Es fällt ins Au­ge, nicht um

Eine generelle Erdbebenüberprüfung bescheinigte dem Kongresshaus in Biel einen massgeblichen Ertüchtigungsbedarf. In einer anschliessenden detaillierten Untersuchung konnten die Ingenieure von Basler & Hofmann und Mantegani & Wysseier die Diagnose stark relativieren.

Publikationsdatum
13-04-2023
Yves Mondet
Dipl. Bauingenieur, Leiter bauliche Sicherheit

Das Kongresshaus mit Hallenbad in Biel hat längst seinen festen Platz unter den Schweizer Architekturklassikern. Erbaut wurde es in den Jahren 1961 bis 1966 vom Bieler Architekten Max Schlup und dem Nidauer Bauingenieur Robert Schmid nach einem 1956 ausgerichteten Wettbewerb. Beim Hochhaus war zusätzlich das Ingenieurbüro Wilhelm & Walter involviert.

Der monumentale Gebäudekomplex – auch heute noch ein Wahrzeichen der Stadt – besteht aus einem schlanken Bürohochhaus und dem Kongresszentrum mit Mehrzwecksaal und Hallenbad unter einem Dach. Das eindrückliche Hängedach – damals eines der weitgespanntesten seiner Art in Europa – und die Hochhauskonstruktion waren neuartig und verlangten innovative Entwicklungen seitens der Bauingenieure. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts steht das Ensemble unter Denkmalschutz und ist im Kulturgüterschutzinventar als Objekt von nationaler Bedeutung (A-Objekt) gelistet.

Auf generell folgt detailliert

Im Rahmen der Zustandserfassung des Gesamttragwerks des Kongresshauses führte das Ingenieurbüro Mantegani & Wysseier in den Jahren 2014 bis 2016 auch eine generelle Überprüfung der Erdbebensicherheit nach SIA-Merkblatt 2018:2004 durch. Sie erfolgte mit kraftbasierten Finite-Elemente-Berechnungen mit dem Antwortspektrenverfahren an vereinfachten Stabmodellen. Weil die Ausführungspläne nur lückenhaft und Sondierungen gar nicht vorhanden waren, mussten hierfür einige Annahmen getroffen werden. Die generelle Überprüfung zeigte potenzielle Schwachstellen: Die massgebenden Erfüllungsfaktoren von aeff = 0.4 beim Hochhaus und aeff = 0.7 beim Hauptbau waren nicht ausreichend. Gemäss der generellen Überprüfung bestand daher ein potenziell massgeblicher Verstärkungsbedarf.

Bauliche Eingriffe waren aufgrund des Denkmalschutzes jedoch möglichst zu vermeiden. Deshalb entschied die Bauherrschaft in Abstimmung mit der Denkmalpflege, dem Bauingenieur und dem beigezogenen Erdbebenexperten, eine detaillierte Überprüfung nach dem empfohlenen Vorgehen der Norm SIA 269:2011 durchzuführen. Die getroffenen Vereinfachungen und Annahmen sollten verifiziert und der Massnahmen­bedarf konkretisiert werden.

Die Ingenieure von Mantegani & Wysseier zogen Erdbebenspezialisten von Basler & Hofmann als Subplaner hinzu und eruierten ein Vorgehen, um die vertiefte Untersuchung durchzuführen. So konnte eine verfeinerte und aktualisierte Analyse der beiden Gebäude erfolgen.

Hochhaus mit seismischen Schwachstellen

Das Hochhaus besteht aus dem nutzbaren Gebäudeteil (10 m × 27 m) mit Glasfassaden und dazwischenliegendem Erschliessungskern. Daran schliesst der abgesetzte Hochkamin aus Stahlbeton an. Zwei Untergeschosse, 16 oberirdische Geschosse und eine Dachterrasse – teils offen, teils gedeckt – als 17. Geschoss ergeben eine ­Gesamthöhe über Terrain von 55 m. Die Abtragung der vertikalen Schwerelasten erfolgt hauptsächlich über die Stahl-Beton-Verbundstützen an den Längsfassaden, über die Stirnwände, den Erschliessungskern und den Hochkamin aus ­Ortbeton.

