Low­tech von ges­tern für mor­gen?

Andrea Rüedi realisiert seit den 1990er-Jahren Bauten mit solarem Direktgewinn, die weitgehend ohne Heizung auskommen, aber nicht ohne sensible Bewohner. Wie lebt es sich in einem bewohnbaren Kraftwerk? Ein Ortstermin in Graubünden aus Anlass der aktuellen Lowtech-Begeisterung.

Publikationsdatum
17-11-2021

Solarhäuser, Trin, 1994

Würdevoll ergraut sind die beiden Bauten oberhalb von Trin. Gut zwei Jahrzehnte Sonne und Regen haben ihre Aussenhaut aus Lärchenholz schwarz gegerbt, die vertikale Lattung findet ­Parallelen in hellgrauen Wasserspuren. Mit den Bauten habe er «das Ökologische in die Architektur bringen» wollen, erinnert sich Andrea Rüedi. Ökologie und Architektur, das waren in den 1990ern also Gegensätze. Um die Ästheten unter den Architekten nicht abzuschrecken, verzichtete Rüedi eigens auf ein zunächst angedachtes Gründach. 

Doch verdankt sich die Form der Bauten nicht formalen Motiven, sondern den Grundsätzen der Architektur mit solarem Direktgewinn. Diese Swiss Box fängt die Sonnenenergie ein. Um die Wärme im Innern zu behalten und längerfristig nutzen zu können, bedarf es eines umfangreichen Speichers. Der direkt besonnte Fussboden aus dunkel eingefärbtem Beton und auf indirekte Weise die Wände und Decken, die die Wärme aus der erhitzten Luft aufnehmen. Maximierte Oberflächen und Masse bestimmen die Konstruktion: Wände aus hellgrauem Kalksandstein, Decken aus eng beieinander stehenden Holzbalken, darüber drei Lagen Kalksandsteine und zuletzt der den Fussboden bildende dunkle Beton. Insgesamt ergibt das einen Deckenaufbau von satten 87 cm.

Die Schichten der Decke sind offen belassen und sichtbar: ein Manifest, das sich gleich nach Betreten des Bauwerks auf halber Höhe zwischen beiden Etagen zeigt. Und zugleich ein Garant, dass die gespeicherte Energie den Bau auch dann noch bei Temperatur hält, wenn die Sonne sich im Winter mal rar macht. Bis zu fünf Schlechtwettertage kann der insgesamt stolze 221 Tonnen wiegende Speicher überbrücken, wenn er voll aufgeladen ist mit Sonnenwärme. Dafür muss er zwei bis drei Tage dem Sonnenlicht ausgesetzt sein. 

Riten des modernen Sonnenkults

Funktionieren kann das aber nur, wenn die Nutzer tun, was der Architekt ihnen sagt. Das klingt ziemlich autoritär – erweist sich aber eher als nüchterne Einweisung in einen modernen Sonnenkult: «Sonnenschein ungehindert eindringen lassen, geringe Bodenbedeckung, relativ hohe Raumlufttemperaturen zulassen» (d. h. bis zu 25 °C im Winter) und umgekehrt bei schlechtem Wetter «nur bewusstes, kurzes Lüften».

Die ersten Bewohner des Bauwerks waren die Eltern des Architekten. Muss man zur Familie des Entwerfers gehören, um das Kleinkraftwerk Solarbau bedienen zu können? Die heutige Besitzerin ist nicht verwandt; sie hat den Bau 2008 gemeinsam mit ihrem Mann gekauft. «Die Bedienung der Maschine ist sehr einfach: Man macht das Fenster auf und zu.» In einem «Prototypen» zu wohnen, finde sie toll, auch wenn das nicht ausschlaggebend gewesen sei für den Kauf des Hauses. 

