Re­fu­gi­um am Gott­hard

Altes Gotthard-Hospiz zum 3-Sterne-Hotel umgebaut; Architekten: Miller & Maranta; Bauingenieure: Conzett Bronzini Gartmann

Das alte Hospiz auf dem Gotthardpass wurde in den Jahren 2008 bis 2010 zum 3-Sterne-Hotel umgebaut und erweitert. Die Architekten Miller & Maranta und die Bauingenieure Conzett Bronzini Gartmann schufen in enger Zusammenarbeit ein modernes Bauwerk, das wirkt, als habe es schon immer an diesem Ort existiert. Es bettet sich selbstverständlich in den räumlichen und historischen Kontext ein, und seine Schlichtheit widerspiegelt sich in Architektur und Tragwerk.

Publikationsdatum
13-01-2012
Revision
01-09-2015

Die Passhöhe des St. Gotthard ist einer der bedeutenden Schweizer Erinnerungsorte, der zugleich eine europäische Dimension besitzt: Der Pass markiert eine der wichtigsten ökonomischen und kulturellen alpinen Schnittstellen zwischen Norden und Süden – ein Drehkreuz, das mit der neuen Röhre des Gotthardtunnels bis heute nichts an seiner verkehrstechnischen Bedeutung eingebüsst hat. Doch der seit Jahrhunderten andauernde über- und unterirdische Ausbau des Gotthards steht nicht nur für die Verbindung zwischen dem deutsch- und dem italienischsprachigen Raum, sondern auch für die daraus erwachsenden Gefährdungen. Erfahrbar wird dies an den Befestigungsanlagen des schweizerischen Reduits, das auch auf dem Gotthard als Sicherung eines unverbrüchlichen Innersten der Schweiz in Zeiten der Bedrohung gilt. Seine vielschichtige Bedeutung sieht man dem kleinen städtebaulichen Ensemble auf der Passhöhe jedoch auf den ersten Blick nicht unbedingt an. Es setzt sich aus der alten Sust, einst Güterumschlagplatz und heute Museum, dem Hotel «St. Gotthard» und dem Hospiz St. Gotthard zusammen. Trotz ihrem jahrhundertelangen Bestehen sind die Bauten auf der Passhöhe durch ihre stete Transformation gekennzeichnet. Besonders deutlich wird dies am alten Hospiz, dem baulichen Herzstück der Passhöhe. Von 2008 bis 2010 wurde das Hospiz umgebaut, renoviert und über eine Dachaufstockung erweitert. Damit hat der Bau seine historische Funktion als Gästehaus zurückerhalten. Mehr noch: Das Hospiz ist selbst zum Berg geworden, kantig ragt es auf der einen Seite empor, und steil stürzt es auf der anderen hinab, während das 25 t schwere Bleidach trutzig schwer auf ihm lagert. 

