Mehr als Aus­lei­he

Neue Bibliothek St. Gallen; Projektwettbewerb im selektiven Verfahren

Eine neue Bibliothek zu bauen scheint heute anachronistisch. Trotzdem planen Stadt und Kanton St. Gallen zusammen mit den Helvetia Versicherungen eine «Public Library». Staab Architekten setzen sich mit einem fünfseitigen Prisma durch, das sich mit dem Bestand verzahnt.

Publikationsdatum
23-09-2021

Die neue Bibliothek von St. Gallen soll weit mehr werden als eine blosse Bücherausleihe. Standort der «Public Library» ist das Haus Union neben dem Marktplatz im Zentrum der Stadt, das im Besitz der Versicherungsge­sell­schaft Helvetia ist. In Partnerschaft mit der Stadt und dem Kanton St. Gallen führt das Konzept die auf drei Standorte verteilte ­Kan­tons- und Stadtbibliothek an einem zentralen Ort zusammen. Das bestehende Gebäude ist ein wichtiges Zeugnis der schweizerischen Architekturgeschichte der 1950er-Jahre. Neben der äusseren Erscheinung sollen auch das Tragwerk und die cha­rakteristischen Bestandteile des Treppenhauses erhalten werden. Der zweigeschossige Nebenflügel ist von gleicher Qualität, kann aber abgebrochen werden, wenn der Erhalt in betrieblicher, ortsbaulicher und finanzieller Hinsicht unverhältnismässig wäre.

Das neue Haus soll eine ­breite Zielgruppe erreichen und sozial verbindend wirken. Mit einem hybriden Bestand aus analogen und digitalen Medien soll es Bedürfnisse wie Unterhaltung, Freizeit, Bildung, Aus­bildung und wissenschaftliches Arbeiten an einem Ort abdecken. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Weiterbildung im Sinn eines «lebenslangen Lernens». Die Bibliothek soll zusätzlich Raum bieten für das Studium his­torischer Dokumente, kulturelle Veranstaltungen und kreatives Arbeiten. Die «Public Library» wird zum Aufenthalts- und Begegnungsort für alle Altersgruppen und alle sozialen Schichten.

Gewünscht ist eine Bibliothek, die sich der Umgebung öffnet und Aussenräume mit einer hohen Aufenthaltsqualität aufweist. Im Innern sind die verschiedenen Räume so anzuordnen, dass Synergien entstehen, ohne den Betrieb der ­unterschiedlichen Nutzungen zu stören. Die verschiedenen Bereiche werden nicht strikt getrennt, sondern sollen fliessend ineinander übergehen. Die Leitidee der Bibliothek, die Grenzen zwischen Unterhaltung, Freizeit, Bildung, Ausbildung und Wissenschaft aufzuheben, soll für alle Besucher und Besucherinnen erlebbar werden.

Die Kosten für die Erneuerung des Union-Gebäudes und die Erweiterung werden auf 50 Mil­lionen Franken geschätzt. Kanton und Stadt St. Gallen haben zusammen mit der Helvetia einen Pro­jektwettbewerb im selektiven Verfahren gemäss der Ordnung für Wettbewerbe SIA 142 ausgeschrieben. Aus den eingegangenen Be­werbungen hat die Jury stattliche 33 Teilnehmende selektioniert, davon fünf Nachwuchsbüros mit geschäftsführenden Personen unter 40 Jahren, deren Büro vor weniger als fünf Jahren gegründet wurde. Die etablierten Büros haben sich durchgesetzt – von den prämierten Projekten stammt keines von einem Nachwuchsbüro. Es gingen 29 Beiträge ein, vier eingeladene Büros haben letztlich nicht am Wettbewerb teil­genommen.

Amalgam

Die Jury empfiehlt den Auftraggebern einstimmig das Projekt «Doppeldecker» von Staab Architekten zur Ausführung. Dabei würdigt sie insbesondere die «städtebauliche Setzung im bestehenden Kontext». Bei der Weiterbearbeitung soll das Raumprogramm gemäss Betriebskonzept optimiert, der hohe Fensteranteil überprüft, das Tragwerk verifiziert und optimiert sowie eine Zertifizierung nach dem Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS) angestrebt werden.

