Schutz­man­tel aus Eis

2.2 km fehlten, damit man Berlin mit der U-Bahnlinie 5 umsteigefrei von Ost nach West durchqueren konnte. In den letzten zehn Jahren entstanden tief unter der Stadt zwei Tunnelröhren und drei neue U-Bahnhöfe – einer davon im Schutz der grössten innerstädtischen Vereisung europaweit. 

Publikationsdatum
07-01-2021

Die Berliner U-Bahn ist die älteste Un­tergrundbahn Deutschlands. Auf der heutigen Linie 5 fuhren bereits vor 90 ­Jahren die ersten U-Bahnen vom Alexanderplatz in Richtung Osten. Die Pläne, die Linie nach Westen zu führen, wurden zunächst von der Weltwirtschaftskrise, dann vom Krieg und von der deutschen Teilung ausgebremst (vgl. «Sonderzug nach Moskau», ganz unten).

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem erneuten Zusammenwachsen Berlins stieg jedoch der Bedarf an weiteren leistungs­fähigen Nahverkehrsverbindungen in der ­Innenstadt. Deshalb beschloss die Stadtregierung, das seit fast 70 Jahren stillgelegte Planungsvorhaben «U-Bahnlinie U5» wieder aufzugreifen. «Lückenschluss» nannten die Verantwortlichen das grösste Berliner Infrastrukturprojekt der letzten zehn Jahre. Zum Projekt gehören die drei neuen U-Bahnhöfe Rotes Rathaus, ­Museumsinsel und Unter den Linden (vgl. «Kathedralen des Alltags») sowie zwei 2.2 km lange Tunnelröhren mit einer Gleiswechselanlage.

Der Lückenschluss verlängert die U5 vom ­Alexanderplatz zum Brandenburger Tor und führt sie dort mit der bestehenden U55 zusammen.1 Der neue Streckenabschnitt ist kurz, bringt aber entscheidende Verbesserungen für das innerstädtische ÖV-Netz. Nicht zuletzt bindet die komplettierte Strecke den seit 2006 bestehenden neuen Hauptbahnhof (ehem. Lehrter Bahnhof) endlich ans U-Bahnnetz an. Berliner, Berlinerinnen und Hauptstadtbesucher können in 41 Minuten umsteigefrei die 22 km vom Regierungsviertel bis nach Hönow fahren, zu den grossen Wohn­gebieten im Osten der Stadt.

Quer durchs Zentrum von Berlin

Die ersten 600 m der Tunnelstrecke – von Osten gesehen – bestehen aus dem U-Bahnhof Rotes Rathaus, dem ehemaligen Startschacht der Tunnelbohrmaschine (TBM) und dem 90 Jahre alten Alex-Tunnel. Letzterer wurde bereits 1930 als Aufstell- und Kehranlage für die Züge der späteren U5 in Betrieb genommen. Von Mai 2016 bis April 2019 wurde er instand gesetzt.

Bei diesen Arbeiten fiel auf, dass der Tunnel mit weit schwereren Bodenschichten überdeckt war als in den Plänen verzeichnet: In den vergangenen Jahrzehnten waren immer wieder Asphalt- und Betonschichten aufgebracht worden, ohne die bestehenden Schichten zu entfernen. Diese Auflast musste reduziert werden. Für die Durchfahrt der U5 verstärkte man deshalb die Tragfestigkeit der Tunnelwände und ersetzte die 10 000 t Beton- und ­Asphaltschichten durch leichten Schaumglasschotter.

Die folgenden 1.6 km der Tunnelröhren wurden mit der TBM aufgefahren. Der Startschacht lag logistisch günstig in der Nähe der Spree, sodass sich die Einzelteile der Maschine per Schiff anliefern liessen – auch für den Abtransport des Ausbruchmaterials nutzte man den Wasserweg.

Die beiden eingleisigen Tunnel mit Durchmessern von 6.7 m wurden im Schildvortrieb hergestellt. Dabei waren die Spree und das Humboldt Forum zu unterqueren, bevor es zwischen der auf Holzpfählen gründenden, denkmalgeschützten, rund 280 Jahre alten Schlossbrücke und dem Keller des Kommandantenhauses weiterging. Als die nördliche Röhre durch­örtert war, verzögerten ein Wassereinbruch, die ­getroffenen Gegenmassnahmen und die Klärung der Hintergründe der Havarie die Arbeiten.

Erst nach sechs Monaten konnte man die ­Maschine zerlegen und zurückziehen und mit der zweiten Röhre beginnen. Der Durchbruch zum U-Bahnhof Brandenburger Tor erfolgte im März 2017. Der Spreehafen am Marx-Engels-­Forum wurde im ­selben Jahr zurückgebaut. Der Startschacht der TBM wurde zu einem Tunnelstück mit Gleiswechselanlage.2

Drei neue Stationen

Mit den neuen Bahnhöfen erhöht sich die Zahl der ­Berliner U-Bahnstationen von 173 auf 176, das Gesamtnetz umfasst nun knapp 149 km, genau 70 km weniger als das der Pariser Métro. 80 der Untergrund- und Hochbahnhöfe stehen unter Denkmalschutz: prächtige Anlagen der Kaiserzeit (Heidelberger Platz), sachlich gehaltene Bahnhöfe der Zwanzigerjahre (Neukölln, ­Mitte) oder ländliche Haltestellen wie in Dahlem.

