Müsste man die Wettbewerbsverfahren weiter entwickeln?

Auf jeden Fall sollten wir das Wettbewerbswesen pflegen, stärken und weiterentwickeln! Die Verwurzelung des Wettbewerbs in unserer Baukultur und die Eigenart der diesbezüglichen Situation in der Schweiz verlangen nach der entsprechenden Aufmerksamkeit.

Eine Schwierigkeit sehen wir darin, dass der offene Wettbewerb durch die hohen Teilnehmerzahlen für beide Parteien deutlich an Attraktivität verliert: Die Organisation ist mit einem enormen Aufwand verbunden, das Teilnehmerfeld wird mit hoher Konkurrenz und entsprechend tiefen Gewinnchancen konfrontiert. Die explizite Förderung des offenen Wettbewerbs ist die scheinbar naheliegende Lösung, um beide Aspekte zu entschärfen. Wir sehen, wie bereits von Thomas De Geeter in dieser Reihe angesprochen, den offenen, zweistufigen Wettbewerb als wirklich interessante Alternative, die deutlich zu selten zur Anwendung kommt. Darüber hinaus können wir uns auch Verfahren vorstellen, die beispielsweise für kleine, einfache Bauaufgaben die Nachwuchskategorie deutlich bevorzugt, also zum Regelfall erhebt und bei denen nur eine kleine Anzahl gestandener Büros im Sinn der Bauherrschaft als «sicherer Wert» beigezogen werden.

Stefan Roggo und Christoph Widmer Architekten ETH SIA wurde 2016 von Christoph Widmer (*1981) und Stefan Roggo (*1983) in Zürich gegründet.

Auswahl Wettbewerbsteilnahmen

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