Die ewi­ge Bau­stel­le

Auch ein halbes Jahrhundert nach Einführung des Frauenstimmrechts und 40 Jahre nach der Verankerung der Gleichstellung in der Verfassung sind Frauen im Schweizer Bauwesen noch immer unterrepräsentiert. Während die Architekturpionierinnen mit handfesten rechtlichen ­Benachteiligungen zu kämpfen hatten, sind die Hürden auf dem Weg nach oben heute vielschichtiger. Eine Spurensuche.

Publikationsdatum
08-07-2021

So unwahrscheinlich es klingt: Die Schweiz war einst Vorreiterin in Sachen Frauenrechte. Schon 1840 waren Studentinnen an (einigen) Hochschulen hierzulande zum regulären Studium zugelassen, so in Zürich, Bern oder Lausanne. Tatsächlich standen dabei aber keine Gleichheitsgedanken im Vordergrund, sondern, gut helvetisch, ökonomischer Pragmatismus: Die akadamische Bildung hatte noch nicht den hohen Stellenwert wie heute, und die Universitäten brauchten das Studiengeld.

Vor allem Osteuropäerinnen nutzten hierzulande die frühe Gelegenheit zum Studium, denn in den meisten anderen europäischen Staaten war es erst um die Jahrhundertwende so weit. Die Technischen Hochschulen taten sich mit der Zulassung von Frauen fürs Studium noch etwas schwerer. Löbliche Ausnahme: die ETH Zürich. Hier waren Frauen bereits bei der Gründung 1855 zum Studium zugelassen, die erste reguläre Studentin war Nadezda Smeckaja aus Russland, die sich für das Fach Maschinenbau immatrikulierte. Bis die erste Architektin ein ETH-Diplom erhielt, ging dann aber noch ein halbes Jahrhundert ins Land. 1923 schloss Flora Steiger-Crawford (1899–1991) als erste Frau ihr Architekturstudium ab. Die erste Bauingenieurin war sogar noch schneller: Die Ungarin Elsa Diamant hielt bereits vier Jahre vorher ihr Diplom in Händen.

Tatsächlich konnten Frauen damals in der Schweiz zwar studieren, doch durch den Mangel an Mädchengymnasien fehlte vielen schlicht und einfach die Qualifikation dafür. Sie erlangten den Zugang zu den Universitäten meist nur über die Ausbildung an Höheren Töchterschulen und nach individuellen Kämpfen um die Anerkennung ihrer Diplome, über ausländische Bildungsabschlüsse oder über den Einstieg als Gasthörerinnen. Tatsächlich wurde die Gleichstellung im Bildungswesen in der Schweiz erst 1981 in der Verfassung verankert. Heute ist die Anzahl der Maturandinnen deutlich höher als jene der Maturanden (2018: 46.5 % gegenüber 35.5 %).

Wer schreibt die Geschichte?

Immerhin: Juristische Hürden wie der Lehrerinnenzölibat1, die die Berufsausübung von Frauen erschwerten, gehören der Vergangenheit an. Lux Guyer (1898–1955), die erste selbstständige Architektin der Schweiz, musste ihre Baueingaben jeweils noch von ihrem Ehemann gegenzeichnen lassen – um zu gewährleisten, dass sie mit ihren Projekten nicht das Familienvermögen in Schieflage zu bringen gedachte. Dies notabene erst nach ihrer Heirat und nach etlichen Jahren selbstständiger Tätigkeit. Dieses Gesetz war tatsächlich noch bis 1987 in Kraft.2

Berta Rahm (1910–1998) gelangte mit einer Beschwerde wegen Diskriminierung 1965 sogar bis vors Bundesgericht: Die Baubewilligung für ein Projekt in ihrer Heimatstadt Hallau SH war ihr wegen angeblich fehlender planungsrechtlicher Grundlagen verwehrt worden. Kurz danach realisierte ein Bauunternehmer, gleichzeitig der örtliche Baureferent, Projekte auf eben jenem Grundstück. Rahm verlor den Streitfall – zwei der drei Bundesrichter waren gebürtige Schaffhauser und hätten als befangen gegolten, was sie jedoch erst nach abgelaufener Frist erfuhr. Für Rahm, die die Verfahrenskosten tragen musste, bedeuteten die langwierigen Streitereien den Schlusspunkt ihrer Architekturkarriere. Sie zog sich zurück und wurde Verlegerin.