Wenn es zu kalt wird: Ofen oder Gäste

Als sie einzogen, im Oktober, habe es bald zu schneien begonnen. Das knappe Stosslüften im Winter, das sei neu gewesen. Aber sie hätten sich schnell daran gewöhnt. Doch «wenns lang nicht schön ist, kommts an die Grenze. Dann stellen wir den Elektroofen an. Ein kleines Ding. Das holen wir ab und zu aus dem Keller hoch. Am besten aber ist es, wenn mehrere Leute da sind.» Das sei die sympathischere Form des Heizens.

Die ausgesucht spartanische Aufgeräumtheit verdanke sich auch nicht der Vorgabe, den Sonneneinfall nicht zu behindern, sondern dem Zufall, dass der Kauf des Hauses in Trin mit der Auf­lösung einer kleinen Stadtwohnung zusammengefallen sei, deren wenige Möbel dann hierher umzogen. Und sie ist überzeugt: «Die Räume vertragen viele unterschiedliche Stile.»

Baustoffhandel Gasser, Haldenstein, 1999 

Josias Gasser ist ein «Patron» alten Stils, doch mit innovativen Zielen. Zum Termin mit dem Journalisten kommt er eigens aus einer Reha und führt auf Krücken durch den Bau, als sei er selbst angetrieben und beseelt von der darin gespeicherten Energie.

Man merkt sofort, dass es sich um einen Bau desselben Architekten wie des Wohnhauses in Trin handelt: Auch hier die grossen stehenden Fensterformate der Südfassade, ähnliche ausgreifende Markisen, eine vertikale Holzlattung, und im Innern wieder Kalksandstein und die eng neben­einandergereihten Holzunterzüge.

Die Automatik und der Chef

Der Sprung im Massstab aber und die Bauaufgabe eines Bürohauses in Kombination mit einem etwa vier mal so viel Grundfläche einnehmenden Lager bedeuten eine gewisse Automatisierung im Betrieb des Gebäudes. Der Architekt wollte gar keine Lüftung einbauen, aber er habe darauf bestanden, erzählt Gasser und deutet zu den sichtbar von den Decken abgehängten Metallrohren. Ausserdem fahren die äusseren Storen vor den grossen, nach Osten und Westen ausgerichteten Bürofenstern automatisch hinab, und auch die Markise der Südfassade steuert eine Automatik – «und der Chef», wie eine Mitarbeiterin augenzwinkernd hinzufügt; da könnten nicht alle eingreifen. Nach wie vor aber erfordere der Bau, «dass man ein bisschen mitmacht», sagt sie. Zu grosse Hitze sei eher das Problem als Kälte, und die grösste Herausforderung das Austarieren von Innentemperatur und Speicheraufnahme in den Übergangsjahreszeiten Frühling und Herbst, wenn der Sonnenstand nicht eindeutig ist und die Aussentemperaturen stark schwanken.

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Über die Jahre zeigte es sich, dass es für den Eingangsbereich im Erdgeschoss des Gebäudes doch einen Restbedarf an Heizenergie gab. Deshalb ist vor drei Jahren eine Anlage mit einer Leistung von 9 kW installiert worden, die die Abluft aus dem mittlerweile sehr gewachsenen und kühlungsbedürftigen Serverraum in Wandheizkörper im Erdgeschoss leitet und auch zur Warmwasserbereitung dient. Zudem steht im hinteren Erdgeschossbereich ein Pelletofen.

Schulhaus, Masein, 2018 

Ehrlich gesagt, vor der Anfrage habe sie gar nicht gewusst, dass das ein Solarbau sei. Das Eingeständnis einer Lehrerin, die in dem 2018 eröffneten neuen Abschnitt der Schule von Masein unterrichtet, offenbart, dass es sich dabei um kein gebautes Manifest zur Solararchitektur handelt, im Gegensatz zu den Bauten in Trin und Haldenstein, die deutlichere Statements abgeben. Der Bau mit zwei neuen Klassenzimmern ist einfach eine zeitgenössische Erweiterung der Dorfschule in der kleinen Gemeinde oberhalb von Thusis. Architekt ist Ueli Soom aus dem Ort gemeinsam mit Andrea Rüedi. 

