Na­bel­schnur in die Zu­kunft

Fachhochschulzentrum Graubünden, Chur; Selektiver Projektwettbewerb

Die Standorte der Fachhochschule Graubünden in Chur sollen in einem Zentrum zusammengelegt werden. Der selektive Projektwettbewerb untersuchte die Möglichkeiten, am Bestandsgebäude an der Pulvermühlestrasse anzuknüpfen. In den Resultaten des Verfahrens spiegelt sich der Wandel dieses Hochschultyps.

Publikationsdatum
30-06-2022

Die Fachhochschulen haben in der Schweiz einen beispiel­losen Entwicklungsschub erlebt. Vom «Abendtechnikum» und den höheren Lehranstalten haben sich diese Bildungsinstitutionen mittlerweile zu einem wichtigen Bestandteil der tertiären Ausbildung in der Schweiz gemausert, der in acht Verbünde gegliedert ist und von den Kantonen getragen wird. Sie bilden mit ihren anwendungsorientierten Lehrgängen einen grossen Teil der Fachpersonen in der Schweiz aus, und mit ihren Weiterbildungsangeboten erreichen sie ein Publikum, das weit über ihre Studierenden hinausreicht.

Dieses Wachstum bedingt neue Standorte und erweiterte Ausbildungsstätten. In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche – teils ziemlich spektakuläre – Neubauten für die Fachhochschulen in der Schweiz entstanden. Dank den umgesetzten Projekten formt sich langsam eine Typologie für diese Bauaufgabe her­aus.

Nun steht die Erweiterung der Fachhochschule Graubünden an. Die Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur aus dem Jahr 1993 – ein Betonskelettbau mit vorgespannten Betonträgern von Dieter Jüngling und Andreas Hagmann in Zusammenarbeit mit Jürg Conzett – soll zu einem Fachhochschulzentrum erweitert werden. Ziel ist, die auf die Stadt verteilten sieben Standorte der Hochschule in einem neuen Zentrum zusammenzufassen, das den bestehenden Hauptsitz an der Pulvermühlestrasse ergänzt. Dabei sollen Räume und Strukturen entstehen, die den Austausch erleichtern, ein Campusleben ermöglichen und der Fachhochschule Graubünden eine neue Sichtbarkeit und architektonische Identität verleihen.

Getrennt, aber mit Anschluss

Das Verfahren war als anonymer, selektiver Projektwettbewerb für Generalplanerteams ausgeschrieben. Eine Besonderheit war die Absicht, das Verfahren als digitales Pilotprojekt durchzuführen. Das kantonale Hochbauamt wollte damit untersuchen, wie sich ein digitales Modell bereits in einer frühen Projektphase integrieren lässt. Dies hatte vielfältige Auswirkungen für die Büros, die daran teilnahmen, sowie auf die Durchführung des Verfahrens (vgl. «Information wächst, Aufwand explodiert»).
Aus städtebaulicher Sicht war die grösste Herausforderung, die Ausdehnung über die Pulver­mühle­­strasse hinweg mit dem Bestand zu verbinden. Da für eine Erweiterung des Bestands gegen Westen nicht genügend Fläche zur Verfügung steht, musste zumindest ein Teil des Programms nördlich der Strasse angeordnet werden. Es war deshalb entscheidend, welche Strategie in dieser Frage gewählt wurde.

Im Verfahren zeichneten sich in dieser Frage zwei Grunddispositionen ab: mit einem Solitärbau im Norden oder mit einer Aufteilung der Volumen südlich und nördlich der Pulvermühlestrasse. Je nach Ausformulierung dieser Beziehung kamen dann unterschiedliche Arten der Verbindung zustande: Passerellen, die über die Strasse spannen; ein grosser Park, der den Strassenraum mit einschliesst und durch eine sorgfältige Gestaltung eine sichere Verbindung anbietet; oder eine grosszügige Freitreppe unter einem gigantischen Dach, mit der der Neubau einen Fuss auf die andere Stras­senseite setzt. Die Büros mussten auf diese Frage eine klare Antwort finden. Aus der Art dieser Verbindung leiteten sie ihre Konzepte ab und schlugen teilweise spektakuläre Brückenbauwerke vor.

