«Das Kon­strukt soll sich be­we­gen dür­fen»

Am MonViso Institut im Piemont experimentieren Tobias Luthe und sein Team mit «Systemischem Regenerativem Design», das zirkuläre und revitalisierende Systeme nach dem Vorbild der Natur schafft und sie sozial, ökonomisch und ökologisch verknüpft.

Publikationsdatum
04-06-2021

TEC21: Herr Luthe, wie definieren Sie Kreislaufwirtschaft als Teil von systemischem Design?

Tobias Luthe: Generell sind kreislaufwirtschaftliche Systeme so verknüpft, dass kein Abfall entsteht. So wie in der Natur – der Output eines Prozesses ist der Input eines neuen Prozesses. Doch das genügt nicht. Es müssen Mehrwerte da­rüber hinaus generiert werden. Kreislaufwirtschaft hat nach aktuellem Forschungsstand mehrere Währungen: Neben Material ist das CO2 im Kreislauf zu halten. Hanf zum Beispiel speichert deutlich mehr CO2 pro m3 als Holz, da es schneller wächst. Eine andere betrifft das Wasser: Primär wird bei uns am Institut Regenwasser genutzt; das Grauwasser geht nicht in die Kläranlage, sondern wird am Haus für das WC rezykliert und am Ende biologisch aufbereitet dem Ökosystem zugeführt. Eine weitere Währung ist die ökonomische Zirkularität – die meines Erachtens spannendste ist die Sozialzirkularität.

Weshalb ist die so interessant?

Zum Beispiel im Tourismus wurden Kreisläufe bisher wenig beachtet. Sie werden auf Abfälle in der Gastronomie und den Beherbergungsbetrieben reduziert. Aber Tourismus ist vor allem eine Serviceindustrie, und da kommt die soziale Zirkularität dazu. Gäste nutzen die touristische Leistungskette von Anreise, Restaurant, Hotel zu Skiliften – das ist Standard.

Wenn ich zirkulär denke, schaffe ich neue Möglichkeiten als synergistische Mehrfachnutzung. Ein Beispiel wäre ein Schreiner, der baut ein Arvenholzbett für ein Hotel, und damit ist sein Auftrag abgeschlossen. Denkt man aber, dass die Gäste das Arvenholz riechen, dann legt man ihnen eine Mitteilung ins Zimmer: «Arvenduft beruhigt Ihr respiratorisches System. Wir bieten eine Tour in den Arvenwald mit dem Förster und einen Kurs beim Schreiner, um ein Schneidbrett aus Arve zu machen.» Sofort hat man den Tourismus zirkulär mit anderen Ökonomiesektoren verknüpft und soziale Kreisläufe geschaffen.

Sie experimentieren in einem Bergdorf mit systemischem Design und Kreislaufwirtschaft als Teil davon – wie kann man auf den Kontext grosser Städte schliessen?

Was wir im Campus und mit der Gemeinde Ostana im Po-Tal machen, hat den Vorteil, dass Komplexität reduziert wird, um damit effektiver experimentieren können. Es ist sinnvoll, dies im kleinen Umfeld zu tun, weil die Einflussgrössen zwar die gleichen sind wie in Städten, gleichzeitig aber die Skalierung über die Systemgrenzen reduziert wird. Das macht das Vorgehen übertragbar in grössere und komplexere Umgebungen.

Mehr zum Thema: Am MonViso Institut im Piemont experimentiert eine Gruppe um Professor Tobias Luthe mit ­systemischer Innovation wie der Umsetzung einer bioregionalen ­Kreislaufwirtschaft. Dazu gehört auch die Wiederbelebung von Hanf.

Was meinen Sie mit Skalierungen?

Im systemischen Design komplexer Systeme arbeiten wir mit acht Skalen: Green Chemistry, Rohmaterialien, Produkte, Bauten, Gemeinschaften wie Städte, Dienstleistungen, dann Landschaften und Bioregionen. Letztere sind auf transnationaler Skala über die aus systemischer Sicht irrelevanten Nationalgrenzen hinweg vernetzt. Diese Bioregionen sind zum Beispiel durch einen Fluss, eine Küste, ein Gebirge oder kulturell durch eine Sprache verbunden. Sie sind für die Ressourcennutzung und aus kultureller Sicht zentral. Die Skalen betrachten wir bei jeder Entscheidung. Wenn man beim Hausbau nur auf die Energieperformance schaut, geht zum Beispiel der hohe graue Fussabdruck von Stahl und Glas vergessen. Man muss sich also überlegen, woher die Materialien kommen – und die Lieferkette primär regional entwickeln, dabei aber auch die globale Vernetzung bedenken. Oder bei Holzbauten muss man auch über die Skala Green Chemistry nachdenken. Systemisches Design bietet die Möglichkeit, zu verstehen, wo man sich mit seinem Entscheidungsfokus und dessen Auswirkungen befindet.

Mehr zum Thema Kreislaufwirtschaft finden Sie in unserem E-Dossier.

