Pavillon Schweiz - ein Nachdenkraum
Architekturbiennale Venedig 2025
Das Kollektiv Annexe überlagert in seinem Beitrag für die Biennale zwei Gebäudestrukturen: Die des bestehenden Schweizer Pavillons von Bruno Giacometti – eröffnet 1952 - und die der temporären Kunsthalle der Architektin und Zeitgenossin Lisbeth Sachs aus dem Jahr 1958.
Der Schweizer Pavillon der diesjährigen Biennale sticht heraus – allerdings erst auf den zweiten Blick. Das Kollektiv Annexe, bestehend aus Elena Chiavi, Kathrin Füglister, Amy Perkins, Myriam Uzor und Axelle Stiefel, kuratierte den Beitrag. Mit der Implantation einer neuen in eine bestehende Architektur greifen die Kuratorinnen zu einer bewährten Vermittlungsmethode - man denke an das Bonner Kanzlerbungalow im deutschen Pavillon 2014 oder die «Svizzera 240: House Tour» im Schweizer Pavillon von 2018.
Ebenfalls hat es auf der Architekturbiennale Tradition, sich nicht nur mit der Architektur der eigenen Nation, sondern mit jener des Nationalpavillons als Ort der Repräsentation auseinander zu setzen. Die dialektische Gegenüberstellung bietet Gelegenheit zur kritischen Reflexion der eigenen Vergangenheit. Die Art, wie man den bestehenden Kontext mit einer zweiten Raumstruktur verbindet, überlagert oder besetzt, enthält Aussagen zur Gegenwart sowie Fragen an die Zukunft.
Der Schweizer Pavillon an der 19. Architekturbiennale wählt einen ruhigen Weg und spricht damit ganz andere Sensoren an als beispielsweise all das Geflimmer und Gewummer, die unzähligen Informationen und Alarmglocken in der Hauptausstellung. Nur auf der Edelstahltafel am Eingang und einer aufliegenden Faltbroschüre gibt es Details zu dieser – ich würde sagen: Kunstinstallation.
Der Titel «Endgültige Form wird von der Architektin am Bau bestimmt», ein Zitat von Lisbeth Sachs, verrät zwar wenig. Und die Frage, die Annexe stellt: «Was wäre, wenn nicht Bruno Giacometti, sondern Lisbeth Sachs den Schweizer Pavillon entworfen hätte?», erwartet keine Antwort.
Doch die Kuratorinnen weisen damit auf die Tatsache hin, dass keiner der Länderpavillons in den Giardini von einer Architektin gebaut wurde. Obwohl es auch zu jener Zeit aktive Architektinnen gab, hatten diese es nicht nur bedeutend schwerer, eine Ausbildung zu erhalten und zu praktizieren, sie wurden auch schlicht in der Geschichtsschreibung vernachlässigt.
Konzentrische Fragmente
Im Schweizer Pavillon steht nicht die Person, sondern die Architektur von Lisbeth Sachs im Zentrum und kann nun in Fragmenten erlebt werden. Dafür wurde die für die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) von 1958 entworfene temporäre Kunsthalle wieder errichtet. Die Grösse und das Material sind dem Originalbau nachempfunden. Die gegensätzlichen Formen von Nationalpavillon und Kunsthalle durchdringen sich und wirken zusammen wie eine dekonstruktivistische Verrücktheit aus den 1980er-Jahren.
Oder steckt noch mehr dahinter? Ist es gar gewollt, dass die Installation mit der strengen Geometrie und kühlen Materialien des Giacomettibaus und den runden Formen und warmen Materialien des Sachsbaus stereotype Klischees von männlichen und weiblichen Attributen bedient? Wie auch immer die Antwort lauten mag: Die Installation mit den zwei gegensätzlichen, sich kreuzenden Architektursprachen lädt zum Denken ein, sofern man einen Zeitraum mit wenig Besucherandrang erwischt.
Dann ist es möglich, Kollisionspunkte wahrzunehmen. Zum Beispiel, wie der Schattenwurf des Dachfachwerks des Oberlichts des Schweizer Pavillons sich auf das weisse Textilzelt der Kunsthalle legt. Oder wie ein blechverdecktes Kreisbogensegment stumpf an der Backsteinwand endet und an anderer Stelle ebendieses durch eine entfernte Glasscheibe die Wand durchdringt. Im Detail zeigen sich poetische Interferenzen sowie physische Grenzen der konzeptionellen Idee.
Die konzentrisch angeordneten Holzwände, 1958 hingen Exponate daran, wirken hier wie die Kulissengassen, durch die man eine Bühne betritt. Zwischen Ihnen und den Aussenmauern des Pavillons bilden sich Resträume. Im schmalen Gang treffen konvexe Kreissegmente zweier Zeltdachkonstruktionen aufeinander. Ein leichter Vorhang weht im schwachen Wind und deutet den Weg nach draussen. Im Atrium des Schweizer Pavillons befinden sich weitere Fragmente der temporären Kunsthalle. Holzwände, weisse Vorhänge, Kreissegmente, Zugseile, Zeltdach – das ist das Vokabular des diesjährigen schweizerischen Biennalebeitrags. Doch es obliegt jeder Besucherin und jedem Besucher, selbst eine Übersetzung dafür zu finden.
Räumliche Metapher für Koexistenz?
Das Miteinander der beiden Formensprachen wirkt ruhig und unaufgeregt. Es symbolisiert keine krachende Gegenüberstellung zweier diametralen Positionen, sondern eine fast schon friedliche Überlagerung und Koexistenz zweier gleichberechtigten Positionen.
Unvermeidlich scheint mir der Vergleich mit sozialen Strukturen und ich frage mich: Was wäre, wenn nicht nur gebaute Strukturen, sondern auch unterschiedliche Formen von Weltanschauungen, Glauben oder politischer Haltungen friedlich koexistieren könnten? Ich verlasse den Pavillon mit vielen offenen Fragen, doch: Ohne Fragen keine Antworten!
Informationen:
Ausstellungstitel
«Endgültige Form wird von der Architektin am Bau bestimmt»
Kuratorenteam
Elena Chiavi, Kathrin Füglister, Amy Perkins, Myriam Uzor, Axelle Stiefel
➔ Weitere Beiträge zur Biennale auf französisch und italienisch finden Sie in unseren E-Dossiers Biennale d'architecture de Venise 2025 und Biennale di Venezia