Ein weiterer entscheidender Faktor war der Umgang mit dem Bestand. Das Bauwerk von 1993 findet in Fachkreisen breite Anerkennung und gilt als eines der Schlüsselwerke des Churer Büros Jüngling und Hagmann. Die Fassade aus Kupfer bildete über Jahrzehnte das Gesicht der Bildungsinstitution, und entsprechend sorgfältig sollte der Anschluss an das Bauwerk erfolgen. Interessant ist, dass auch die Autoren selbst am Wettbewerb teilgenommen haben. Mit einer feingliedrigen Figur docken sie an ihr Frühwerk an und erweitern es auf beiden Seiten der Pulvermühlestrasse mit je einem Gebäudekomplex, der sich in der Höhe zurückhält und gegen die Stras­se zwei klar ablesbare Fassadenfluchten bildet. In der Tiefe der Parzelle entwickelt sich der Körper dann zu einem gegliederten Volumen, das mit Vor- und Rücksprüngen sowie mit Abtreppungen in der Höhe operiert. Als Kennwort wählte das Büro «Ponte dell’Accademia» – und diese markante, zweigeschossige Brücke über die Pulvermühlestrasse war dann auch das Kennzeichen des Projekts, das jedoch im zweiten Rundgang ausschied.

Fachhochschulen: Der Raumbedarf wandelt sich

Das Siegerprojekt von Giuliani Hönger reagiert mit einem Solitär auf der nördlichen Parzelle. Es nimmt die Grunddisposition des Bestandsgebäudes auf und überführt dessen Gliederung in einen grösseren Massstab. So zeigt sich ein Zitat der dreischiffigen Gebäudestruktur in der Erweiterung: Zwei unterschiedlich lange Flügel säumen einen Mitteltrakt, in dem sich eine überdachte Raumschicht befindet. Doch während der Bestand mit seinen unterschiedlich langen Flügeln einen Platz gegen Osten bildet, rückt die Erweiterung gegen Norden und fasst einen Platz zur Pulvermühlestrasse, gesäumt vom langen Flügel im Osten und von der historischen Schaltstation im Westen, die um 45° abgedreht den Platz noch um eine Dreiecksfläche erweitert.

Doch nicht nur bei der städtebaulichen Figur liess sich das siegreiche Büro vom Bestand inspirieren. Auch die Rolle der Statik als wesentlicher Treiber der Raumstrukturen verweist auf das Zusammenwirken von Tragwerk und Raum im ursprünglichen Gebäude – allerdings in einer anderen Materialkombination und mit einem anderen Ziel. War es im Bestand eine Betonstruktur, die das Gebäude in präzise gefasste Raumzellen teilt, so prägt den Neubau ein Holz-Hybrid-Tragwerk. Die grossen Fachwerkträger gliedern das Gebäude über mehrere Stockwerke hinweg und ermöglichen grosszügig dimensionierte Raum­strukturen und Grossraumbereiche. Darin unterscheiden sich Bestand und Neubau, und hier zeigt sich auch der veränderte Raumbedarf der Hochschulen. Während im Gebäude von 1993 noch klar erkennbare, kleinteilige Büros, Seminarräume und Vortragssäle zu erkennen sind, bietet der Neubau viel offenere Strukturen, die eher an grosse Büro- und Lernlandschaften erinnern.

In diesem Raumprogramm zeigt sich der fortschreitende Wandel der Methodik und Didaktik der Hochschulen. Neben dem klassischen Unterricht wächst die Bedeutung von Austausch und spontaner Interaktion, wofür grosszügige Räume nötig sind. Es erscheint schlüssig, dass ein Gebäude mit diesen Anforderungen in einem raumgreifenden, mehrgeschossigen Fachtragwerk umgesetzt wird.

Die enormen Raumtiefen in den beiden Flügeln des Neubaus erfordern einen Hof, der sie strukturiert und mit Tageslicht versorgt. Dadurch weisen die beiden Flügel wiederum eine ähnliche Anordnung auf wie das Gesamtgebäude: Durch den Hof entsteht eine vergleichbare dreischiffige Organisation. Das Leitmotiv wiederholt sich vom Grossen ins Kleine. Dabei bietet der östliche Flügel mehr Raum und Grosszügigkeit, da offene Bereiche den Lichthof säumen und das zenitale Licht bis ins erste Untergeschoss vordringen kann, auf dem einige Vortragssäle liegen. Im westlichen Flügel zeigen die Räume engere und kleinteiligere Strukturen. Das Erdgeschoss ist überdacht, da sich dort die Aula und der grosse Vortragssaal befinden.

Anbindung per Nabelschnur

Der physische Bezug zum Bestandsgebäude hingegen bleibt relativ vage. Auch wenn sich im Geiste viele Parallelen ziehen lassen, so tritt die Nachfolge nicht offensichtlich hervor. Besonders in den Fassaden zeigt sich der Wechsel der Zeiten: Während die «HTL Chur» mit geschlossenen Volumen und Fensterbändern operiert, setzen Giuliani Hönger mit dem «Fachhochschulzentrum» auf die Grammatik des Holzbaus. Dessen ordnende Strukturen dringen bis nach aussen, und eine sorgfältige Fügung der Elemente verspricht – trotz den enormen Ausmassen des Gebäudes – eine feingliedrige Fassade.

