«Wett­be­werb be­deu­tet ex­pe­ri­men­tie­ren»

Wie sieht die Wettbewerbssituation in der Schweiz aus? Kommen junge Architekturbüros genügend zum Zug? Wie liessen sich die Verfahren verbessern, und welchen Beitrag leisten sie zur Baukultur? espazium.ch hat junge Büros dazu befragt. In dieser Folge: cappelletti sestito architetti.

Publikationsdatum
15-07-2021

espazium.ch: Wie ist die Situation bezüglich Architekturwettbewerben im Tessin?

Géraldine Buffin Cappelletti, Fabio Sestito und Efrem Cappelletti: Im Tessin hat die Zahl der Projektwettbewerbe in den letzten fünf Jahren deutlich zugenommen. Die Tendenz ist zweifellos positiv. Einerseits ist das dem Engagement der Berufsverbände für die Förderung der Wettbewerbskultur zu verdanken, andererseits, im Bereich der Weiterbildung, auch den Fachleuten, die auf die Koordination solcher Ausschreibungsverfahren spezialisiert sind. Ein neues Element der Kontinuität ist ausserdem die neue Vorlage für Ausschreibungen, der «bando base» – ein Instrument, das seit Ende 2020 zur Verfügung steht und sowohl die Ausschreibung von Wettbewerben als auch die Teilnahme daran vereinheitlicht und erleichtert.

Trotz der Entwicklung in diesem Bereich hinken wir im Tessin der übrigen Schweiz immer noch nach. Diese – für unseren Kanton typische – Verzögerung ist vielleicht systemisch, die Bauherrn sollten im Bereich Architekturwettbewerbe wieder aktiver werden. Leider wird etwa der Bau einer Schule manchmal nicht als für die Ausbildung der nächsten Generationen massgebliches Vorhaben gesehen, sondern eher als eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen.

Am deutlichsten tzeigt sich diese Einstellung unserer Meinung nach bei Ausschreibungsverfahren auf Gemeindeebene. Sie sind am anfälligsten dafür, denn einerseits wird der Rhythmus von politisch-wahltaktischen Agenden vorgegeben, und andererseits fehlen persönliche konkrete Erfahrungen in der Umsetzung eines öffentlichen Baus. In solchen Situationen kann eine Unterstützung der Bauherrschaft durch eine Fachperson hilfreich sein. Diese Rolle ist neu im Tessin; bei der Begleitung der Umsetzung von öffentlichen Bauten ist sie besonders wichtig.

Geben die Wettbewerbe Ihrer Meinung nach jungen Architekten genügend Raum?

Die Zahl offener Verfahren ist in der Schweiz recht hoch, das gibt jungen Architekten die Möglichkeit, sich auf Augenhöhe mit strukturierteren und erfahreneren Büros zu messen. Für ein neues Studio bedeuten ein erster Preis und die (nicht ganz selbstverständlich) damit einhergehende Umsetzung oft die Aufnahme der kommerziellen Geschäftstätigkeit. Unser Planungsbüro ist ein konkretes Beispiel für das Funktionieren eines ebenso meritokratischen wie demokratischen Wettbewerbsverfahrens.

Zweifellos könnte bei den Auswahlverfahren manches noch besser laufen. Zwar enthalten sie oft «jugendfreundliche» Modalitäten, gleichzeitig werden aber Referenzen gefordert, die für den Gegenstand der Ausschreibung übertrieben sind. Das ist auch für neu gegründete Architekturbüros ein Problem.

Ein Gebäude irgendwelcher Art zu entwerfen, ohne zwangsläufig bereits über direkte Erfahrungen in diesem Bereich zu verfügen, gehört zu den Kompetenzen aller Architekten. Ein Beispiel ist etwa das nationale Kunst- und Kulturzentrum Georges Pompidou in Paris. Im Juli 1971 verlieh eine internationale Jury unter dem Vorsitz von Jean Prouvé den ersten Preis an das Projekt der Architekten Renzo Piano, Gianfranco Franchini und Richard Rogers, aus einer Auswahl von 681 eingereichten Projekten. Renzo Piano war damals 34 Jahre alt, Rogers 38.

Wir möchten auch auf die grosse Verantwortung verweisen, die die Koordination eines solchen Wettbewerbs bedeutet: Die zuständige Person sollte nicht nur Wettbewerbserfahrung haben und mit den Abläufen vertraut sein, sondern auch über die nötige Entschlossenheit, Sensibilität und Kompetenz verfügen, um sich mit dem Bauherrn über das geeignete Auswahlverfahren zu verständigen. Die Ausbildung solcher unabhängiger Fachpersonen ist der Schlüssel für die Integration nicht nur der Ideen junger Architektinnen und Architekten, sondern auch jener von Büros ohne realisierte Referenzen.

Wie treffen Sie die Entscheidung, an welchen Wettbewerben Sie teilnehmen? Haben Sie auch schon an ausserkantonalen oder internationalen Wettbewerben teilgenommen? 

Unsere Prioritäten bei der Auswahl sind das Thema, der Ort und die Heterogenität der Jury. Wir befassen uns zwar mit unterschiedlichen Themenbereichen, der Schulbau und seine programmatische Entwicklung liegen uns jedoch besonders am Herzen. Da sich die Didaktik ständig und rasch weiterentwickelt, braucht es innovative und flexible Lösungen – das versuchen wir bei jedem Projekt einzubeziehen.