In den unteren Geschossen sind Stahlbetondecken, teilweise als Hohlkörperdecken und ab der Decke über dem dritten Geschoss als Stahl-Beton-Verbund­decken ausgeführt. In den Regelgeschossen und im Erdgeschoss spannen die Decken zwischen den Fassadenstützen ohne Zwischenabstützung. Zur Reduktion der Spannweite sind im ersten Untergeschoss Zwischenstützen vorhanden. Im zweiten Untergeschoss fangen Tragwände die vertikalen Stützenlasten ab und leiten sie in die Flachfundation ein.

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Erschliessungskern, Stirnwände und Hoch­kamin tragen zur horizontalen Aussteifung bei. Hochkamin und Kern sind im siebten sowie im 17. Geschoss durch Ortbetonscheiben miteinander verbunden und im gemeinsamen, steifen zweiten Untergeschoss eingespannt. Die aussteifenden Elemente sind im Grundriss leicht unsymmetrisch angeordnet, was bei Erdbeben­einwirkung in Gebäudequerrichtung zu Torsion führt.

Die Stirnwände laufen vertikal nicht durch und sind auf je zwei Stützen des zweiten Obergeschosses abgestellt, was den Abtrag von Horizontallasten unterbricht. Diese erzwungene Umleitung stellt eine konzeptionelle Schwachstelle dar. Die Bewehrungsausbildung und die Anschlüsse zwischen verschiedenen Bauteilen sind in der Regel nicht-duktil ausgebildet, was die Erdbebensicherheit un­günstig beeinflusst und zu konstruktiven Schwachstellen führt.

Die detaillierte rechnerische Untersuchung erfolgte kraftbasiert mit dem Antwortspektrenverfahren an einem detaillierten 3-D-Finite-Elemente-Modell mit Schalen- und Stabelementen (Beton- und Stahlbauteile). Rissbildungen der Stahlbetonelemente bei Erdbeben­einwirkung fanden Berücksichtigung, indem die Steifigkeit der Bauteile unterschiedlich reduziert wurde. Das Modell wurde auf Höhe der Bodenplatte eingespannt gelagert ­angenommen, da im Erdbebenfall die Fundation überdrückt bleibt. Es zeigten sich sechs seismische Schwachstellen S1–S6 mit den jeweiligen Erfüllungsfaktoren aeff (Werte in eckigen Klammern aus der generellen Überprüfung):

  • Die Kernwände auf der Seite des Liftschachts im 1. UG und EG (S1 mit aeff = 1.2 [0.8])
  • Die kurzen Fassadenstützen im 1. UG (S2 mit aeff = 1.0 [0.4])
  • Die Eckstützen im 2. OG unterhalb der Stirnwände (S3 mit aeff = 1.0 [0.7])
  • Die Verbindung der Stirnwände mit den darunterliegenden Eckstützen (S4 mit aeff ≥ 0.9)
  • Die Verbindung Kernwände zu Decke im 2. UG (S5 mit aeff ≥ 0.9)
  • Die Verankerung der Regeldecken des 3. bis 16. Geschosses in die Kernwände (S6 mit aeff = 0.8)

Hauptbau: ein Dach aus Balkenketten

Das Haupttragwerk des ca. 80 m × 40 m messenden Hauptbaus mit 25 m Höhe auf der Nordostseite und 14 m auf der Südwestseite besteht aus dem Hängedach, das in Gebäudelängsrichtung spannt und beidseitig auf riesigen Auflagerböcken gelagert ist. Letztere bestehen aus den vorgespannten Fangeträgern, in denen die Spannkabel des Hängedachs verankert sind, den massiven Ortbeton-Schrägstützen, in die die Fangeträger eingespannt sind, und den Zugstützen. Diese mobilisieren als runde, vorgespannte Betonstützen auf der Nord­ostseite respektive Stahlhohlkastenstützen auf der Südwestseite das zum Knotengleichgewicht erforderliche Gegengewicht aus den Untergeschossen.

