Ein ro­tes Tüp­fel­chen auf dem i

Das ehemalige Sulzerareal in Winterthur ist Standort einer behutsamen Transformation. Einige Industriebauten werden punktuell um- und weitergebaut oder nur repariert. Nun hat das Baubüro in situ die Halle 118 mit gebrauchten Bauteilen aufgestockt.

Publikationsdatum
04-06-2021

Es wurde gezimmert, geschraubt und gebaut wie auf vielen Baustellen landauf und landab. Doch statt dabei den üblichen Abfall zu erzeugen, genügte eine einzige Mulde vor Ort. Am Westrand des Sulzerareals in Winterthur praktizierten Handwerker das Gegenteil der Wegwerfgesellschaft: Sie haben in den letzten Monaten eine ehemalige Industriehalle zum Atelierturm umgebaut – mit möglichst wenig ­neuem Roh- und Baustoff. Was sich als neuer Kopfbau über dem massiven Mauerwerk eines mehr als hundert Jahre alten Gebäudes erhebt, war schon einmal in Wohn-, Büro- oder Gewerbehäusern andernorts verbaut.

Die rote Fassade ist ein auffallendes Merkmal der Aufstockung und das Wahrzeichen dieser Recyclingidee: Die gewellten Aluplatten waren zuvor die schützende Hülle einer Druckerei in Oberwinterthur.

Vorhandenes verwendet

Die Stiftung Abendrot gab als Eigen­tümerin der Immobilie ein solches Kreislaufexperiment in Auftrag. Für die Aufstockung des dreistöckigen Kopfbaus sollte vor allem Vorhandenes verbaut werden. Was üblicherweise der Baustoffmarkt an hochwertigen Werkstoffen für Konstruktion, Hülle und Innenausbau bereithält, war vom Basler Baubüro in situ sonst wie zu organisieren.

Fündig wurden die Architekten dort, wo Altes Neuem weichen muss. Abbruchobjekte wurden nach funktionstüchtigem Baumaterial durchforstet: Nicht nur die Fassade, sondern auch Stützen, Wände, Treppen sowie einige Komponenten für den Innenausbau und die Haustechnik wurden vor dem Abbruchhammer gerettet. Gemäss Co-Projektleiter Marc Angst fand man viel Weiterverwendbares in Winterthur und Umgebung.

Einige Fenster waren zuvor auf dem Sulzerareal selbst, an stadtbildprägender Lage, im Einsatz. Die Radiatoren des aufgestockten Atelierhauses beheizten früher eine Genossenschaftssiedlung in Sichtdistanz; auch die Riemenböden aus Massivholz stammen von dort. Und weil der Ersatzneubau in Zürich West populär ist, erfolgte die Anlieferung weiterer unversehrter Fenster, geschliffener Marmorplatten und der aussen liegenden Treppe auf ebenso kurzen Wegen. Ihr zweites Leben in Winterthur beginnen auch eine PV-Anlage und ein Trapezblechdach, Letzteres als Blindschalung der Zwischendecken aus Recyclingbeton.

Das tragende Stahlskelett der Aufstockung war einst ein Warenlager in Basel. Derweil trennen Holzwände die Atelierräume ab, deren Erstzweck temporären Bühnen und Pavillons zugedacht war. Auch Kabeltrassen, ein Elektroverteilkasten und das Lüftungsgerät sind statt Recyclingware nun Güter zur 1 : 1-Weiterverwendung.

Goldgruben für Bauteiljäger

Bauen nach dem Re-use-Prinzip geht offenbar einfacher als gedacht. Das Angebot an einwandfrei funktionierenden Bauteilen sei gross, bestätigt Angst. Vor allem Bürobauten von Banken oder Finanzdienstleistern seien Goldgruben an hochwertigen Baumaterialien, die «sofern einfach demontierbar» ein reichhaltiges Second-Life-Arsenal bilden.

Neuartig ist die Jagd nach solchen Bauteilen: Beginne die Suche frühzeitig, «lässt sich das Gewünschte fast immer finden», so Angst. «Gemessen am Gesamtvolumen ist die Halle 118 zu mehr als der Hälfte aus Re-use-Materialien gebaut.»

Allerdings verursacht das Bauteil-Scouting einen Mehraufwand. Zudem hat die Planung Leerstellen in Kauf zu nehmen, damit allfällige Zufallsfunde verbaut werden können. Selbst das Gegenteil passiert: Eine ­einwandfrei funktionierende Liftanlage wäre bereits organisiert gewesen; «nur mangelnder Wille der dafür Verantwortlichen verhinderte den Wiedereinbau», ergänzt Co-Projektleiter Angst. Dies umfasst auch die Frage nach der Garantie, die die Wiederverwendung verhindert hat.

Ansonsten sind die neuen Teile möglichst kreislaufgerecht: Strohballen aus konventioneller Getreideernte bilden die Warmfassaden der Obergeschosse. Innen sind sie mit Lehm aus einer nahen Baugrube verputzt. Wo möglich, wurde handelsüblicher Recyclingbeton für die massiven Bauteile eingesetzt, etwa für Bohrpfähle, Fundament und Decken.