Die Erweiterung des Union-Gebäudes besteht aus einem prä­zise zugeschnittenen, fünfseitigen Prisma. Die polygonale Form nimmt geschickt Bezüge zur Umgebung auf und schafft es, den Neubau re­spektvoll mit dem Bestand zu ver­einen. Der bestehende Flügelbau wird durch einen dreigeschossigen Neubau ersetzt, der den neuen ­Bibliotheksplatz von der Strasse abschirmt und gleichzeitig über eine Gasse mit ihm verbunden ist. Als Lernterrasse für ­Kinderkurse und zum Lesen kann das Dach genutzt werden. Mit Ausnahme der Deckenstirnen ist der Neubau ganz verglast. Das Tragwerk besteht aus drei ­tragenden Kernen für Lift, Treppe und Installationen sowie einer regel­mässigen Stützenreihe entlang der Fassade. Die ­Decken sind als Pilz­decken ausgebildet, die sich zur ­Fassade hin verjüngen. Durch die grosszügigen, doppelgeschossigen Räume entsteht ein Kontinuum, in dem die unterschiedlichen Nutzungen fliessend ineinander übergehen.

Die Eingriffe in das be­stehende Gebäude sind zurückhaltend. Die neuen Nutzungen nehmen Rücksicht auf die eingeschränkte Tragfähigkeit des Bestands. Be­sonders überzeugt der Anschluss an den Neubau mit den geschossigen Räumen und den Galerien, die vielfältige Blickbeziehungen erlauben. Geschossfläche und Gebäudevolumen liegen unter dem Mittelwert aller Projekte. Das sehr kompakte Gebäude dürfte deshalb die vor­gesehenen Investitionskosten einhalten.

Gegensätze

Mit dem Projekt «Guy Montag» von E2A Architekten hat die Jury einen Beitrag mit dem zweiten Rang ausgezeichnet, der fast dieselbe DNA aufweist wie der Entwurf des Siegers. Auch hier ergänzt ein fünf­seitiges Prisma den Bestand. Im Gegensatz zum ersten Preis bleibt der Flügelbau bestehen, er wird ­weder ausgekernt noch unterfangen oder aufgestockt.

Der achtgeschossige Neubau, der den Bestand ergänzt, ist dominant. Mit dem fulminanten Auftakt vom Marktplatz sucht der Entwurf eine Entsprechung zum eher behäbigen Union-Gebäude. Der Spagat von der Vertikale zur Horizontalen gelingt aber nicht ganz. Die Übergänge zwischen Alt und Neu sind ungelenk und überzeugen nicht. Der Innenhof wirkt beengt und ­kapselt sich von der Strasse ab. Die Anlagekosten dürften im Mittel der eingereichten Arbeiten liegen.

Unterirdisch

Ganz anders ist das Konzept des mit dem dritten Preis ausgezeich­neten Beitrags «Platz» der ARGE Itten + Brechühl und Aires Mateus. Hier wird der bestehende Flügel abge­brochen. Die Erweiterung ist vollständig unterirdisch angelegt, dadurch ergibt sich ein weitläufiger Platz mit einer theatralischen Rampe, die zum Eingang im zweiten ­Untergeschoss führt und die Räume im Untergeschoss belichtet. Der Hauptzugang zur neuen Bibliothek wirkt gegenüber dem schlichten Union-Gebäude unangebracht und überinszeniert.

Zudem sind Nutzungen mit hohen Bodenbelastungen im be­stehenden Gebäude untergebracht. Zusammen mit dem zusätzlichen Fluchttreppenhaus, den Aufzugsschächten und der Hilfstreppe im Gebäudekopf sind die Eingriffe in den Bestand erheblich und aus Sicht der Denkmalpflege problematisch. Wegen des hohen Anteils an unterirdischen Volumen dürften die Erstellungskosten über dem Mittel der abgegebenen Projekte liegen.