34 Betonzugbänder, sogenannte Balkenketten, bilden im Abstand von 1.1 m das Hängedach. Die aneinandergereihten Glieder dieser Balkenketten sind schlaff bewehrte, zwei Meter lange Betonbalken, die vorfabriziert wurden. Sie sind mit durchlaufenden Spannkabeln gegeneinander bzw. gegen die Auflagerböcke gespannt.

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Die Dachverkleidung besteht aus ebenfalls vorfabrizierten Betonplatten, die zwischen den Balkenketten spannen und eine Breite von 50 cm aufweisen. Die konstruktive Verbindung von Balken und Platten erfolgte durch Ergänzung des Plattenbalkenquerschnitts mit Ortbeton und entsprechenden Anschlussbewehrungen. Entlang der ersten bzw. letzten Balkenkette des Hängedachs verlaufen die Dachrandträger. Es sind Ortbetonstreifen mit Brüstungen, die auf der Stahlunterkonstruktion der Fassade liegen und damit statisch nicht zum Hängedach gehören. Diese Trennung ermöglicht es dem Hängedach, sich infolge veränderlicher Last und Temperatur vertikal ungehindert zu verformen.

Schlank und steif kombiniert

Das vorgespannte Betonhängedach ist ein strukturell sehr elegantes Tragwerk, das hohe Schlankheit erfolgreich mit hoher Steifigkeit kombiniert. Die Zugglieder überbrücken die grossen Spannweiten mit hoher ­Materialeffizienz. Die dank Vorspannung überdrückten Betonquerschnitte der Auflagerböcke sorgen für eine Minimierung der Formänderungen trotz variabler ­Einwirkungen.

Die Leichtigkeit der Dachkonstruktion und das hohe Verhältnis von selten auftretenden veränderlichen Lasten (Schnee, kombiniert mit Winddruck, Windsog) zu ständigen Lasten (Eigengewicht, Dachaufbau) sind wichtige, günstige Eigenschaften hinsichtlich der Erdbebensicherheit: geringere Erdbebenträgheitskräfte und höherer, auch für den Erdbebenfall nutzbarer ­Widerstand.

Als horizontale Aussteifung bei Wind- und Erdbebenlasten wirken in Gebäudelängsrichtung die steifen Stabdreiecke der Auflagerböcke. Die Schrägstütze und die Zugstütze sind beide in den Untergeschossen eingespannt und wirken als Fachwerk. Da die Auflagerböcke in den Bemessungssituationen mit Nutzlast, Schnee und Wind horizontal und vertikal belastet werden, stellt die analoge Beanspruchung infolge horizontaler Erdbebeneinwirkung in Gebäudelängsrichtung und aus vertikaler Erdbebeneinwirkung für die Auf­lagerböcke keine Herausforderung dar.

Anders sieht es für die horizontale Erdbeben­einwirkung in Gebäudequerrichtung aus. Diese erzeugt eine relevante Querbeanspruchung der Auflagerböcke, die ansonsten nur noch in geringerer Grösse durch Wind auf die Längsfassaden erzeugt wird. Den Widerstand dagegen können die Auflagerböcke durch Rahmenwirkung von den zwei Schrägstützen mit dem Fangeträger (auf der Seite Konzertsaal verstärkt durch den oberen und seitlichen betonierten Teil vom Schrägdach) er­zeugen. Dabei entsteht u. a. Torsion in den Schrägstützen (infolge nicht orthogonal zueinanderstehenden Hauptachsen von Schrägstützen (Rahmenstütze) und Fangeträger (Rahmenriegel). Insbesondere für die einteiligen, sich nach unten verjüngenden Schrägstützen badseitig ist dies im Erdbebenfall kritisch. Die Schrägstützen erfahren in der Bemessungssituation Erdbeben eine Normalkraft-Biegemoment-Torsions-Beanspruchung. Der badseitige L-förmige Fangeträger wird im Vergleich zur Bemessungssituation mit Nutzlast, Schnee und Wind mit einer höheren Biegung aus seiner Ebene beansprucht.

Die ausführliche Version dieses Artikels und weitere Beiträge zum Thema in TEC21 11/2023 «Öfter als gedacht: Erdbebenertüchtigung denkmalgeschützter Gebäude».

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