Konkret – die schwere Dreifachverglasung am Passivhaus Doppio musste hierher- transportiert werden. Wie ist das ins System eingebettet?

Ein Passivfenster mit beschichteter Dreifachverglasung ist energieintensiv. Da muss die Produktion einen Break-even-Point haben, der durch die bessere Energieperformance des Hauses bald eingespart wird – eine Frage der Ökobilanz. Das hängt davon ab, wie viel wie weit transportiert wird und wie grün der Strom ist usw. Das Fenster ist in Italien produziert, die Beschichtung in Deutschland und das Kastanienholz für die Rahmen ist lokal. Dies, um PVC oder Aluminium zu ersetzen, den grauen Fussabdruck zu verringern, aber auch, um regionale Wirtschaftskreisläufe zu entwickeln. Diesbezüglich ist es wichtig, soziale Wirkungen wie Bildungseffekte zu betrachten. Wir wollen resilientere Systeme entwickeln und die Region stärken. An der Einweihung des «Doppio» im Januar 2019, bei –10 Grad, kamen die Leute ins Haus und waren erstaunt, dass wir 22 Grad hatten, mittels Passivdesign, ohne Heizung. Die traditionellen Steinhäuser hier sind ganzjährig kühl und feucht und müssen intensiv beheizt werden. Sie verstanden so unsere Arbeit. Wir investieren mehr – und haben dann keine Heizkosten sowie langfristig eine deutlich bessere Klimabilanz.

Gibt es noch andere Beispiele, wie Sie das MonViso Institut mit der Lokalkultur verknüpft haben?

Ja, da ist die CO2-optimierte Beton­platte. Der Grenoble-Zement auf Basis von hydraulischem Kalk härtet in 15 bis 20 Minuten ab. Man kann daher keinen Betonmischer bestellen, der ein paar Tonnen hinkippt, sondern es braucht neue Lösungen. Die lokale Baufirma Valle dell’Eco mit ihrem Chef Enrico Crespo überlegte mit uns, wie dieser Beton vorgemischt und zum Haus gebracht werden kann. Enrico passte eine Maschine an, um vor Ort zu mischen, und wir streckten den Zement mit Zitronensäure, was die Aushärtung auf 45 Min. verlän­gerte. Das war für alle neu. Ein anderes Beispiel war ein öffentlicher «Design Talk» über regenerative Hanfsysteme mit dem Hanfspezialisten Werner Schönthaler. Das war ein Tag mit den Leuten von Ostana, die dieses Wissen in ihr Umfeld weitertragen. Es gibt auch konkrete Nachfragen wie die nach den PV-Zellen für unser Dach, die wir mit der Schweizer Firma Sunstyle entwickelt haben. Sie sind den Steinplatten auf den traditionellen Dächern ähnlich. Solche «Tools for Change» kann man auch in anderen Systemen wie Future Cities anwenden.

Weshalb arbeiten Sie mit Institutionen wie Universitäten zusammen?

Die Systeme werden immer komplexer und wandeln sich schneller. Wenn wir die Probleme darin lösen wollen, müssen wir sie systemisch angehen. Das kann keine Einzeldisziplin leisten, sondern das muss prozesshaft geschehen, das Konstrukt soll sich bewegen dürfen. Hochschulen sind dagegen in Departemente und Institute organisiert. Wir werden oft gefragt, worauf sich unser Fokus richtet: auf Tourismus oder Architektur? Die Antwort ist: Es ist die Inklusion der Systeme mit disziplinärer Tiefe.

Wenn wir für etwas nicht genügend Kompetenz haben, dann bilden wir Partnerschaften. Während meiner beruflichen Laufbahn ist mir klar geworden, wie wichtig solche Realwelt-Komponenten für Hoch­schulen sind. Denn zur Vorbereitung zukünftiger Führungskräfte reicht es nicht, zwei Jahre an einem Projekt beteiligt zu sein, es braucht Langzeitmodelle. Unsere Partner erhalten diesen Realwelt-Kontext zwischen Design, Forschung und Transformation, den sie selbst nur schwer abbilden können. Wir haben Kollaborationen mit dem Politecnico di Torino oder dem Collegio Einaudi in Turin. Mit der ETH Zürich gibt es Summer Schools. Auch sind wir an einem ETH-Forschungsprojekt mit der Innosuisse zu Hanfkomposit-Baumaterialien beteiligt. Zudem arbeiten wir mit der Oslo School of Architecture and Design in Norwegen an der Übertragung unseres Projekts in den norwegischen Kontext.

Entstanden im Auftrag des Bundesamts für Umwelt sind bei espazium – Der Verlag für Baukultur folgende Sonderhefte zur Kreislaufwirtschaft erschienen:

 

Nr. 1/2021: «Zirkuläre Architektur: Bauten, Konzepte und Zukunftsstrategien»

Die Artikel dieser Ausgabe und weitere Beiträge zum Thema finden Sie in unserem digitalen Dossier «Kreislaufwirtschaft».

Verwandte Beiträge