Lux Guyer und Berta Rahm zählen neben Flora Crawford-Steiger, Lisbeth Sachs und Gret Reinhard zu den bekannteren Architektur­pionierinnen der Schweiz. Dies aber erst seit wenigen Jahren, denn «Architekturgeschichte ist ein löchriges Unterfangen. In vielen dieser Lücken schlummern die Werke von Frauen. Den meisten Architekturstudent*innen begegnet bis heute in den Baugeschichtsvorlesungen keine einzige Architektin.»

Was man nicht kennt, das kann man auch nicht wertschätzen. Um die Architektur der Pionierinnen über das Label «Frau» hinaus im Kanon einordnen zu können, muss erst einmal das entsprechende Wissen vorhanden sein. Hier gilt es, jahrzehntelanges Desinteresse aufzuholen.

Studium ja, Beruf vielleicht

Heute liegt die Krux nicht mehr im Zugang zur Ausbildung, was auch die Zahlen der Studierenden der ETH Zürich widerspiegeln. Bis in die 1990er-Jahre lag der Frauenanteil hier im einstelligen Bereich. Seitdem steigt er langsam, aber kontinuierlich an, aktuell beträgt er rund 33 %. Der Zuwachs ist hauptsächlich dem Fach Architektur zuzuschreiben: Hier ist der Anteil der Studentinnen schweizweit seit einigen Jahren fast gleichauf mit jenem ihrer Kommilitonen, 2020 waren rund 48 % der Architekturstudierenden weiblich. Die Zäsur kommt mit der Berufstätigkeit. Von den Architekturstudentinnen, die jedes Jahr ihr Master­studium an der ETH abschliessen, sind nach einem Jahrzehnt nur noch ein Viertel im Beruf – ein Wert deutlich unter jenem der Gesamtwirtschaft (46.5 %). Die meisten Frauen steigen also in jenem Alter aus, in dem die Familiengründung ansteht. Die Gründe sind vielschichtig: Der Beruf erfordert hohe Präsenzzeiten; der Mythos des ewig gestressten, Nächte durcharbeitenden (männlichen) Genies wird weiterhin gepflegt, wie eine Studie der TU München 2017 festhielt. Das verträgt sich nur schlecht mit dem Alltag einer Familie: Kinderbetreuung ist hierzulande teuer und das Angebot nicht überall gut ausgebaut. Der Wohnort kann also zum Karrierekiller werden.

Zur organisatorischen und infrastrukturellen Ebene kommt oft die partnerschaftliche hinzu, wie der aktuelle Schlussbericht der Arbeitsgruppe «Vereinbarkeit von Beruf und Familie» der Schweizerischen Vereinigung der Ingenieurinnen SVIN festhält: «Was hingegen viele MINT-Frauen als Herausforderung ansahen, ist die ungleiche Behandlung von ihnen als Mütter und ihrer Partner als Väter. Viele MINT-Frauen haben Partner, die ebenfalls eine hohe Ausbildung haben […], und [führten] vor der Familiengründung eine gleichberechtigte Partnerschaft […]. Nach der Geburt ändert sich das. Plötzlich wird von den Müttern seitens ihrer Vorgesetzten, seitens der Gesellschaft erwartet, dass sie diejenigen sind, die sich hauptsächlich um die Familie kümmern. Frauen, die es gewohnt sind, in ihrer Ausbildung und ihrem Beruf viel zu leisten […], finden sich plötzlich in einer Situation wieder, in der von ihnen erwartet wird, dass sie beruflich zurückstecken. Gleichzeitig erfahren sie in der Partnerschaft, dass es nicht zu der gleichberechtigten Aufgabenteilung kommt, die vor der Familiengründung als so selbstverständlich angesehen wurde.»

