«Ei­ne Kul­tur des Ab­wä­gens»

Architektur und Städtebau erhalten erstmals Nachhaltigkeitsnoten. Eine externe Fachjury nimmt dazu eine unabhängige Bewertung von SNBS-Projekten vor. Raphael Frei, Mitglied von pool Architekten, war an der Entwicklung beteiligt und erklärt das neuartige Verfahren.

Publikationsdatum
27-09-2018
Revision
02-10-2018
Viola John
Redaktorin TEC21 / Konstruktion und nachhaltiges Bauen

TEC21: Herr Frei, zertifizierte Ökobauten werden oft als unschön beurteilt. Kann der Standard nachhaltiges Bauen Schweiz zur Verbesserung architektonischer Qualitäten (vgl. TEC21 43/2016) beitragen?
Raphael Frei: Das zentrale Anliegen des ­Nachhaltigkeitsstandards SNBS ist, neben den klassischen ökologischen Kriterien nun auch soziale und baukulturelle Aspekte zu berücksichtigen und sie in die Beurteilung eines Gebäudekonzepts zu integrieren. In diesem Sinn ist der Beurteilungsraster um­fassend: Er erkennt und erfasst auch nicht messbare Aspekte, unter anderem soziale und städtebauliche Qualitäten eines Projekts.

TEC21: Was muss ein Projekt leisten, um gute Architektur­noten zu bekommen?
Raphael Frei: Die städtebaulichen und architektonischen Aspekte sind unmittelbarer Teil der gesellschaft­lichen Nachhaltigkeitsdimension: Wie lebendig ist ein Quartier? Wie sind die Gebäude genutzt? Wie ­robust sind die bestehenden Strukturen? Lassen Sie mich dies anhand der geplanten Erneuerung der Grosssiedlung Telli in Aarau erklären, für die der SNBS angewandt werden soll. Um das charakteristische Aussenbild oder die passenden Wohnungsgrundrisse nicht allzu sehr zu verändern, hält man sich bei der Eingriffstiefe zurück. Energetische Verbesserungen an der Gebäudehülle lassen sich gleichwohl er­zielen. Die Beurteilung der bestehenden, gemischten Sockelnutzung und des grosszügigen grünen Aussenraums fällt ebenfalls positiv aus.1 Für die Erneuerung heisst das: Die positiven Bestandseigenschaften sind zu erhalten und allenfalls zu stärken.

TEC21: Aber verspielt man so nicht die Option, verfügbare Raumreserven zu nutzen und Erneuerungsstandorte bei Bedarf zu verdichten?
Raphael Frei: Die Beurteilung nach den SNBS-Kriterien führt eben dazu, dass ein Verdichtungsvorhaben nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch quali­tativ diskutiert wird. Dies entspricht der Strategie des Bundes zur Nachhaltigen Entwicklung, die ein wei­test­mögliches Erhalten des baukulturellen Erbes und seine qualitativ hochstehende Erneuerung ­fordert. Die SNBS-Zertifizierung weitet deshalb den Projek­t­fokus aus, etwa von einer klassischen Energieoptimierung zu anderen sozialen und architek­tonischen Aspekten. Das macht diese Nachhaltigkeitsbewertung für Architekten erst interessant: Sie pflegt die Kultur des Abwägens und fördert das ­Bewusstsein, dass unterschiedliche Aspekte miteinander zu ­verknüpfen sind.

TEC21: Die spezifische Beurteilung der architektonischen und städtebaulichen Qualitäten ist ein neuartiger Bestandteil der Zertifizierung. Wie funktioniert ­dieses Verfahren, zumal es sich um eine Bewertung von schlecht messbaren Eigenschaften handelt?
Raphael Frei: Ein Projekt, das in einem Wettbewerb nach SIA-Regeln ausgewählt worden ist, benötigt kein weiteres Urteil für das Zertifikat. Auch ein vergleichbares Gutachterverfahren ohne SIA-Kriterien wird anerkannt; allerdings werden die Qualität und Unabhängigkeit der Fachjury geprüft. Nur für den Fall eines Direktauftrags findet eine nachträg­liche Begutachtung durch SNBS-Experten statt, die ihrerseits Architekten sind. Die Kriterien sind mehr oder weniger dieselben wie bei Wettbewerbs­jurierungen. Die Bewertung wird schriftlich dokumentiert und mit punktuellen Verbesserungsempfehlungen ergänzt. Sie stellt somit eine unabhängige Qua­litätsbeurteilung und kein Gefälligkeitsgutachten dar.