Neue Stahlbetonstruktur in Bestand eingebettet

Den 2005 ausgelobten Studienauftrag zum Umbau des Hospizes gewannen die Basler Architekten Miller & Maranta mit einem Projekt, das die klimatische Ausgesetztheit des bestehenden Volumens thematisiert und die beiden Nutzungen – Hotel und Kapelle – unter einem Dach vereint, die Typologien aber ablesbar belässt. Ein wichtiger Teil des Entwurfes besteht in der Aufstockung des Daches um eineinhalb Geschosse. Dadurch konnte nicht nur die nötige Fläche für den Hotelbetrieb – 14 Zimmer mit 30 Betten – gewonnen werden, die neue Steilheit des Daches verschafft dem denkmalgeschützten Bau auch innerhalb des Ensembles eine stärkere Präsenz. Im Inneren intervenierten die Architekten, die bereits in der Entwurfsphase eng mit den Ingenieuren von Conzett Bronzini Gartmann zusammenarbeiteten: Die Raumstruktur von 1905 war für einen zeitgemässen Hotelbetrieb nicht geeignet. Daher liessen sie die innere Struktur bis auf das erste Obergeschoss zurückbauen. Innenwände und Dachkonstruktion wurden vollständig abgebrochen, die Fassaden aus gemauerten Steinen blieben dagegen stehen. Ebenso wurden die teilweise mit Stahlprofilen bewehrten Betondecken über dem Erdgeschoss rückgebaut, weil der Stahl stark korrodiert war. Im Südteil blieben lediglich die Steintreppe und die steinerne Fassade mit den historischen Fenstern samt Beschlägen in den unteren Geschossen erhalten, im Nordteil die in den 1980er-Jahren renovierte Kapelle mit ihrer gewölbten Decke. Die bestehenden Mauerwerkswände waren teils mehrschichtig und drohten beim Abbruch auseinanderzufallen. Mit vorbetonierten und bewehrten Wänden konnte man sie sichern und tragfähig machen. Im Bereich der Fenster ersetzte man die morschen Holzstürze durch solche aus Stahlbeton, und über den ersten beiden Geschossen wurde innerhalb der Fassaden eine Holzkonstruktion in Ständer-Bohlen-Bauweise eingefügt. Diese Konstruktion – Innenwände aus Ständern mit Ausfachungen aus liegenden Bohlen, eingefügt in massives Mauerwerk – wird aus Brandschutzgründen im Kanton Uri seit dem 15. Jahrhundert verwendet und besitzt gegenüber anderen Holzkonstruktionen wie dem Strickbau den Vorteil, dass sie aufgrund der vertikalen Pfosten weniger schwindet. Die Trockenbauweise und die Vorfertigung der Elemente im Tal erlaubten eine kurze Montagezeit auf der Baustelle. Zudem optimiert die Holzkonstruktion als isolierende Schicht das Gebäude energetisch. Der Zwischenraum zwischen Holz und Aussenwänden wurde zusätzlich gedämmt. 
Die neu erstellten Tragwerkselemente – die ergänzten Aussenwände und das Treppenhaus, das bis ins 4. Obergeschoss den Süd- vom Nordteil des Gebäudes trennt – sind vor Ort unter teilweise unwirtlichen Witterungsbedingungen konventionell in Stahlbeton erstellt worden. Sie stabilisieren zusammen mit den massigen bestehenden Mauerwerkswänden in den unteren Geschossen das Gebäude. Die Decken über Erd- und 1. Obergeschoss wurden mit Stahlbeton erstellt, deren Auflager befinden sich auf den neuen Innenwänden aus Beton und über eingespitzte Nocken in den Aussenwänden aus Mauerwerk. Die Nocken sitzen in den vertikal durchlaufenden Wandpartien, damit die Fensterstürze nicht zusätzlich belastet werden.

Präzise Ausführung und ständige Kontrolle

Das Gebäude weist im Grundriss und im Schnitt eine durch den Bestand vorgegebene unregelmässige Geometrie auf, was eine grosse Anzahl an Betonieretappen bedingte. Die Rohbauetappen der Holzeinbauten waren örtlich voneinander getrennt; Nord- und Südteil wurden unabhängig voneinander hochgezogen und treffen sich erst im 5. Obergeschoss. Des-halb erarbeiteten die Bauingenieure eine Datei, in der sie alle Geometriedaten verwalteten und die komplexen Zusammenhänge prüften. Über ein durch eine professionelle Bauvermessung erstelltes Messsystem konnten sie die Ist- und Solllagen der Absteck- und Kontrollpunkte ständig miteinander vergleichen und, falls erforderlich, Massnahmen ergreifen.

Vorgefertigtes Innenleben aus Holz

Die neue Holzkonstruktion, die in die massive Hülle gesetzt ist, reicht bis unters Dach  und überzeugt durch ihre handwerkliche Präzision. Die Konstruktion ist unbehandelt im Inneren sichtbar und trägt die Eigen-, Auf- und Nutzlasten sowie die Dachlasten bis auf die Stahlbetondecke über dem 2. Obergeschoss auf der Südseite respektive die Stahl-Beton-Verbundträger auf der Nordseite ab. Die im Werk vorfabrizierten Elemente beinhalteten die Tragkonstruktion, die Schalung der Innenverkleidung, die Dämmungen, Beplankungen und Elektroinstallationen sowie die Ausholzungen für die Sanitärgeräte. Sie weisen also einen hohen Vorfertigungsgrad auf – gerechtfertigt durch die geplante kurze Montagezeit von nur zehn Tagen im September, während der mit schlechtem Wetter gerechnet werden musste. Die Vorfabrikation war vor dem Start der Abbrucharbeiten bereits abgeschlossen.
Die vertikal durchlaufenden Ständer in der Holzkonstruktion sind lediglich durch Stirnholzstösse unterbrochen. Indem die Bauingenieure auf die Schichtung von liegendem Holz verzichteten – was schwindanfälliger ist –, werden die Setzungsdifferenzen der Holzeinbauten gegenüber der Betonkonstruktion minimiert. Das Stützen-Träger-System wird durch eingeschlitzte Bleche und Stabdübel zusammengehalten und durch die sie umfassende Betonkonstruktion stabilisiert. Die gesamte Holztragkonstruktion weist über die Beplankung aus Holzwerkstoffplatten zwar ebenfalls eine eigene Stabilität auf, diese haben die Bauingenieure aber rechnerisch nicht berücksichtigt.
Die Dachkonstruktion besteht aus Pfetten, die über den Hauptachsen der darunter liegenden Holzkonstruktion angeordnet sind. Auf diesen Pfetten wurden Sparren und Schifter montiert. Die Sparren weisen einen für diese Höhenlage ungewöhnlich grossen Abstand von über einem Meter auf, wodurch die Gauben dazwischengesetzt werden konnten und auf im Anschluss aufwendige Auswechslungen verzichtet werden konnte. Die Sparrenabstände werden durch eine doppelt geführte Dachschalung von je 30 mm Stärke überbrückt, zwischen der sich die Unterdachfolie und die Konterlattung befinden.