All dies führt dazu, dass in der Schweiz nur 20 % aller Architekturbüros von Frauen geführt werden. Rund 40 % der Architektinnen arbeiten Teilzeit, während es bei den männlichen Kollegen nur 12 % sind. Die strukturelle Diskriminierung von Frauen ist also vor allem eine von Müttern (und betrifft auch Männer, wenn die Betreuung gleichberechtigt auf­geteilt ist).

Loch in der Pipeline

Noch schlimmer ist die Situation an den Hochschulen: Je höher die akademische Karrierestufe, desto tiefer der Frauenanteil. Weder der steigende Anteil von Frauen, die Architektur studieren, noch die wachsende Zahl der Pritzker-Preisträgerinnen vermag etwas daran zu ­ändern, dass der weibliche Nachwuchs hierzulande überproportional oft von der Karriereleiter fällt. Diese sogenannte «Leaky Pipeline» ist an vielen höheren Ausbildungsstätten anzutreffen, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt.

Der Verlust von hochqualifizierten weiblichen Fachleuten ist nicht nur ärgerlich, er macht auch keinen Sinn. «Geschlechterdiskriminierung ist mit Exzellenz unvereinbar», so die Botschaft von Professorin Annette Spiro, damals Vorsteherin des ETH-Departements ­Architektur D-ARCH, an den Parity Talks der ETH 2016. Die Veranstaltungsreihe wurde im selben Jahr erstmals am Departement Architektur organisiert. Der Auslöser: Zwar hatte die Hochschule 2014 endlich Handlungs­bedarf erkannt und den Gender Action Plan GAP ­initiiert, der Gleichstellung auf allen Hierarchiestufen aktiv ­fördern soll. Die Umsetzung obliegt allerdings den ­Departementen und ist freiwillig.

Dementsprechend mager waren die Ergebnisse. Nach einer weiteren Schlusskritik mit rein männlichen Beteiligten beschlossen unzufriedene Assistenten und Studentinnen, sich zu engagieren, und gründeten im Sommer 2015 die ­Parity Group. Dabei sollte auch die ETH Interesse an einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis über alle Hierachiestufen haben. Denn eine diskriminierende Ausfilterung a priori führe zu einem Verlust an Potenzial, den sich keine erstklassige Bildungs­institution leisten könne, so Spiro.

Kennen, um zu können

Fokussieren wir auf das Positive: Heute gibt es tatsächlich ein wachsendes Bewusstsein für die Problematik. Im Gegensatz zu den Zeiten von Berta Rahm lassen sich Strukturen verändern, auch wenn man sich dafür wieder und immer wieder auf die Hinterbeine stellen muss. Die Richtung stimmt also, obwohl es an der Geschwindigkeit noch massiv hapert. Dennoch: Die enormen Anstrengungen, die die Architekturpionierinnen auf sich nehmen mussten, um sich den Vorurteilen und Machtstrukturen in einer männerdominierten Disziplin zu widersetzen, sind heute schwer vorstellbar. Auch deswegen lohnt sich ein genauer Blick auf ihr Leben und Werk. Denn neben interessanter ­Architektur lässt sich von diesen Frauen etwas ganz Handfestes lernen: die eigenen Ambitionen ernst zu nehmen und falsche ­Bescheidenheit hinter sich zu lassen.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 21/2021: «Spurensuche: frühe Architektinnen und ihre Bauten heute».

Anmerkungen

 

1 Der vor allem in Deutschland und Österreich (in der Schweiz im Kanton Zürich bis 1962) geltende Lehrerinnenzölibat verbot Lehrerinnen zu heiraten. Taten sie es dennoch, verloren sie nicht nur ihre Stelle, sondern auch ihre Altersvorsorge.

 

2 Art. 177 Abs. 2 des ZGB, in Kraft bis zum 31.12.1987, lautete: «Rechtsgeschäfte unter Ehegatten, die das eingebrachte Gut der Ehefrau oder das Gemeinschaftsgut betreffen, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Zustimmung der Vormundschaftsbehörde.» 

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