Und auch in der Materialisierung zeigt sich der Wandel der Zeiten: Eine Kupferfassade wie 1993 ist heute kaum mehr vorstellbar, zumal wenn die Nachhaltigkeit so stark gewichtet wird wie in diesem Verfahren.

Die etwas zaghafte Verbindung zum heutigen Mutterhaus zeigt sich am augenfälligsten in der Ausbildung der Passerelle: Auf Höhe des ersten Obergeschosses ist ein feingliederiger Fachwerkträger vorgesehen, der einen direkten Zugang um Neubau bietet. Die Lage dieser Verbindung im Grundriss ist bei beiden Gebäuden peripher und wenig prominent, und die Ausgestaltung erstaunt bei einem so selbstbewussten Auftritt des Erweiterungsbauwerks. So bleibt die Verbindung eher eine Nabelschnur als eine Brücke in die Zukunft.

Die grosse Geste

Eine vollkommen andere Vorgehensweise wählte das Team um die ARGE Durisch Nolli Sagl / Caretta Weidmann, dessen Projekt den zweiten Rang belegt. Ein markantes und ausladendes Gebäude steht direkt nördlich an der Pulvermühlestrasse. Um auf die andere Strassenseite zu gelangen, schlägt das Projekt eine 500 m² grosse Plattform vor, die auf etwa der halben Gebäudebreite aus dem Gebäude herauswächst und eine Brücke über die Verkehrsache schlägt. Mittels einer monumentalen Freitreppe setzt das Projekt einen Fuss auf die südliche Seite des Campus: ein eleganter Befreiungsschlag des städtebaulichen Grundproblems ohne viel Klein-Klein. Dar­über hinaus überspannt ein stüt­zenfreies und expressiv geformtes Dach aus Beton die gesamte Südfassade – in der kompletten Tiefe der Plattform. Ein unübersehbares Zeichen, das dem Fachhochschulzentrum ein unverwechsel­bares Gesicht verliehen hätte.

Die grosse Geste ist jedoch mehr als nur ein auf sich bezogenes formales Element: Mit dieser Setzung spielt das Projekt die Grünfläche hinter dem Bestandsgebäude frei. Damit erhält der Campus ein neues Zentrum, auf das sich auch der Bestand mit einer kleineren Plattform orientiert. Elegant stellt der Vorschlag damit eine Nachbarschaft zwischen dem Bestand und der Erweiterung her. Die Grosszügigkeit dieses ausgesprochen städtebaulichen Ansatzes ist enorm, und mit «Allmend» ist auch das Kennwort präzise gewählt.

Diese Generosität zieht sich im Innern des Gebäudes fort: Die Plattform führt ins Gebäude weiter und entwickelt sich dort zu einer kaskadenartigen Landschaft, die den gesamten Hof durchzieht. Dieser gliedert das Gebäude in drei Schiffe – auch in diesem Projekt ist eine Analogie zum Bestandsgebäude zu entdecken. Die innere Organisation besticht durch ihre Klarheit, und der Eventraum im Erdgeschoss bietet Platz für sehr viele Formate und Bedürfnisse.

Das zweitplatzierte Projekt erfüllt viele der Anforderungen vorbildlich. Doch die konzeptionelle Stringenz war vermutlich die Achillesferse des Projekts. Der eindrückliche Brückenschlag über der Stras­se führt zu einem beklemmenden Raum unter der Plattform. Auch wenn in diesem riesigen Dach über der Bushaltestelle Oberlichter die Dunkelheit unterbrechen sollen, so liegt der eigentliche Haupteingang im Schatten und kann keinesfalls mit der Attraktivität der Terrasse mithalten. Zudem hält der Jurybericht fest, dass die Geste des Betondachs wohl über das angestrebte Mass an Sichtbarkeit hinausgeht.

Fein weben mit Kupfer

Auch das drittplatzierte Projekt des Teams um Penzel Valier und Takt Baumanagement schafft einen gros­sen Platz zwischen Bestands- und Neubau. Indem der Neubau ganz von der Pulvermühlestrasse nach Norden abrückt, entsteht eine weite Fläche, um die herum sich die Gebäude zu einem lockeren Campus formen. Die Strasse führt unaufgeregt durch diesen Platz. Zur Gewährleistung der Sicherheit legte das Team besondere Sorgfalt auf die Gestaltung des Stras­senraums. Ein Mittelstreifen und die Bushaltestellen bremsen den Verkehr, um eine sichere Ver­bindung zwischen den Gebäuden zu ermöglichen. Es sind keine Passerellen oder Brücken vorgesehen; die Verbindung erfolgt sehr natürlich und unspektakulär über das Strassenniveau.

