«Et­was ganz Be­son­de­res»

Interview

Aufgrund welcher Kriterien wurde beim Tamina-Wettbewerb das Siegerprojekt ermittelt? Wie wurden diese Kriterien gewichtet, und inwiefern haben sie sich – verglichen mit älteren Brückenwettbewerben – im Laufe der Zeit verändert? Mathis Grenacher, Ingenieur und Jurymitglied, spricht über den Beurteilungsprozess und erläutert, warum sich das Siegerprojekt zu einem Wahrzeichen für die Landschaft entwickeln könnte.

Publikationsdatum
22-06-2017
Revision
22-06-2017

Judit Solt: Die landschaftliche, topografische und geologische Situation in der Taminaschlucht lässt verschiedene Tragwerkskonzepte zu. Entsprechend unterschiedlich sind die eingereichten Vorschläge: Bogen-, Sprengwerk-, Rahmen- und Fachwerkkonstruktionen, über der Fahrbahn liegende Tragwerke. Bei allen vier Projekten der engeren Auswahl handelt es sich aber um Bogenbrücken. Zeichnet sich hier eine ‹richtige› Haltung ab?

Mathis Grenacher: Unter den 24 Abgaben waren alle technisch machbaren Lösungen vertreten. Das haben wir nicht erwartet, weil in einem solchen V-Tal zwei Ansätze gewissermassen auf der Hand lagen: der Bogen und das Sprengwerk. Beide gehen mit grossen horizontalen Kräften einher, doch diese sind an den steilen, auf der einen Seite rutsch-gefährdeten Hängen der Taminaschlucht kein Nachteil, vielmehr tragen sie zur Versteifung bei. Trotzdem waren wir gegenüber allen Ideen offen. Eine nähere Betrachtung hat allerdings gezeigt, dass nur wenige Lösungen wirklich in Frage kamen.

Dass eine Balkenbrücke wegen der riesigen Spannweite in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit und den Bauvorgang ungünstig sein würde, war von vornherein klar. Auch beim Sprengwerk hat sich die Spannweite als Problem erwiesen. Unter den acht Projekten, die im ersten Rundgang ausgewählt wurden, waren immerhin noch zwei Sprengwerkbrücken: Die erste war aus Beton, was der ohnehin gewagten Konstruktion viel Gewicht beschert hätte; die zweite war aus Stahl und daher leichter, doch hier stimmte die Massstäblichkeit nicht. Die Brücke mit annähernd gleich langen Spannweiten konnte keine optische Spannung aufbauen und befriedigte ästhetisch nicht.

Die Nachteile der Hängebrücken waren weniger offensichtlich. Erst in der Diskussion wurden drei wirkliche Probleme deutlich. Erstens vergrössert diese Lösung die Spannweite und damit auch die Kosten, weil man die Pylone – beziehungsweise den einen mindestens nötigen Pylon – wegen der grossen Auflagekräfte nicht in den Steilhang der Schlucht bauen kann, sondern nur weiter draussen in der Ebene. Zweitens gab es technische Schwierigkeiten: Die Kabel, an denen die Brücke hängt, müssen verankert werden; die Verankerung im Untergrund wäre aber aufwendig und teuer gewesen. Es existieren zwar Hängebrücken, die ohne solche Anker auskommen, weil die Kräfte wieder in die Brückenkonstruktion zurückgeführt werden: Diese Selbstverankerung war in diesem Fall aber aus statischen Gründen ausgeschlossen, weil die beiden Enden der Brücke gekrümmt sind. Und drittens sind wir zur Einsicht gelangt, dass eine Hängebrücke an dieser Stelle nicht mit der Forderung nach einer sorgfältigen Einbindung in die Landschaft zu vereinen gewesen wäre. In der engeren Auswahl verblieben schliesslich vier Bogenbrücken – auch das zweitplatzierte Projekt, eine polygonale Bogenbrücke, ist eher einem Bogentragwerk als einem Sprengwerk zuzuordnen.

Judit Solt: Was ist unter ‹sorgfältige Einbindung in die Landschaft› zu verstehen? Gemäss kantonalem Richtplan ist das Gebiet der Taminaschlucht bei Bofel als Lebensraum-Schongebiet für Gämsen ausgeschieden. Im Wettbewerbsprogramm wird daher gefordert: ‹Stark in Erscheinung tretende, den Landschaftscharakter verändernde Bauten sollen vermieden werden.› Was bedeutet das konkret? Ist eine Brücke, die den Landschaftscharakter nicht verändert, überhaupt denkbar? Zudem wird dem Siegerprojekt die Chance attestiert, ein Wahrzeichen für die Gegend zu werden – durchaus im positiven Sinn.

