Rü­cken­wind für Ve­lo- und Fuss­ver­kehr

Der Corona-Shutdown bremste den motorisierten Verkehr vorübergehend aus. Im Gegenzug waren viel mehr Menschen per Velo oder zu Fuss unterwegs. Aus den letzten Monaten wollen die Schweizer Städte lernen und die Infrastruktur für den Langsamverkehr verbessern.

Publikationsdatum
07-06-2020

Ein Virus ändert das gewohnte Verkehrsregime. War das Auto vor dem Corona-Ausbruch das unbestrittene Hauptgefährt für Arbeit, Einkauf oder Freizeit, vertraute die Bevölkerung zuletzt vor allem eigener Muskelkraft: Das Fahrrad war das beliebteste Transportmittel im Ausnahmezustand, fanden die Universität Basel und die ETH Zürich gemeinsam heraus. Beide Hochschulen sammeln schon über mehrere Jahre individuelle Bewegungsdaten und aggregieren diese zu repräsentativen Studien über das Mobilitätsverhalten in der Schweiz.

Nicht nur Verkehrsforschern fiel dieser Umsteigeeffekt auf, sondern auch einigen Städteplanern weltweit. So sperrten die Behörden in Genf, Mailand und Berlin ebenso wie ihre Kollegen in Calgary, Mexiko-Stadt oder Bogotà einige Fahrspuren für Autos und erklärten diese kurzerhand zur Velospur. «Corona-Radwege» haben zwar nur temporären Charakter; dennoch ist der Begriff nun ein urbanes Synonym für mehr Platz und höhere Sicherheit im Veloverkehr.

Weniger Platz für Autos

In der Schweiz hat sich nur Genf dieser Pop-up-Bewegung angeschlossen. Trotzdem will auch die Städtekonferenz Mobilität (SKM) die Gunst der Stunde nutzen. Der Verbund aus den zehn grössten Städten und weitere zehn Zentren aus allen drei Landesteilen hat Ende Mai eine gemeinsame «Position zum Fuss- und Veloverkehr» veröffentlicht. Dieses Papier soll zusätzliche Dynamik in die politische Debatte einbringen.

«Die Ansprüche von Velofahrenden und Fussgängern sind gegenüber dem motorisierten Verkehr gleichberechtigt zu werten», fordert stellvertretend der Zürcher Tiefbauvorsteher Richard Wolff. Und sein Freiburger Amtskollege Pierre-Olivier Nobs macht die Folgen deutlich: Der Langsamverkehr brauche mehr Platz in der Stadt, so sein Votum an der virtuellen SKM-Medienkonferenz.

Das schweizweite Bekenntnis zum flächen- und energieeffizienten Stadtverkehr ist jedoch nicht nur dem Covid-19-Appell geschuldet,«zu Hause zu bleiben»; ein noch dringenderes Motiv ist der neue Veloartikel in der Bundesverfassung. Den Auftrag dazu gab das Stimmvolk vor zwei Jahren, als es den nationalen Velobeschluss mit über 73 % Ja-Anteil guthiess. Nun hat der Bundesrat das «Bundesgesetz über die Velowege» in die Vernehmlassung geschickt. Es soll die Kantone zum Ausbau von lückenlosen Radwegnetzen verpflichten.

Mehr Geld vom Bund

Die Städtekonferenz begrüsst die Vollzugsvorlage grundsätzlich. Dennoch brauche es substanzielle Verbesserungen: «Die geplanten Vorschriften lassen an Verbindlichkeit und Ressourcen vermissen», so Adrian Borgula, SKM-Präsident und Mitglied des Luzerner Stadtrats. Es fehlten Fristen für den Infrastrukturausbau; und der Bund soll selbst Geld dafür bereitstellen.

«Das Agglomerationsprogramm wäre ein passendes Fördervehikel», kommentiert Borgula. Die Langsamverkehrsinfrastruktur ebenfalls lokal zu fördern, etwa über den Mehrwertausgleich in der Nutzungsplanung, sei nicht überall möglich, wurde an der Medienkonferenz ergänzt.

Die Städte wagen aber ebenfalls eine Konfrontation: Zusätzlichen Raum für Velofahrende und zu Fuss Gehende soll der motorisierte Verkehr zur Verfügung stellen. Die Vertreter der Städtekonferenz präsentierten dazu einen detaillierten Transferkatalog; unter anderem seien «Autoparkfelder aufzuheben und als Veloabstellplätze zu nutzen», fordern Freiburg und Zürich.

Derweil verlangt der Basler Verkehrsminister Hans-Peter Wessels, «so schnell als möglich Velo-Schnellrouten einzuführen». Vor Ort habe man bereits erfolgreiche Testversuche durchgeführt. Und die Berner Exekutivvertreterin Ursula Wyss möchte sogenannte Trendfahrzeuge wie E-Trottinettes lieber nicht mehr auf Velowegen oder Gehsteigen sehen. Auch der Fussverkehr soll vom Ausbau der Infrastruktur profitieren: Öffentliche Plätze seien freundlicher zu gestalten, «zum Beispiel mit mehr Sitzgelegenheiten für ältere Menschen», so Wyss.

Verwirrung um Mischverkehr

Ein vierseitiges Positionspapier bekräftigt die Mobilitätswünsche der Städtevertreter. «Aus dem Bauch heraus zu Fuss gehen und Velo fahren» – so sein Titel – will die Bedeutung der sanften Verkehrsmittel insbesondere für wachsende Grossagglomerationen betonen. In diesem Dokument ist jedoch auch Überraschendes zu lesen: Nicht nur der Autoverkehr wird in die Schranken gewiesen; ebenso werden aktuelle Planungskonzepte infrage gestellt.

Die Städtekonferenz will neuerdings «die Wege für Fussgängerinnen und Fussgänger sowie Velofahrerinnen und Velofahrer von den anderen Verkehrsmitteln möglichst trennen». Mischverkehr, der zum Repertoire einer zeitgemässen Verkehrsplanung gehört, sei nurmehr unter gewissen Umständen zu akzeptieren.

Die gemeinsame Erklärung stiftet Verwirrung, weil die Wahl zwischen Trenn- oder Mischverkehr kaum konkretisiert wird. So bleibt unklar, ob zum Beispiel dieselben Kriterien gelten, wie sie Bern derzeit diskutiert. In der Hauptstadt soll dieses Jahr ein Masterplan für die urbane Veloinfrastruktur verabschiedet werden, der den Veloverkehr nurmehr auf «verkehrsarmen und -beruhigten Strassen mit Tempo 30 kmh/h im Mischverkehr führen» will. Um die Sicherheit zu verbessern, sei eine Separierung zum Beispiel bei Kreiseln generell zu prüfen.

Was trotz allem klar wird: Der Covid-19-Shutdown scheint eine alte Diskussion neu in Schwung gebracht zu haben. Doch um die Infrastruktur des Langsamverkehrs in Städten zu verbessern, braucht es nicht nur mehr Platz, sondern auch neue Standards und Normen für die Verkehrsführung.

 

 

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