Wir haben an einem Wettbewerb in der Romandie teilgenommen, der sich hinsichtlich der Komplexität und des Umfangs der Ausschreibung stark von der Tessiner Realität unterschied. Das ausgeprägt urbane Thema war für uns eine Gelegenheit, uns mit einem anderen Massstab und Kontext auseinanderzusetzen.

Genauso entscheidend für eine Teilnahme ist der Standort. Der Ort und seine Besonderheiten wirken oft als Generator für das ganze Projekt, das eine Antwort auf eine bestimmte urbanistische Situation ist. Im Tessin haben wir es oft mit zerstückelten Gebieten zu tun. Mit unserem Projekt versuchen wir immer, das fehlende Element zu liefern. Ein weiterer intellektueller Anreiz, an einem Wettbewerb teilzunehmen, ist es für uns, wenn die Jury aus heterogenen Einzelpersonen mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten zusammengesetzt ist.

Regen Wettbewerbe Ihrer Meinung nach zum Experimentieren an?

Wettbewerb bedeutet experimentieren. Die Erarbeitung eines Vorschlags, der den Anforderungen des Bauherrn entspricht, verschlingt so viel Energie und Ressourcen, dass man die Teilnahme an einem Wettbewerb unbedingt als Gelegenheit für Forschung und Entwicklung nutzen muss. Die eigenen Vorstellungen, Überzeugungen und Planungsprinzipien finden freien Ausdruck und setzen sich dabei mit den Ansätzen und Visionen anderer auseinander.

Als besonders motivierend empfinden wir dabei den Tausch der Rollen. In der Ausschreibung werden die Anforderungen und Bedürfnisse des Bauherrn auf den Punkt gebracht und müssen von den Architekten entschlüsselt und interpretiert werden. Daraus ergibt sich ein Rollenspiel, in dem die Architekten in die Rolle von Bauherr, Planer und Nutzer schlüpfen. Auf diese Weise erreicht die Planungsarbeit eine höhere Stufe, und kann es gelingen, formale oder kompositorische Aspekte zugunsten konzeptioneller Klarheit hinter sich zu lassen.

Sollten die Wettbewerbsverfahren Ihrer Meinung nach verändert oder angepasst werden? Wenn ja, wie?

Die Anpassung des Wettbewerbssystems an das neue Beschaffungsgesetz hat das Verfahren für die ausschreibende Behörde formal vereinfacht. Es bringt aber auch neue Anforderungen mit sich, die nicht immer zu einem Ideenwettbewerb passen. Diese Wechselbeziehung zwischen Rahmenbedingungen und Idee sollte unserer Meinung nach reflektiert werden..

Ein weiterer wichtiger Punkt wäre unseres Erachtens, den am Wettbewerb teilnehmenden Architekturbüros mehr Freiheiten zu lassen. Möglich ist dies nur, wenn die ausschreibende Behörde schon in den ersten Phasen, zum Zeitpunkt der Erarbeitung des Wettbewerbverfahrens und der Durchführung der Machbarkeitsstudie, über eine klare, weitsichtige Vision verfügt. Mit diesen Instrumenten werden die Fixpunkte des Wettbewerbs und die Grenzen festgelegt, innerhalb derer man sich bewegen kann. Zu eng gefasste Ausschreibungen erzeugen untereinander ähnliche Lösungen, zu viel Interpretationsspielraum Projekte, die nicht verglichen werden können.

Eine nähere Betrachtung verdient auch die Art des Verfahrens. Der zweistufige offene Wettbewerb ist im Spektrum der Möglichkeiten unserer Meinung nach die interessanteste Form: Auf diese Weise bleibt der Umfang des in der ersten Phase einzureichenden Materials überschaubar. Die für die zweite Phase ausgewählten Planerinnen und Planer haben die Gelegenheit, ihr Projekt auf der Grundlage der Hinweise der Jury – und bezahlt – weiterzuentwickeln. Verbesserungsfähig wären die Art und Menge des geforderten Materials in der ersten Phase, in der man unserer Meinung nach auf einer eher urbanistischen Ebene bleiben sollte.

Das 1:500-Modell ist für uns in den meisten Fällen von grundlegender Bedeutung, da es das Projekt zusammenfasst und auch für Nichtfachleute leicht les- und vergleichbar macht. Zusammen mit dem «architektonischen» Material sollten aber auch ein oder mehrere Dokumente eingereicht werden müssen, in denen, unabhängig von der gewählten Darstellungstechnik, das Konzept und die Hauptmerkmale des Projekts vorgestellt werden.

Schliesslich möchten wir anmerken, dass die Resultate eines Wettbewerbs oft nicht in würdiger Weise veröffentlicht werden. Neben der Online-Publikation der Resultate scheint uns auch eine physische Veröffentlichung (in Buchform) aller eingereichten Vorschläge angebracht. Das wäre nicht nur ein angemessener Abschluss für das ganze Verfahren, sondern zweifellos auch ein nützliches Rechercheinstrument.

Das Architekturbüro cappelletti sestito architetti, gegründet 2018 von Géraldine Buffin Cappelletti (*1981), Fabio Sestito (*1980) und Efrem Cappelletti (*1978), hat seinen Sitz in Lugano-Viganello.

Bisher hat das Architekturbüro an neun Wettbewerben teilgenommen und wurde in sieben davon mit einem Preis ausgezeichnet:

Dieser Beitrag ist im Original auf espazium.ch/it erschienen. Übersetzung aus dem Italienischen: Barbara Sauser

Serie «u40 und der Wettbewerb»


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