Mathis Grenacher: Die Taminaschlucht ist eine eindrückliche Landschaft, die in ihrer Wirkung auf keinen Fall durch die Brücke ‹konkurrenziert› werden sollte. An einer solchen Stelle soll kein bauliches Zeichen gesetzt werden! Eine Hängebrücke hätte aber eine eigentliche Landmarke dargestellt, der Pylon wäre schon von weitem unübersehbar gewesen. Auch konzeptionell hätte ein solches Tragwerk Fragen aufgeworfen: Wozu erst 100 Meter in die Höhe bauen, wenn unten eine 200 Meter tiefe Schlucht für das Abtragen der Kräfte zur Verfügung steht? Wir wollten kein auffälliges Bauwerk, sondern eines, das sich möglichst selbstverständlich in die Landschaft einfügt und dabei eine besonders gute Gestaltung aufweist. Das trifft auf das Siegerprojekt zu: Es drängt sich nicht mit spektakulären Gesten in den Vordergrund, aber mit seiner Asymmetrie und seinen radialen Stützen ist es doch etwas ganz Besonderes, für die Schweiz vielleicht sogar Einmaliges. Jeder könnte erkennen: Das ist die Brücke über die Taminaschlucht. Das ist mit Wahrzeichen gemeint. Im Übrigen stösst die Asymmetrie nicht nur auf Gegenliebe. Doch sie ist keine formale Spielerei, sondern hat viel mit der Landschaft zu tun: Das Tal ist asymmetrisch, und die Talflanke auf der Valenser Seite ist ein Rutschhang. Von den vier prämierten Projekten sind drei symmetrisch, und sie sind alle drei mehr oder weniger an der gleichen heiklen Stelle im Hang abgestützt. Die Fundation des Siegerprojekts liegt weiter oben und bedeutet vom Baugrund her das kleinste Risiko.

Judit Solt: Gemäss Ausschreibung erfolgte die Beurteilung der Projekte nach folgenden Kriterien: Qualität des Bauwerks in der Nutzungsphase, Wirtschaftlichkeit (Erstellung, Betrieb, Unterhalt), Umweltverträglichkeit, Chancen und Risiken sowie Qualität des Projekts. Unter ‹Qualität› wurden Dauerhaftigkeit, Ästhetik, Funktionstüchtigkeit, konstruktive Ausbildung und Ausführbarkeit subsumiert. Wie wurden diese einzelnen Punkte gewichtet? Welche Minimalanforderungen mussten zwingend erfüllt werden, was galt als ‹nice to have›? Haben diese Anforderungen – im Vergleich mit älteren Brückenwettbewerben – in den letzten Jahrzehnten Veränderungen erfahren?

Mathis Grenacher: Die neuen Tragwerksnormen SIA 260–267 (Swisscodes) regeln, was ein Tragwerk zu leisten hat: Es soll bei einer angemessenen Einpassung, Gestaltung und Zuverlässigkeit vor allem wirtschaftlich, robust und dauerhaft sein. Das Kriterium der Robustheit, das 2003 in die SIA-Norm 260 aufgenommen wurde, ist heute ein wichtiges Thema. Das Risiko, dass das Tragwerk Schaden nimmt oder im Extremfall versagt, soll in einem vertretbaren Verhältnis zur Ursache stehen. Alternative Lastpfade in Tragwerksystemen müssen möglich sein, der sogenannte Dominoeffekt muss verhindert werden. Daneben wird die Dauerhaftigkeit einer Konstruktion speziell beurteilt. Lager und Fahrbahnübergänge zum Beispiel sind mögliche Schwachstellen; sie zu ersetzen ist teuer. Daher werden heute möglichst monolithische Tragwerke angestrebt. Insofern haben sich die Prioritäten etwas verschoben. Ein anderes Beispiel: Wenn wir heute 20, 30 Jahre alte Betonbrücken instandsetzen müssen, sind wir oft mit korrodierten Bewehrungen konfrontiert. Die Überdeckung war nicht ausreichend – doch man darf nicht vergessen, dass damals der gute Ingenieur eine möglichst filigrane Brücke bauen wollte. Heute tendiert man zu dauerhafteren und robusteren Konstruktionen.

