Eine Schule wie eine Schatzkiste
Primarschule Orsonnens
Der 2017 fertiggestellte Bau der Mallorquiner TEd’A Arquitectes im freiburgischen Orsonnens vereint moderne Ansprüche an eine Primarschule mit einer traditionellen Bauweise. Gleichzeitig zeugt das Objekt von der Modernisierung der regionalen Schulzentren.
«Grangécole» lautet die Inschrift, die die Eintretenden in der Pausenhalle der Schule von Orsonnens empfängt. Sie erinnert an das Motto des Projekts, mit dem das mallorquinische Büro TEd’A Architekten im Februar 2014 einen einstufigen Wettbewerb gewann. Die Wortschöpfung bedeutet so viel wie «Scheunenschule» und ist in den Betonsockel des Projekts eingraviert. Sie verweist auf die Absicht der Architekten, mit ihrem Werk ein Zeichen in der Freiburger Baulandschaft zu setzen und zugleich die Qualitäten des Baus zu überspielen.
Orsonnens hat wenige hundert Einwohner. Auf halbem Weg zwischen Romont und Freiburg gelegen, hat sich die Ortschaft, die 2001 mit den benachbarten Dörfern zur Gemeinde Villorsonnens fusionierte, in den letzten Jahren zu einer für Pendler attraktiven Wohngegend entwickelt. Der neue, 25 m × 25 m grosse Solitär befindet sich am nördlichen Dorfrand und fügt sich gut in die hügelige Landschaft ein. In Kubatur und Höhe lehnt er sich an die bestehende Sporthalle an. Mit dem Neubau entstand auch ein neuer Empfangsbereich im Freien für beide Bauten, und der nördliche Zugang zum Dorf wurde umgestaltet.
Rurale Reminiszenzen
Das Schulhaus, das im Herbst 2017 eingeweiht wurde, bildet ein kompaktes und massives Volumen, das insgesamt neun Klassenzimmer auf drei Geschosse verteilt: zwei Kindergartenklassen ins Parterre und sieben Primarschulklassen in die oberen beiden Stockwerke. Einige Nebenräume für schulergänzende Aktivitäten und ein Untergeschoss für die Technik ergänzen die Infrastruktur. Dieses auf die Bedürfnisse der Gemeinde Villorsonnens zugeschnittene Programm wurde in etwas mehr als einem Jahr in Zusammenarbeit mit dem Architektenbüro Rapin Saiz Architectes aus Vevey entwickelt und ausgeführt.
Auf den ersten Blick zeigt sich das Projekt trotz seiner exponierten Lage als nüchternes Bauwerk, das den Betrachter in eine bekannte Welt versetzt: jene der traditionellen lokalen Bauten. Durch ihre Form als trutziger, eher flacher Kubus erinnert die Schule an die robuste Architektur der umliegenden Bauernhöfe, wie eine dunkle Festung liegt sie inmitten von Obstgärten und Wiesen.
Die Fassadenverkleidung aus Fichtenholzschindeln bezieht sich auf die für diese Gegend typischen Giebelwände der Landwirtschaftsgebäude. Doch die Übergrösse der Schindeln, ihre Verlegung in vertikalen, durch lisenenartige Lattungen getrennten Feldern und die horizontalen Kupferstreifen über den Stürzen und dem Sockel verweisen auf eine andere, repräsentativere Nutzung. Die Kupferintarsien haben neben der dekorativen auch eine konstruktive Funktion, erhöhen sie doch die Witterungsbeständigkeit des Baus. Beim Näherkommen erkennt man den fast verborgenen Haupteingang an der Südseite. Der gedeckte Pausenplatz davor bildet eine durch die rosettenförmigen Aussparungen in der Fassade akzentuierte luftige Zwischenzone, die wiederum an eine Scheune erinnert.
Im Innern verschwindet diese Analogie weitgehend, lediglich die Materialisierung im Holz hält die Verbindung zur Fassadengestaltung. Im Unterschied zu den lokalen Bauernhäusern, die gewöhnlich in einer dreigliedrigen Struktur – Wohnung / Scheune / Stall – organisiert sind, verteilt sich das Raumprogramm der Schule nach einer funktionalen Geometrie: Die windmühlenartige Platzierung der Klassenzimmer kommt derzeit bei Schulhäusern häufig zur Anwendung. Gleichzeitig entsteht so ein kreuzförmiger zentraler Raum, der durch kreisförmige Ausschnitte aus den Bodenplatten in der Vertikalen erweitert wird. Er ist das Herz des Gebäudes und bietet den Schülerinnen und Schülern einen Versammlungsort, der Wärme und Ruhe ausstrahlt.
Eine filigrane vierteilige Holzstütze im Zentrum betont das strenge Gefüge des Gebäudes und lenkt den Blick durch alle Geschosse nach oben. An ihrem Scheitel fächert sich diese baumartige Skulptur in vier Äste auf, die gemeinsam das kupferne Oberlicht tragen. Von dieser Krone aus fallen die grosszügig bemessenen Holzbalken zu den äusseren Ecken des Quadrats ab. Sie durchlaufen jedes der Klassenzimmer im zweiten Obergeschoss diagonal und beleben die Räume, über denen sie schweben.
