«Form fol­lows avai­la­bi­li­ty»

Jan Brütting hat am Struc­tural Xploration Lab der EPF Lausanne computerbasierte Methoden entwickelt, um Tragwerke aus wiederverwendeten und neuen Bauteilen zu entwerfen und die Varianten auf ihre Umwelteinwirkungen zu überprüfen.

Publikationsdatum
04-06-2021

TEC21: Herr Brütting, was meinen Sie, wenn Sie vom Paradigmenwechsel im Entwurf sprechen – «form follows availability»?

Jan Brütting: Heute wird immer mehr gebaut und nach wenigen Jahren wieder abgerissen und der Wert der Bauten so nur partiell ausgeschöpft. In diesem Zusammenhang haben wiederverwendete Bauteile grosses Potenzial, die grauen Umwelteinwirkungen1 von Tragstrukturen zu reduzieren, da sie gegenüber neuen Materialien den Energieverbrauch, Emissionen und Abfall reduzieren. Das Prinzip ist im Bauwesen nicht neu, dennoch bedeutet die Anwendung ein Umdenken. Am Institut setzen wir uns mit dem konzeptuellen Tragwerksentwurf auseinander. Da war es naheliegend, sich zu fragen, wie man Tragwerke nach den Kriterien der Kreislaufwirtschaft ent­wickeln kann, sodass Bauteile wiederverwendbar sind, und wie das den Entwurfsprozess beeinflusst. Die Ergebnisse sollen helfen, Umwelteinflüsse zu reduzieren. Wenn man zum Beispiel, statt Stahl zu rezyklieren, die Komponenten als Ganzes wiederverwendet, kann das ökologische und auch ökonomische Vorteile haben. Der Tragwerksentwurf muss Bezug auf die Dimensionen und mechanischen Eigenschaften der verfügbaren Bauteile nehmen. In dem Sinn bedeutet das einen Paradigmenwechsel, und man kann von «form follows availability» sprechen.

Mehr Artikel zum Thema Kreislaufwirtschaft finden Sie in unserem E-Dossier.

Welche Ausgangsfragen führten zum Forschungsprojekt?

Unsere Berechnungsmethoden geben eine Hilfestellung beim Tragwerksentwurf. Sie zeigen zum Beispiel, ob das entworfene Tragwerk mit den verfügbaren Re-use-Elementen gebaut werden kann. Das Programm berechnet, wie vorhandene Bauteile zugeschnitten werden müssen, damit das neue Tragwerk in der gewünschten Geometrie realisierbar ist – und zwar so, dass die Elemente am effizientesten genutzt werden, also zum Beispiel wenig Verschnitt entsteht. Man erfährt auch, ob die Stabkräfte von den Bauteilen auf­genommen werden können. In Zukunft sollen auch Schnittstellen zu Datenplattformen mit Bauteilen entstehen. Solche Methoden gab es vorher noch nicht.

Sie suchen nach dem optimalen Ergebnis mit den Variablen Geometrie, Topologie, Zuschnitt und Menge an Re-use-Teilen?

Genau. Sind die Lasten, die ein neues Tragwerk aufnehmen muss, bekannt und die Elemente aus einem Rückbau erfasst, kann das Programm mit unterschiedlichen Parametern die besten Alternativen berechnen. Man kann zum Beispiel 100 % wiederverwendete Bauteile als Bedingung festlegen und den Verschnitt optimieren oder Re-use und neue Bauteile kombinieren und die Masse des Tragwerks minimieren. Des Weiteren kann die Tragwerks­­geometrie den verfügbaren Bauteillängen angepasst werden. Eine integrierte Lebenszyklusanalyse der Struktur erlaubt die Minimierung der Umweltbelastung. Dabei wird eine Aussage über graue Energie und CO2-Emissionen gemacht. Die Analyse umfasst die Umwelteinwirkungen aus Rückbau und Transport und die der Herstellung nötiger neuer Elemente. Sie schreibt den selektiven Rückbau dem wiederverwendeten Element zu. Um das auszugleichen, wird für neue Elemente der Abbruch und das Schmelzen des Stahlschrotts dem neuen Bauteil zugeordnet.

Für welche Konstruktionen und Materialien lässt sich das Programm anwenden?

Aktuell lassen sich Stabtragwerke berechnen, also Fachwerke und Rahmen, und wir haben vor allem mit Stahl gearbeitet. Das Programm kann aber auch für Holztragwerke angewendet werden. Bei Beton ist es schwieriger, weil die Elemente oft monolithisch verbunden sind oder es sich um Platten handelt. Beton und Flächenelemente haben also weiteres Forschungspotenzial.