Der kompakte und klar geformte Neubau übernimmt die Hauptausrichtung des Bestands mit einer Ost-West-Ausrichtung. Das Gebäude weist einen grossen, exzent­risch angeordneten Innenhof auf, was jeweils eine Raumsicht zur inneren Fassade im Hof und eine zur äusseren Fassade erlaubt. Dank der grösseren Tiefe gegen Westen können im dicht besetzten Grundriss punktuell freiere Bereiche entstehen. In Kombination mit dem begrünten Innenhof bietet das Projekt so attraktive und ruhige Orte zum Hof. In der Vertikalen jedoch hält sich der Neubau zurück. Es gibt nur wenige Bereiche, in denen mehrgeschossige Räume die klare Gliederung der Geschossebenen durchbrechen.

Mit dem Kennwort «Cuprum», lateinisch für Kupfer, schlägt das Team eine inhaltliche Brücke zum Bestandsbau. Dessen Kupferfassade findet einen Widerhall in den PV-Modulen, die den Neubau einkleiden. An umlaufenden Metallrosten montiert ist rund um das Gebäude eine Brüstung aus Solarpaneelen vorgesehen. Sie gliedern das Gebäude in klare Schichten und verleihen der Fassade einen metallischen, fein gewobenen Glanz. Über das Material entsteht so ein sichtbarer Bezug zwischen den beiden Etappen der Fachhochschule Graubünden – und mithin eine subtile Reverenz an den Vorgängerbau.

Jurybericht und Pläne auf competitions.espazium.ch

Preise

1. Rang (Preis 35 000 Fr.) «Partenaris», Team Giuliani Hönger
2. Rang (Preis 25 000 Fr.) «Allmend», ARGE Durisch Nolli Sagl/Caretta Weidmann Generalplaner
3. Rang (Preis 20 000 Fr.) «Cuprum», ARGE Penzel Valier Takt

Weitere Teilnehmende

Annette Gigon/Mike Guyer, Dipl. Arch./Drees & Sommer Schweiz; Bearth & Deplazes Architekten Chur /Morger Partner Architekten Basel; Boltshauser Architekten; E2A Architekten ETH BSA SIA; EM2N | Mathias Müller | Daniel Niggli; Implenia Schweiz; Jan Kinsbergen Architekt Ltd./Bruther; jessenvollen­weider architektur; HRS Real Estate; PenzisBettini. Architekten ETH/SIA/Archipel Generalplanung

SachJury

Dr. Mario Cavigelli, Regierungspräsident, Vorsteher DIEM, Chur (Vorsitz); Prof. Jürg Kessler, Rektor FHGR, Chur; Dr. Gion Lechmann, Amtsleiter, Amt für Höhere Bildung Graubünden, Chur; Urs Marti, Stadtpräsident, Stadt Chur; Arno Arpagaus, Verwaltungsdirektor, FHGR, Chur

FachJury

Markus Dünner, Kantonsbaumeister, HBA, Chur; Christoph Rothenhöfer, Architekt, TBF + Partner, Zürich; Erika Fries, Architektin, huggenbergerfries Architekten, Zürich; Andreas Sonder­egger, Architekt, pool Architekten, Zürich; Martin Bauer, Architekt, Allemann Bauer Eigenmann Architekten, Zürich; Prof. Christian Auer, Studienleiter Architektur, Institut für Bauen im alpinen Raum, FHGR, Chur

Experten / weitere Mitglieder

Gion Darms, Leiter Bauprojektmanagement, HBA, Chur (Ersatz Fachpreisrichter); Orlando Nigg, Rechtsdienst DIEM, Chur (Ersatz Sachpreisrichter); Simona Sgier-Kalbermatten, Projektleiterin Stadtentwicklung, Stadt Chur; Philippe Béguelin, Projektverantwortlicher, SBFI, Bern; Katrin Pfäffli, Büro Preisig Pfäffli Zürich (Nachhaltigkeit/Ökologie); Rinaldo Albertin, Leiter Zentrale Dienste, Services, FHGR; Marco Krättli, Giesserei Chur, (Eigentümer Nachbarliegenschaft); Fritz Ulmann, Coop Immobilien (Eigen­tümervertreter Nachbarliegenschaft); Noëlle Bottoni, Studentische Vertreterin FHGR; Jessica Banholzer, Studentische Vertreterin FHGR; Jürg Rehsteiner, Dienststellenleiter Stadtarchitekt/Siedlungsplaner

Wettbewerbsbegleiter

Rena Wangler, Projektleiterin, HBA, Chur (Organisation); Blauhut, Zürich (Vorprüfung/Moderation); Raumgleiter, Zürich (digitale Moderation)

 

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