Storen zu und Licht an

«Der Normalfall in einem Schulhaus ist: Storen zu und Licht an», erläutert Rüedi. Das wollten die Architekten hier vermeiden. Der Bau ist daher mit einer doppelten Storenschicht versehen: die äussere gegen Überhitzung im Sommer, die innere gegen Blendung im Winter. Sind die inneren Storen unten, kann immer noch Sonne durch die Scheiben ins Gebäudeinnere dringen und die Bauteile – die Decke besteht auch hier aus einem Holz-Beton-Verbundsystem – aufheizen. Eine horizontale Stellung der Storen erlaubt zudem den Ausblick und lenkt das einfallende Licht zur Decke um. Damit wird auch die Strahlungsenergie nach oben reflektiert, und zugleich werden die Schülerpulte indirekt belichtet.

Doch die Realität ist oft komplexer als das Licht- und Energiekonzept. An diesem Tag kann das Wetter sich nicht entscheiden zwischen Spätsommer und Herbst. Das verwirrt offenbar auch die Automatik. Beim Besuch im Klassenraum ist es bewölkt, doch die Storen sind zu, das Licht ist an. Die Storen seien oft geschlossen am Morgen, berichten die Lehrerinnen, denn die weit verglaste Breitseite der Klassenzimmer öffnet sich nach Osten auf die Morgensonne. Zwar könnte die theoretisch ihren Weg auf die Pulte der Kinder finden, aber in der Praxis macht die Automatik dicht. Und doch sind sich alle einig, dass die neuen Klassenzimmer «warm» seien, in mehrfacher Hinsicht. Die Kinder sitzen gemütlich im Kreis auf dem Boden, es sei «uu aagneem».

Sonnensegler in die Zukunft

Befragt, weshalb die Architektur mit solarem Direktgewinn in den 1990er-Jahren nicht sofort mehr Anhänger und längst eine viel grössere Resonanz gefunden habe, ist sich Andrea Rüedi nicht sicher. «Die Leute haben Angst davor, keine Heizung zu haben», glaubt er. Auch die Erfahrung zeigt, dass der Begriff «Nullheizenergiehaus» streng ­genommen ein Euphemismus ist: In Trin holen die ­heutigen Bewohner an besonders kalten Tagen einen mobilen Elektroofen hervor. Der Gasser-Bau wurde im Eingangsbereich mit Wandheizkörpern und einem Pelletofen nachgerüstet.

In Masein haben die Entwerfer gelernt. Der Bau deklariert nicht mehr mit manifestartiger Deutlichkeit, dass er keine Heizenergie braucht. Am hinteren Ende der Klassenzimmer ist ein kleiner Heizkörper eingebaut, um gegebenenfalls nachhelfen zu können. Im Vergleich zu Trin und Haldenstein aber vermisst man ein wenig die auch ästhetisch faszinierende Entschiedenheit.

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Nicht zuletzt aber zeigen Rüedis Bauten: Engagierte Architektur erfordert nicht allein engagierte ­Architekten, sondern auch engagierte Bauherren und Nutzer. Es bedarf einer gewissen Empathie und Identifikation – wie sie Gassers Unternehmen auszeichnet und wie sie auch für eine Schule nicht zuletzt wegen ihres didaktischen Nebeneffekts durchaus denkbar wäre. Wenn man dem Klimawandel im eigenen Haus und auf der Erde begegnen kann, indem man bisweilen ein Fenster öffnet oder eine Markise hinunterkurbelt, indem man auf Haus und Wetter achtet, ein wenig wie ein routinierter Skipper auf Boot und Wind, dann sollten wir in der Lage sein, in eine Lowtech-Zukunft zu segeln. Die eine lange Geschichte hat.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 37/2021 «Energie aus Tageslicht».

Literatur

Andrea Rüedi, Peter Schürch und Jörg Watter: Solararchitektur. Häuser mit solarem Direktgewinn, Hg.: FHNW, Institut Energie am Bau, 2016, kostenloser Download

 

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