Eine Welt zum Entdecken
Die Innenräume zeichnen sich durch eine für eine Schule aussergewöhnliche Vielschichtigkeit aus – trotz der nahezu durchgehenden einheitlichen Materialisierung in Holz. Die Metallgeländer laden zum Berühren ein. Die Hängelampen verführen dazu, sich in einen der zahlreichen Lichtkegel zu stellen. Von Raum zu Raum mehren sich die Bezugspunkte und ermöglichen den Kindern einen Schatz an Erfahrungen.
Das Projekt zeugt von einer erstaunlichen Selbstständigkeit. Hier geht es nicht um die geistige Verfeinerung eines vorgefassten theoretischen Begriffs oder die Verwirklichung einer besonderen Atmosphäre; stattdessen entfaltet sich die Erzählstruktur des Gebäudes gemäss einer sorgsamen und durchdachten Abfolge von Szenarien für Innen- und Aussenräume, die nach dem Rhythmus der sie bestimmenden Bauelemente angeordnet sind. Die Rechtecke ordnen. Die Kreise versammeln. Die Dreiecke beherrschen. Ein Baum im Herzen des Systems. Eine Sonne auf dem Gipfel. Eine Blume am Fuss der Fassade. Zwei Kolosse am Eingang. Wie eine emotionale Komposition, die unweigerlich an die Innenräume eines Aldo van Eyck1 oder an die bildhauerische Schöpferkraft von Max Bill erinnert, hat die kognitive Funktion eines jeden Elements Vorrang vor den programmatischen Bezügen des Gebäudes.
Kinder begreifen den Gesamtzusammenhang eines Architekturprojekts nicht. Sie erfahren jedes ihnen begegnende Element als eine Welt für sich und erschaffen aus dieser partiellen Sichtweise ihr eigenes Universum. Die Schule in Orsonnens begegnet dieser Herausforderung durch einen ungewöhnlichen räumlichen und baulichen Reichtum. Es ist kein auf Räume, sondern eher ein auf Situationen bezogenes Projekt, so wie dies Aldo van Eyck in seinen Beschreibungen über das Verhältnis zwischen «Ort» und «Gelegenheit»2 andeutet.
Emotionale Architektur
Die Architektur eines Gebäudes in ein emotionales Erlebnis für seine Bewohner zu verwandeln ist ein Markenzeichen des Architektenduos Jaume Mayol und Irene Pérez. Das Haus Can Jordi i n’Àfrica (2010–16) und der Showroom der Fliesenfabrik Can Huguet (2014/15), beide auf Mallorca, gehören zu dieser Reihe von Projekten, bei denen die Verwirklichung einer Idee nicht die letzte Etappe des schöpferischen Prozesses ist, sondern der Ausgangspunkt für etwas viel Komplexeres: das Verhältnis zwischen Mensch und Raum. Die Schule in Orsonnens zeigt, dass Architekten aus materiellen oder sozialen Sachzwängen ausbrechen und so viele emotionale Szenarien wie gewünscht entwerfen können, wenn sie eine Idee auf allen Projektstufen konsequent und stimmig verwirklichen.
Mit Bildern von gestern ins Morgen
Durch die Entscheidung für eine vernakuläre Architektursprache erinnert die Gemeinde Orsonnens als Bauherrschaft an die eigene Kultur und nimmt gleichzeitig an deren Wandel teil. Die «Scheunenschule» wird zum Symbol für eine optimistische Zukunftsperspektive. Künftigen Generationen wird sie als erster Lehrer von den Lebensweisen der Region erzählen.
Anmerkungen
Dieser Text erschien online unter dem Titel «L’école d’Orsonnens et l’organicité émotionnelle de TEd’A arquitectes» und gedruckt in TRACÉS 07/2018.
- Im Essay «The child, the city & the artist: An essay on architecture: the in-between realm» von 1960 stellt Aldo van Eyck einen engen Bezug zwischen den Begriffen «Ort» und «Gelegenheit» als Konkretisierung des theoretischen Konzepts von «Zeit» und «Raum» her.
- «L’espace dynamique de Greg Lynn», Gespräch zwischen Greg Lynn, Eva Kraus und Valentina Sonzogni, in: «l’Architecture d’aujourd’hui», Nr. 349, 2003.
Termine
2014 offener Projektwettbewerb; 2014–2016 Planung; 2016–2017 Ausführung; Herbst 2017 Eröffnung
Raumprogramm
7 Primarklassen à 90 m2; 2 Kindergärten à 113 m2; 2 Zusatzräume à 20 m2; Lehrerzimmer à 72 m2; Büro à 18 m2
Energetische Anforderung
Minergie
Kennwerte
Baukosten: 7.75 Mio. Fr. (BKP 1–4, 9); Geschossflächen (SIA 416): 2450 m2; Volumen (SIA 416): 9248 m3
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
Commune de Villorsonnens
Architektur
TEd’A arquitectes, Palma de Mallorca
Bauleitung
Rapin Saiz architectes, Vevey
Tragkonstruktion Beton
2M ingénierie civile SA, Yverdon-les-Bains
Tragkonstruktion Holz
Ratio Bois, Ecublens
Fassadenplanung
Xmade, Barcelona / Basel
Elektroplanung
Bernard Bersier, Fribourg
HLKS-Planung
Sacao, Givisiez
Akustik
Ecoacoustique, Lausanne