Raumkontinuum

Der radikale Ansatz des mit dem dritten Preis ausgezeichneten Beitrags «Platz» mit der komplett unterirdischen Erweiterung weist zu viele Defizite im Umgang mit dem Bestand auf und kann als Gesamtkonzept nicht überzeugen. Das Projekt auf dem zweiten Rang von E2A Architekten macht vieles richtig. Doch die Komposition von hohem Turm und bestehender Zeile harmoniert trotz oder wegen des Erhalts des vorhandenen Gebäudeflügels nicht. Die Aussenräume wirken beengt und sind ungenügend mit der Umgebung verbunden. Der zur Weiterbearbeitung empfohlene Beitrag «Doppeldecker» von Staab Architekten setzt sich im High Noon der ­fünfseitigen Prismen klar durch. Die vielfältig nutzbaren Aussenräumen von Gasse und Platz bis zur Terrasse sind gut an die Umgebung angebunden. Der geschmeidige Fluss der Aussenräume setzt sich im Innern als Raumkontinuum fort, das die verschiedenen Zonen virtuos mit­einander über Galerien verschränkt und die Vision der «Public Library» gekonnt in Architektur übersetzt.

Jurybericht und Pläne auf competitions.espazium.ch

Auszeichnungen

1. Rang / 1. Preis: «Doppeldecker»
Staab Architekten, Berlin; ifb frohloff staffa kühl ecker, Berlin; Arup, Berlin; Winkels + Pudlik, Bingen
2. Rang / 2. Preis: «Guy Montag»
E2A Piet Eckert und Wim Eckert Architekten; Neuland Architektur­Landschschaft; Durable Planung und Beratung; Dr. Lüchinger + Meyer Bauingenieure; EBP Schweiz; alle Zürich
3. Rang / 3. Preis: «Platz»
ARGE Itten + Brechbühl, St. Gallen, und Aires Mateus, Lissabon; Ingeni, Zürich; Appert Zwahlen Partner, Cham; eicher + pauli, Liestal; Bartenbach, Aldrans (A)
4. Rang / 4. Preis: «Otmar»
Ortner & Ortner Baukunst, Berlin; RSP Remmel + Sattler Ingenieur­gesellschaft, Frankfurt am Main; Gruner Gruneko, Basel  
5. Rang / 5. Preis: «Pyrit»
Max Dudler, Zürich; Vetschparnter Landschaftsarchitekten, Zürich, Freiraum Baumanagement, Zürich; Bänziger Partner, Chur; Vadea, St. Gallen; IBG Engineering, St. Gallen; Kopitsis Bauphysik, Wohlen

FachJury

Michael Fischer, Kantonsbaumeister Kanton St. Gallen (Vorsitz); Hansueli Rechsteiner, Stadtbaumeister Stadt St. Gallen; Sandra Giraudi, Architektin, Lugano; Ingrid Amann, Architektin, München; Andreas Sonderegger, Architekt, Zürich; Norbert Diezinger, Architekt, Eichstätt; Bernhard Furrer, Architekt, Bern; Johannes Brunner, Architekt, Balzers (Ersatz); Jürg Kellenberger, Leiter Immobilien, Kanton St. Gallen Hochbauamt (Ersatz); Florian Kessler, Leiter Stadtplanung Stadt St. Gallen (Ersatz); Thomas Bürkle, Leiter Projektentwicklung, Kanton St. Gallen Hochbauamt (Ersatz)

SachJury

Susanne Hartmann, Vorsteherin Baudepartement, Kanton St. Gallen; Laura Bucher, Vorsteherin Departement des Innern, Kanton St. Gallen; Maria Pappa, Stadtpräsidentin, Direktion Inneres und Finanzen, Stadt St. Gallen; Markus Buschor, Direktion Planung und Bau, Stadt St. Gallen; André Keller, CIO, Mitglied der Konzernleitung Helvetia; Benno Flury, Leiter Portfolio Management Immobilien Helvetia; Thomas Egli, Leiter Immobilien­projekte Ost, Helvetia (Ersatz); Katrin Meier, Leiterin Amt für Kultur, Kanton St. Gallen (Ersatz)

Verwandte Beiträge