Konstruktives Geschick gefragt

Gut für das Anwendungsspektrum für Rezyklate, Second-Life-Baustoffe und Baustoffe aus nachwachsenden Rohstoffen ist, wenn sie vorhandene Baustandards und Normen erfüllen. Zum Re-use-Aufwand gehört jedoch dazu, «die Qualitätsnachweise für Sicherheit, Statik oder Energieeffizienz selbst nachzuprüfen und zu dokumentieren», ergänzt Marc Angst.

Nur ausnahmsweise klappte dies nicht, zum Beispiel aus Brandschutzgründen: An sichtbaren Stellen kommt Ortbeton zum Zug, «weil wir so wiederverwendete Stahlträger unverkleidet lassen konnten». Um den strengen Dämmvorschriften gerecht zu werden, half konstruktives Geschick: Schlecht dämmende Fenster fügte man zu einem zweischichtigen Kastensystem zusammen, das ausreichend vor Wärmeverlusten schützt.

Weitere Artikel zum Thema Kreislaufwirtschaft finden Sie in unserem digitalen Dossier.

Die Planungsreihenfolge macht einen weiteren Unterschied zwischen herkömmlicher Gebäudeplanung und Kreislauf­architektur. Weil die Geometrie der gescouteten Bauteile kaum vorhersehbar ist, «beeinflusst das verfügbare Angebot die Gestaltung stärker als beim konventionellen Entwurf», sagt Marc Angst. Den Kopfbau gliedern folglich unterschiedliche Fensterformate. Die Höhe der Obergeschosse gab die verfügbare Aussentreppe vor.

Auch die prominente Fassade zeigt, wie eine Tugend aus Not entsteht: «Da die ­Aluplatten unterschiedliche Wellenprofile aufweisen, haben wir die Aussenhülle bei der Neukomposition geschuppt», so Angst. Grösserer Aufmerksamkeit bedürfen die Anschlüsse von Second-Life-Bauteilen auf jeden Fall. Im Voraus sind tolerantere Verbindungen vorzusehen; und in der Ausführung vor Ort gilt es, ab und zu wie bei einer Altbausanierung zu improvisieren.

Was den architektonischen Ausdruck und das Handwerk betrifft, scheint wenig dem Zufall über­lassen. Aussen wirkt der rote Metallaufsatz sogar derart elegant, dass die Aufstockung ein i-Pünktchen auf die patinierte Indus­triesilhouette setzt. Dem rohen Werkstattcharakter im Innern tun ablesbare Tragstruktur, Aufputzinstallationen und unterschiedliche Fensterformate gut.

Graue Energie sinkt fast auf null

Ist die Aufstockung auch ein ökologischer Gewinn? Und wie viele Ressourcen werden gespart, verglichen mit herkömmlichen Neubauten? Mit dem Architektur-Departement der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften rechnet das Baubüro die CO2-Bilanz seines Werks nach.

Die Resultate zeigen einen im Vergleich zu ökologisch konzipierten Neubauten schmalen Fussabdruck: Dank der umfangreichen Wiederverwendung sinkt der Ausstoss von Treibhausgasen beträchtlich und unterbietet den Zielwert des SIA-Effizienzpfads Energie sogar um 45 %. Was bleibt, sind der kumulierte Energieaufwand für nicht ersetzbare Neumaterialien und die Re-use-Lieferkette. Dazu gehören Demontage, Transport, Lagerung und Aufbereitung ­sowie neuerliche Montage.

Und hierbei gilt: Je einfacher trennbar Bauteile sind, umso besser funktioniert die Kreislaufwirtschaft. Die dreht sich auch für den roten Atelierturm weiter. Seine ungewöhnlichen Zutaten sind derart verschraubt und zusammengefügt, dass das meiste für ein weiteres Leben anderswo zur Verfügung stehen dürfte.

Am Bau Beteiligte

 

Bauherrschaft: Stiftung Abendrot, Basel

 

Architektur und Technologie: Baubüro in situ, Zürich

 

Tragwerksplaner: Oberli Ingenieurbüro, Winterthur

 

Planung Holzbau / Fassade: Josef Kolb, Winterthur

 

Bauphysik: 3D Bauphysik Huth, Glashütten

 

 

Facts & Figures

 

Gebäudevolumen (SIA 416): 5809 m3

 

Geschossfläche (SIA 416): 1534 m2

 

Energie-Standard: SIA 2040

 

Bausumme: CHF 4.9 Mio Grundausbau

Entstanden im Auftrag des Bundesamts für Umwelt sind bei espazium – Der Verlag für Baukultur folgende Sonderhefte zur Kreislaufwirtschaft erschienen:

 

Nr. 1/2021: «Zirkuläre Architektur: Bauten, Konzepte und Zukunftsstrategien»


Die Artikel dieser Ausgabe und weitere Beiträge zum Thema finden Sie in unserem digitalen Dossier «Kreislaufwirtschaft».

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