Für den Ausbau der drei neuen Bahnhöfe wurden von den Berliner Verkehrsbetrieben mit Collignon Archi­tekten, Max Dudler sowie Ingrid Hentschel und Prof. Axel Oestreich drei namhafte Büros mit der Gestaltung ­beauftragt. Doch zunächst war das Know-how der Tiefbau- und Spezialtiefbauunternehmen gefragt.

Museumsinsel: Eiszeit im Untergrund

Der tiefste Punkt der Verlängerungsstrecke ist mit 16.5 m unter Gelände der unter der Spree gelegene ­Bahnsteig von Max Dudlers Station Museumsinsel. Technisch anspruchsvoll war die Lage des Bahnhofs: teils unter dem Spreekanal, der denkmalgeschützten Schlossbrücke und dem Gebäude der ­Bertelsmann-
Repräsentanz. So konnte die Station nicht in Deckel- oder offener Bauweise entstehen, sondern wurde bergmännisch aufgefahren – im Schutz eines Frostkörpers. In 80 Tagen bildete sich um die Tunnelröhren ein Frostkörper von 28 000 Kubikmeter, der den Erd- und Wasserdrücken standhielt.

Das Bauunternehmen fror dazu den Untergrund zwischen den beiden Eingangsschächten am Humboldt Forum und am Kronprin­zenpalais ein. Der 2.5 m dicke Vereisungsring mass 105 m × 25 m und war damit die bislang grösste innerstädtische Bodenvereisung Europas. 95-mal mussten über, unter und neben den zuvor mit der TBM gebauten Tübbingtunneln 105 m lange Vereisungslanzen horizontal in den Grund gebohrt werden. Dabei durfte der Zielpunkt nur maximal 50 cm von der Planung abweichen, damit das Auffrieren des Frostkörpers gelingen konnte.

Den vollständigen Artikel lesen Sie in TEC21 1–2/2021 «Ab durch die Mitte!»

Mithilfe einer Vereisungsanlage wurde eine –37° kalte Sole durch den Kühlkreislauf gepumpt. Über 2000 Temperaturmesspunkte konnten die Verantwortlichen beobachten, wie sich der Frostkörper entwickelte. Die Tübbingröhren selbst waren im Vorfeld durch jeweils 74 dreieckige Stahl-Beton-Elemente verstärkt worden, damit die Tunnel auch dem Bau des Mittelstollens und dem möglichen Eisdruck standhalten konnten. Nach dem Abfräsen und dem Auftragen einer Spritz­betonschicht auf den vereisten Grund brachen die ­Arbeiter die Tübbingröhren zur Mitte hin auf – so entstanden der Gleisbereich und die Bahnhofshalle.

Nun konnten die Vereisungsanlage abgeschaltet und der Frostkörper aktiv aufgetaut werden. Die Sole wurde per Fernwärme erhitzt und noch einmal durch die Röhren der Vereisungsanlage gepumpt. In nur drei Wochen war das Eis verschwunden. Die durch das Abschmelzen des Frostkörpers verursachte Senkung des gesamten Bauwerks wurde rund um die Uhr überwacht. Jörg Seeger erklärt: «Die Senkungen lagen im Zentimeterbereich, mittels Injektionstechnik haben wir ihnen entgegenwirkt. Exaktere Angaben können wir erst machen, wenn die ­Baumassnahme in diesem Bereich abgeschlossen ist.»

Ganz fertig ist der Innenausbau der Station heute nämlich noch nicht. Eine Durchfahrt mit der U5 ist zwar möglich, nicht aber das Ein- und Aussteigen. Dies wird voraussichtlich erst im Sommer 2021 der Fall sein.

Die Party wird verschoben

Auf der neuen Linie rechnen die Berliner Verkehrsbetriebe mit rund 150 000 Fahrgästen täglich. Seit dem 4. Dezember 2020 verkehren die Züge tagsüber im Fünfminutentakt. Eine grosse Einweihungsparty gab es aufgrund der aktuellen Pandemie nicht. Doch es besteht die Hoffnung, sie zur Eröffnung der Station Museumsinsel im Sommer 2021 nachholen zu können.

Anmerkungen:

1 «Kanzler-U-Bahn» wurde die kurze, provisorisch als U55 bezeichnete westliche Teilstrecke der U5 zwischen dem Brandenburger Tor und dem Hauptbahnhof genannt. Sie war zwischen 2009 und März 2020 in Betrieb.

2 Hier können die Züge noch einmal bzw. zum ersten Mal das Gleis wechseln, bevor sie in den beiden getrennten Tunnelröhren bis zum Hauptbahnhof fahren bzw. bevor sie in Richtung Alexanderplatz weiterfahren. Dies schafft Flexibilität für den Fall, dass einmal die Sperrung eines Gleises notwendig sein sollte.

