«Es reicht nicht, dass man uns hört – man muss uns zu­hö­ren»

Was wäre, wenn… der Schweizer Pavillon von Lisbeth Sachs entworfen worden wäre?

Die Kuratorinnen des Schweizer Pavillons an der Architekturbiennale Venedig haben einem längst abgerissenen Bau neues Leben eingehaucht. Fragmente der ephemeren Kunsthalle, die Lisbeth Sachs für die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa) 1958 entworfen hatte, wurden auf und in den Räumen des Pavillons von Bruno Giacometti nachgebaut. Ein Gespräch mit Elena Chiavi, Kathrin Füglister, Amy Perkins, Myriam Uzor (Annexe) und Axelle Stiefel (embedded artist).

Publikationsdatum
08-05-2025

Warum sind das Leben und Schaffen von Lisbeth Sachs (1914–2002) so wichtig für Sie? 

Kathrin Füglister: Als eine der ersten Architektinnen der Schweiz, die ein eigenes Büro gründete, war Lisbeth Sachs eine Pionierin. Ihr Zugang zur Architektur war sehr respektvoll und inklusiv gegenüber allen verfügbaren Ressourcen, von der Arbeitskraft bis zur Natur im Allgemeinen: Sie verstand sich als Brückenbauerin zwischen den Umweltbedingungen und den verschiedenen beteiligten Menschen, nicht als Spezialistin. 

An der Architekturbiennale Venedig überlagern Sie den Schweizer Pavillon von Bruno Giacometti buchstäblich mit Fragmenten der temporären Kunsthalle, die Lisbeth Sachs für die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit Saffa entworfen hatte. Suchen Sie einen Vergleich oder eine Konfrontation zwischen diesen beiden Ausstellungsbauten der 1950er-Jahre?

Amy Perkins: Weder noch: Wir nennen es Überlagerung oder Überblendung, aber eigentlich ist es eine Übersetzung. Wir bleiben den ursprünglichen Dimensionen des Pavillons von Lisbeth Sachs treu, spiegeln ihn aber, wie einen Abdruck. In den Momenten, in denen sich die beiden Pavillons treffen, entsteht eine neue Art von Raum. Es ist weniger eine Konfrontation als ein spekulativer Dialog, der fragt: Was wäre, wenn... – was wäre, wenn es anders gewesen wäre? Was wäre, wenn der Schweizer Pavillon eine ganz andere architektonische Geste verkörpert hätte?

Elena Chiavi: Um die Saffa-Kunsthalle, die abgerissen wurdezu übersetzen, haben wir uns von den noch erhaltenen Bauwerken von Sachs inspirieren lassen, wie dem Haus am Hallwilersee oder dem Kurtheater in Baden, das kürzlich von Elisabeth und Martin Boesch sorgfältig renoviert wurde.

«Endgültige Form wird von der Architektin am Bau bestimmt»: Was für ein seltsamer Titel für eine Installation! Ist es ein Archivdokument oder ein Manifest?

Kathrin Füglister: Im gta-Archiv, in dem sich das Archiv von Lisbeth Sachs befindet, haben wir diesen Satz als handschriftliche Notiz auf einer Zeichnung im Massstab 1:20 entdeckt – ein sehr ungewöhnliches Detail in der Berufspraxis der 1950er-Jahre. Wir verstehen sie als ein mutiges Bekenntnis zur Autonomie, das die führende Rolle von Sachs sowohl auf der Baustelle als auch bei der konzeptionellen Entwicklung des Projekts bekräftigt.

Myriam Uzor: Als Architektin oder Architekt sucht man normalerweise nach einer endgültigen Form. Wir versuchen, vor Ort zu entscheiden, wir lassen das Projekt teilweise unvollendet und offen, flexibel und anpassungsfähig. Das erfordert einen ständigen Dialog, nicht nur zwischen den beiden Architekturen, sondern auch innerhalb unseres Teams und mit den vielen Akteuren aus verschiedenen Bereichen.