Auch die Funktionstüchtigkeit kann unterschiedlich gut gewährleistet sein. Bei einer der Bogenbrücken, die im Wettbewerb vorgeschlagen wurden, ragt der Bogen zwischen den beiden Fahrspuren in die Höhe. Solche Brücken gibt es im Ausland einige, aber die weisen acht bis zwölf Spuren auf. Bei nur einer Spur pro Fahrbahnseite wäre mit Problemen betreffend Fahrsicherheit, Schneeräumung, Unfall- und Pannenversorgung etc. zu rechnen. Hinzu kommt in diesem Fall die starke Beanspruchung durch Chloride beim winterlichen Salzen der Strasse: Tragwerke, die über die Fahrbahn hinausragen, sind dem Spritzwasser ausgesetzt und in Bezug auf die Dauerhaftigkeit besonders gefährdet. So betrachtet sind alle vier in der engeren Auswahl verbliebenen Projekte als sehr gut einzustufen.

Was die Wirtschaftlichkeit betrifft, kann in diesem Projektstadium lediglich die Grössenordnung der Erstellungskosten geschätzt werden – bei einem Vorprojekt sind Abweichungen von bis zu 20 % möglich. Die meisten vorgeschlagenen Brücken kosten zwischen 15 und 20 Millionen. Geringe Mehrkosten wären bei einem Projekt, das allen anderen überlegen ist, wohl kein Hinderungsgrund gewesen, doch alle vier prämierten Projekte lagen im Durchschnitt. Die Betriebs- und Unterhaltskosten waren bei diesen vier sehr ähnlich. Brücken aus wetterfestem Stahl erfordern vergleichbare Unterhaltskosten wie gut konzipierte Betonbrücken. Auch punkto Umweltbelastung waren die Unterschiede minim: Alle Teams haben das Gämsenschongebiet respektiert und auf eine Abstützung auf dem Talgrund verzichtet. Vermutlich war das Schongebiet auch ein Grund dafür, dass sich einige für eine Hängebrücke entschieden haben, die die Talflanken gar nicht tangiert. Aber auch bei den vier prämierten Projekten sind die Eingriffe begrenzt und daher gut vertretbar. In Bezug auf die Risiken gab es geringfügige Unterschiede.

Judit Solt: Mehrere eingereichte Projekte stammen von gemischten Teams, in denen neben Ingenieurinnen und Ingenieuren auch Architektinnen und Architekten vertreten waren.

Mathis Grenacher: Eine solche Zusammenarbeit kann äusserst gewinnbringend sein, und ich freue mich, dass sie heute vermehrt praktiziert wird. Wichtig ist dabei, dass sie in einer möglichst frühen Projektphase beginnt und dass die beteiligten Fachleute ein gewisses Verständnis für das Metier der anderen aufbringen. Das gilt sowohl für den Hochbau, wo die Architekten die Federführung haben, als auch für den Brückenbau, bei dem die Ingenieure die Leitung übernehmen. Ein Ingenieur, der nur gerade die Statik und die Kosten sieht, nützt dem Architekten bei einem Wettbewerb nicht viel: Er sollte bei der Entwicklung des Tragwerkskonzepts in der Lage sein, frühzeitig auf entwurfsrelevante Fragen hinzuweisen, etwa im Bereich der Erdbebensicherung. Umgekehrt sollte bei einem Brückenwettbewerb auch der beteiligte Architekt etwas von Tragwerkslehre verstehen.

Judit Solt: Auch in der Jury des Tamina-Wettbewerbs war mit Andrea Deplazes ein Architekt vertreten. Worin bestand sein Beitrag bei der Entscheidungsfindung?

Mathis Grenacher: Die Zusammenarbeit mit Andrea Deplazes war sehr wertvoll. Er hat nie aus architektonischen Gründen ein Projekt portiert, das aus Ingenieursicht negativ beurteilt wurde, sondern hat sich immer zuerst mit den Argumenten der Ingenieure vertraut gemacht. Es ist ohnehin so, dass das Gesamtkonzept stimmen muss: Eine Brücke, deren Tragstruktur gut konzipiert ist, ist in der Regel auch ästhetisch nicht ganz misslungen, und ein Gestaltungskonzept, das die Tragwerkslehre ausser Acht lässt, kann nie wirklich befriedigen. Ein weiterer Beitrag, den Architektinnen und Architekten als Jurymitglieder bei Ingenieurwettbewerben leisten können, hat mit ihrer Vermittlerfunktion innerhalb des Gremiums zu tun: Als Baufachleute sind sie den Ingenieuren nahe, und sie können mit den beteiligten Laien – etwa politischen Vertretern – kompetent über ästhetische Kriterien debattieren. Das ist nicht zu unterschätzen.

 

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