Holz ist nicht homogen. Lassen sich die Ergebnisse aus der Studie, die für Stahl gemacht wurde, dennoch auf Holz übertragen?

Für die Berechnungsmethode macht das keinen grossen Unterschied. Wichtig ist, zuerst die Qualität des Materials zu prüfen. Bei Stahl muss man die mechanischen Eigenschaften und die Stahlgüte kennen. Beim Holz muss man vorsichtiger sein und gegebenenfalls bei einigen Elementen zerstörende Prüfungen oder eine Einteilung in die Holzklassen vornehmen. Da stellt sich auch die Frage, wer im Projekt das Risiko übernimmt. Es lässt sich jedoch minimieren, indem man zum Beispiel mit grösseren Sicherheitsfaktoren arbeitet.

Das zieht grössere Dimensionierungen nach sich, und damit braucht man mehr Material?

Die Ausnutzung ist projektabhängig. Die untersuchten Stahlprojekte haben gezeigt, dass die limitierte Verfügbarkeit von Bauteilen zu überdimensionierten Systemen führen kann. Wenn also nicht genügend Elemente mit kleinen Querschnitten vorhanden sind, wird die Konstruktion, verglichen mit dem, was mit neuen Elementen gemacht würde, mehr Material erfordern. Doch wir haben auch die Relation zwischen Masse und Umwelteinwirkungen untersucht. Letztere sind bei einem Tragwerk, das ganz oder teils aus Re-use-Teilen besteht und das zum Beispiel 20 % mehr Masse hat gegenüber einem neuen, immer noch 40 bis 60 % geringer. Die Wiederverwendung zeichnet sich also durch eine signifi­kante Reduktion der grauen Energie und des CO2-Ausstosses aus. Bei Stahltragwerken kommt hinzu: Selbst wenn sie überdimensioniert sind, ist das Eigengewicht verglichen mit den äusseren Lasten klein. Angrenzende Bauteile wie Stützen und Fundamente müssen deshalb nicht zwangsweise auch grösser ausfallen.

Auf welche Bauwerke konnten Sie die Methoden anwenden?

Wir haben einige theoretische Fallstudien an realistischen Bauteilinventaren durchgerechnet. Ein Beispiel war jenes der Stahlträger, die das Baubüro in situ für die Halle 118 verwendete. Wir inventarisierten auch Längen und Querschnitte von Trägern in Strommasten und haben daraus eine Bahnhofshalle konzipiert. Kombiniert mit neuen Standardprofilen gestalteten und berechneten wir Variantentragwerke: Das interaktive Programm zeigt grafisch und rechnerisch, dass an bestimmten Stellen neue Elemente notwendig sind, zum Beispiel, weil die Elemente aus dem Inventar zu kurz oder nicht ausreichend tragfähig sind. Das kann bedeuten, dass 100 % Re-use unmöglich ist oder dass man den Entwurf anpassen muss. Für die geringste Umweltbelastung ist oft eine Kombination aus Alt und Neu die beste Lösung – zum Beispiel dann, wenn es aufwendig ist, Teile aus bestehenden Strukturen auszubauen, können neue sinnvoll sein. Hingegen tragen weite Transportdistanzen nur geringfügig zur Umwelteinwirkung bei.

Lässt sich das Programm bereits in der Praxis anwenden?

Es handelt sich um ein Plug-in für das parametrische CAD-Programm Rhino/Grasshopper, das in den nächsten Monaten fertig wird und dann von jedem frei verwendet werden kann.

Anmerkung
1 Umwelteinwirkungen sind durch menschliches Handeln hervorgerufene stoffliche und strukturelle Eingriffe, die Menschen oder Umwelt beeinflussen. Beispiele sind Immissionen aus Verbrennungsprozessen oder strukturelle Veränderungen von Böden durch Rohstoffgewinnung.

 

Weiterführende Literatur

Entstanden im Auftrag des Bundesamts für Umwelt sind bei espazium – Der Verlag für Baukultur folgende Sonderhefte zur Kreislaufwirtschaft erschienen:

 

Nr. 1/2021: «Zirkuläre Architektur: Bauten, Konzepte und Zukunftsstrategien»

Die Artikel dieser Ausgabe und weitere Beiträge zum Thema finden Sie in unserem digitalen Dossier «Kreislaufwirtschaft».

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