Axelle Stiefel: Das deutsche Wort bestimmen bezieht sich auf die Stimme. Wer bestimmt was – wer entscheidet? Der Ort? Auch er kann eine Stimme haben. Es geht darum, die richtige Stimmung zu erzeugen, wenn alles stimmig ist, richtig klingt. Da gibt es viele Stimmen, ob menschlich oder nicht. Und auch die Stimme der Architektin, Lisbeth Sachs. Oder vielleicht ihr Geist, der immer noch präsent ist.

Dieser kollaborative und offene Prozess ist für Ihren Ansatz zentral. Anstatt Anweisungen aus der Ferne zu geben, arbeiteten Sie gemeinsam vor Ort in Venedig, in direktem Kontakt mit den Bauarbeitern. Warum ist dieses Vorgehen wichtig?

Elena Chiavi: Bei diesem kollektiven Bauprozess ist es uns wichtiger, einen Kontakt mit allen Spezialisten und Arbeitern in Kontakt herzustellen, als ihnen unsere Vision aufzuzwingen. Allerdings arbeiten wir in einem Bereich, der immer noch von Männern dominiert ist, vor Ort waren die meisten unserer Kontaktpersonen männlich. Auch wenn alles glatt gelaufen ist, haben wir uns während des Prozesses bei verschiedenen Gelegenheiten verletzlich gefühlt. Um dieses kollaborative Zusammenwirken vor Ort zu erreichen, reicht es nicht, dass man uns hört – man muss uns auch wirklich zuhören.

Axelle Stiefel: Wenn wir morgens um 7 Uhr das Vaporetto zu den Giardini bestiegen, waren wir uns unserer Sichtbarkeit sehr bewusst: Fast alle Passagiere an Bord sind Männer. Dieses Gefühl des Exponiertseins setzte sich vor Ort fort: Entscheidungen, die wir als Architektinnen oder Künstlerinnen getroffen haben, wurden plötzlich von Leuten zur Debatte gestellt, die sich die Autorität über unser Fachwissen anmassen. Unsere Arbeit verstärkt nicht nur die Stimmen der Frauen, sondern macht auch die systemische Verwundbarkeit ablesbar – und reflektiert sie dann zurück.

Axelle, als «embedded artist» haben Sie die vier Architektinnen der Annexe-Gruppe während dieses Prozesses begleitet und Audio-Aufnahmen gemacht. Wie wichtig ist die Klangdimension in der Installation?

Axelle Stiefel: Die Installation lädt dazu ein, mit den Ohren der Architektinnen zu lauschen und sich der Klanglandschaft bewusst zu werden. Die vier Architektinnen von Annexe wurden mit je einem Aufnahmegerät ausgestattet. Sie haben während eines Aufenthalts auf dem Furkapass sowie bei Spaziergängen und Versammlungen in Lausanne, Zürich, Genf, London und Venedig Feldaufnahmen gemacht, ohne irgendwelche Anweisungen zu erhalten. 

In kontinuierlichen Sitzungen haben wir uns diese Aufnahmen gemeinsam angehört und Gestaltungsprinzipien herausgearbeitet, die später bei der Komposition der Klanginstallation für den Pavillon zur Anwendung kommen sollten. Die Sammlung ist ein Zeugnis dieser Zeit und des gesamten Bauprozesses.

Sie weisen darauf hin, dass kein Pavillon in den Giardini von Venedig von einer Frau entworfen wurde. Ist dies einer der Gründe, die Sie dazu veranlasst haben, diesen Vorschlag zu machen?

Amy Perkins: Wir haben sehr früh erkannt, dass die Giardini im Grunde genommen ein «No-Womens-Land» sind. Das hat uns gereizt, in den Archiven nach einer ebenso starken weiblichen Figur zu suchen wie Bruno Giacometti, der Architekt des Schweizer Pavillons. Inzwischen ändert sich das langsam, aber als ich studiert habe, wurden mir nur selten Beispiele von grossartigen Bauwerken gezeigt, die von Frauen entworfen wurden. 