Sonderzug nach Moskau

 

Die ersten Pläne für eine U-Bahn auf der Trasse der heutigen Linie 5 datieren auf das Jahr 1908. Nachdem der Krieg und die Weltwirtschaftskrise die Baupläne ausbremsten, wurde schliesslich im Dezember 1930 die 7 km lange, vom Alexanderplatz nach Friedrichsfelde (Berlin-Lichtenberg) führende Strecke eröffnet. Seinerzeit von Walter Benjamin treffend als «proletarische Schnellbahn» charakterisiert, verband sie die dicht besiedelten Mietskasernenviertel der Arbeiterschaft mit der Innenstadt. Die riesige Baustelle des Kreuzungsbahnhofs Alexanderplatz ist in Alfred Döblins Grossstadtroman «Berlin Alexanderplatz» (1929) mehrfach Kulisse der Handlung.

Nach Kriegsende musste ein Grossteil der U-Bahnwaggons der damals als Linie E bezeichneten Strecke als Reparationsleistung nach Moskau verbracht werden, sodass die Strecke zeitweise mit umgebauten S-Bahnwaggons betrieben wurde. 1973 ging mit der Verlängerung zum neu geschaffenen Tierpark die erste und ­einzige echte U-Bahnstrecke der DDR in Betrieb. Im ­Sommer 1989 schliesslich war der weitgehend oberirdisch geführte Ausbau um neun weitere Stationen bis zur heutigen Endhaltstelle Hönow vollendet, der die Grosssiedlung Hellersdorf ans Zentrum anbindet.

Der Mauerfall eröffnete die Chance, alte Pläne für eine West-Verlängerung der Strecke anzugehen: Die Bauarbeiten für das westliche Ende der Strecke begannen 1995 parallel zur Errichtung des Bahntunnels und des neuen Berliner Hauptbahnhofs am Spreebogen. Nach zwischenzeitlichem Baustopp rollten 2009 endlich die Züge auf der provisorisch als U55 bezeichneten 1.8 km langen Teilstrecke zwischen Hauptbahnhof und Brandenburger Tor. Was seitdem fehlte, war die nun geschaffene Verbindung zum übrigen U-Bahnnetz. 
(Frank Peter Jäger)

Lückenschluss U-Bahnlinie 5, Berlin

AM BAU BETEILIGTE

Bauherrschaft
BVG Berliner Verkehrsbetriebe, vertreten durch die BVG Projekt

Planung
Planungsgemeinschaft U5 Berlin (PG U5), Berlin

Projektsteuerung, Bauober­leitung, Bauüberwachung
IG N U5 – Ingenieurgemeinschaft Neubau U5, Berlin

Ausführung
Implenia Construction, Berlin

U-Bahnhof Rotes Rathaus

Architektur
Collignon Architektur und Design, Berlin

Tragwerksplanung
Dipl.-Ing. K. Sowietzki Ingenieurgesellschaft, Berlin

Lichtplanung
Licht Kunst Licht, Bonn und Berlin

Glasstatik (Schrägverglasung und Aufzüge)
GSK – Glas Statik Konstruk­tion, Dipl.-Phys. Wolfgang Kahlert

Tragwerk (Teilbereiche und Ausbau)
Ingenieurbüro Dr. Pelle, Dortmund und Berlin

U-Bahnhof Museumsinsel

Architektur
Max Dudler Architekten, Berlin/Zürich

Rohbauplanung
SSF Ingenieure, Berlin

Haustechnik
Berliner Verkehrsbetriebe

Tragwerkplaner
Pichler Ingenieure, Berlin; Ingenieurbüro Meister, Berlin

Lichtplanung
High Light, Berlin

U-Bahnhof Unter den Linden

Architektur
Ingrid Hentschel – Prof. Axel Oestreich Architekten BDA, Berlin

Tragwerksplanung
Ingenieurbüro Krentel, Berlin (Rohbau Ausbau)

Lichtplanung
High Light, Berlin

Heizung, Lüftung, Sanitärplanung
ING.FTG Ingenieurgesellschaft für technische Gebäudeausrüstung

Elektroplanung
Berliner Verkehrsbetriebe

Tunnel und projektübergreifende Planungen

Verkehrsplanung und -lenkung
Hoffmann Leichter Ingenieurgesellschaft, Berlin

Rohbau und Gleisbau
Westabschnitt: Implenia Construction, Berlin
Ostabschnitt: Porr, München

Vermessung
Intermetric, Gesellschaft für Ingenieurmessung und raumbezogene Informationssysteme

Planung Gleisbau
Planungsgemeinschaft SSF/ISP (PG Gleisbau U5), München

Fachgutachter für die Vereisungsberechnungen
Dr.-Ing. Orth, Wolfgang Orth, Ingenieurbüro für Boden­vereisungstechnik, Ettlingen


Bauzeit
2012–2020

Baukosten
Rund 525 Mio. Euro

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