Drei Jahre Bauzeit – zwei kleine Zeitfenster

Der Gotthardpass ist etwa ab Anfang Mai bis Mitte Oktober geöffnet, in der restlichen Zeit besteht kein fahrbarer Zugang. Zudem ist in dieser Höhenlage während des ganzen Sommers kurzfristig mit Schneefall zu rechnen. Diese Witterungsverhältnisse bedingten kurze Baufenster für das Gebäude mit seinen hohen architektonischen Anforderungen. Zusammen mit der komplexen Geometrie des Bestandes und den langen Anfahrtswegen stellten dies Rahmenbedingungen dar, die von den Planenden und Ausführenden ein durchdachtes und exaktes Vorgehen und Arbeiten verlangten. Die Umsetzung des Bauvorhabens wurde daher gezielt von Anfang an in zwei je vier bis fünf Monate lang dauernden Etappen in einem Zeitraum von zwei Jahren geplant.
2008, im ersten Jahr, erfolgten der Abbruch sowie die Rohbauarbeiten bis zum winterdichten Dach und provisorischen Verschluss der Fenster. Nach einer Massaufnahme der erstellten Betonkonstruktion wurden die Montageachsen und Koten des Holzbaus vermessungsseitig abgesteckt. Zuerst wurden die Elemente der Südseite montiert und mit der Dachkonstruktion abgedeckt. Eine zweite Gruppe bereitete die Montage auf der Nordseite vor, die ebenfalls in kurzer Zeit erfolgte. Der Zusammenschluss beider Dachseiten im 5. Obergeschoss offenbarte die genaue Arbeit der Beteiligten. Anschliessend verlegten die Ausführenden die Unterdachabdichtung und schlossen diese wind- und wasserdicht an das Mauerwerk an – womit das Bauwerk für den unmittelbar folgenden Winter vorbereitet war. Im zweiten Jahr erfolgten die Fertigstellung der Fassade und der Dacheindeckung sowie der gesamte Innenausbau. Im dritten Jahr waren nur noch kleinere Fertigstellungsarbeiten vorgesehen. Am 1. August 2010 erfolgte die offizielle Eröffnung.

Das einheitliche Bild wiedererlangt

Im Umgang mit dem alten Hospiz zeigt sich die architektonische Grundhaltung von Miller & Maranta, die die Moderne nicht als einen unversöhnlichen Gegensatz zur Tradition begreift, sondern als deren zeitgemässe Fortführung und qualitätvolle Weiterentwicklung. Diese Zuwendung drückt sich in Details wie dem eisernen Handlauf im Treppenhaus ebenso aus wie in den neuen Wandleuchten mit ihrem alpinen Rückbezug. Die Zimmermannsarbeit im Inneren ist sichtbar und trägt mit ihrem Duft nach Holz noch zur Sinnlichkeit des Baus bei. Auch die Möblierung der Zimmer – die in Alkoven platzierten Betten aus Fichtenholz, die schwarzen Bugholzstühle und die Stehleuchten von Andreas Christen von 1958 – unterstützt die einem Hospiz gerechte archaische Stimmung. Das Treppenhaus und die Gemeinschaftsräume im massiven Teil des Baus sind mit einem schimmernden Kalkputz versehen, die Nasszellen der Gästezimmer mit einem wasserfesten, schwarzen Anstrich behandelt.
Spürbar wird die verbindende Haltung vor allem auch in der Art und Weise, in der sich das neue Dach auf das alte Hospiz legt. Die Architekten haben Kapelle und Hospiz unter dem auf den Wetterseiten 52 ° steilen Dach mit einer Eindeckung aus Bleibahnen optisch zu einer Einheit zusammengefasst. Grau und schwer ist es, durchbrochen von Dachgauben, die sich wie mit angezogenen Schultern geduckt hervorheben, um dem Wind und dem Schnee nicht zu viel Angriffsfläche zu bieten. So liegt eine Selbstverständlichkeit in der architektonischen Gestaltung des neuen alten Hospizes, die den vorhandenen Charakter des Gebäudes unterstützt und stärkt und ihm damit seine ursprüngliche Bedeutung für den Ort zurückgibt.

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