Wir alle haben Erfahrung im Unterrichten und wissen, dass man bei Studierenden den stärksten Lerneffekt erzielt, wenn man sie den Raum als solchen erleben lässt. Deshalb wollten wir diesen einzigartigen Pavillon unbedingt wieder aufbauen, auch in Form einer Übersetzung.

Myriam Uzor: Referenzen kommen nicht aus dem Nichts. Wir hoffen, dass diese Plattform dazu beitragen kann, Stimmen wieder hörbar zu machen, die mehr Aufmerksamkeit verdienen.

Ist der Wiederaufbau dieses Pavillons eine Möglichkeit, Lisbeth Sachs ihren Platz in der Architekturgeschichte zu geben, eine Art Wiedergutmachung also?

Amy Perkins: Man kann die Geschichte nicht wiedergutmachen oder reparieren. Aber man kann die Bedingungen verändern, die Lisbeth Sachs einst daran hinderten, ihren Platz zu erhalten. Übersetzen ist immer ein Akt, bei dem man sich selbst zu einem bestehenden Werk hinzufügt. 

Myriam Uzor: In unserem Projekt existiert die Kunsthalle von Lisbeth Sachs nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart. Und sie wird zu einer neuen Architektur – keine Rekonstruktion ihres Werks, sondern eine Interpretation. Da Giacomettis Pavillon dort steht, wird der Raum, den man erlebt, natürlich etwas ganz Eigenes, etwas ganz Neues sein. Wir machen keine Ausstellung über Architektur – wir machen Architektur.

Wären andere Themen, andere Prozesse oder sogar andere Arten von öffentlichen Räumen entstanden, wenn Frauen schon früher in der Architektur besser gewürdigt und repräsentiert worden wären?

Kathrin Füglister: Diversität im weiteren Sinne ist der Schlüssel. Es ist nicht nur eine Frage des Geschlechts. In jeder Situation, in jeder Zusammenarbeit und in jedem Bereich ist es die Vielfalt, die es möglich macht, zu einer Lösung oder Bedingungen zu kommen, die für ein breiteres Publikum gut sind. Was das Projekt tut, ist im Jetzt zu handeln. Wir können nicht in der Vergangenheit antworten. 

Axelle Stiefel: Wir haben uns bereits verändert, diese Bewegung hat lange vor uns begonnen. Die Antwort von Annexe besteht darin, Modelle zu diskutieren – durch die Arbeit von Frauen Arbeitsweisen und Berührungspunkte in der Geschichte zu finden, um eine längere Perspektive zu bieten. 

Es ist wichtig zu erkennen, dass man sich in der Gegenwart bereits verändert hat; dann kann man sagen: «Ja, wir werden den Wandel unterstützen, indem wir die Bedingungen fördern, die notwendig sind, um unterschiedliche Stimmen zu unterstützen.» Auf diese Weise tragen wir zum Aufbau einer nachhaltigeren Zukunft bei.

Wie gehen Sie konkret vor?

Elena Chiavi: Wir nehmen uns viel Zeit, um uns auszutauschen, zu diskutieren und zu verstehen, wo wir stehen. Wir versuchen nicht, am effizientesten zu sein oder ein bestimmtes Ergebnis anzustreben. Wir versuchen herauszufinden, wie wir zusammenarbeiten, und hinterfragen die Prozesse, das System, in dem wir uns befinden, und die Art und Weise, wie wir heute bauen. 

Myriam Uzor: Wir können die Vergangenheit nicht ändern, also lautet die richtige Frage: «Wo stehen wir jetzt?» Mit diesem Beitrag für den Schweizer Pavillon machen wir einen experimentellen Vorschlag, der hoffentlich einen weiteren Schritt auslöst, und dann noch einen weiteren. Und hier kommt wieder die Fiktion, als ein sehr produktives Werkzeug der Vorstellungskraft ins Spiel: «Was wäre, wenn…?»

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