TEC21: Sind die Experten speziell ausgebildet?
Raphael Frei: Die Zertifizierungsstelle bietet nur Architekten auf, die Erfahrungen als Jurymitglied oder ­Wettbewerbsteilnehmer besitzen. Weitere Kriterien sind eine Mitgliedschaft beim Bund Schweizer Architekten (BSA) oder Bund Schweizer Landschaftsarchitekten (BSLA). Ein Begutachter darf nicht we­niger erfahren sein als die zu beurteilenden Projektverfasser. Erwartet wird auch, dass er sich bei Bedarf einen eigenen Eindruck vor Ort verschaffen kann.

TEC21: Wie gut funktioniert das neue Bewertungssystem?
Raphael Frei: Bei Projekten aus einem Direktauftrag ist die Architektur oft das Resultat von Zwängen und Entscheidungen, die aus dem Prozess heraus begründet sind. Da eine architektonische Beurteilung explizit fehlt, sind hohe Qualitäten nicht zwingend vorauszusetzen. Die bisherigen Einblicke bestätigen dies; ungenügende Noten sind in der ersten Zertifizierungs­runde nicht selten. Die Begutachtung ist zwar sehr streng. Aber Projektverfasser sollen dies nicht so verstehen, dass sie schlechte Arbeit abgeliefert hätten. Die Kritikpunkte setzen vor allem dort an, wo die Pro­jektschwerpunkte das gestalterische Element ver­missen und sich somit verbessern lassen.

TEC21: Wie gehen Projektverfasser damit um?
Raphael Frei: Wir stecken in der Anfangsphase und sammeln weitere Erfahrungen. Eine Schwierigkeit ist, die Dokumentation der Projekte analog zum Wettbewerbs­verfahren mit Plänen und Modellen einzufordern. Unter den Beteiligten ist man jedoch sehr offen, auch für Kritik, zumal sie die Position des Projektverfassers oft stärken kann. Es geht meistens um eine gestal­terische Integration von technischen Konzepten, die Verknüpfung mit sozialen Themen oder schlicht um die räumliche, typologische Qualität von Grundrissen.

TEC21: Wie ist das Echo unter Architekten?
Raphael Frei: Der BSA rührt die Werbetrommel für die Zertifizierung und hofft, dass sich gute und renommierte Architektinnen und Architekten damit aus­einandersetzen. Ein erstes Stimmungsbild ist: ­Der  Standard ist eine sinnvolle Alternative zu Gebäude­labels, die nur eindimensional auf energetische Themen ausgerichtet sind. Der erweiterte Be­urteilungsraster führt solche Einzelaspekte zu einem Ganzen zusammen und ermöglicht ein umfassendes Bild über mögliche Zielkonflikte. Das ist ein willkommener Gegentrend zur aktuellen Fragmentierung: Architekten fällt es schwer, im wachsenden Dschungel aus baulichen Anforderungen und Normen überhaupt noch konsistente Lösungen zu finden.

TEC21: Der Standard will besser sein als die Gesetze. Wie kann er trotzdem zur Verbesserung der Entwurfs­arbeit beitragen?
Raphael Frei: Gegenwärtig verdammen die vielen Anforderungen die Architekten zum Reagieren. In der Pro­jektierung suchen sie oft den jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner des Machbaren und stellen am Ende fest, dass die Kosten steigen. Besser ist aber, die unterschiedlichen Umsetzungsthemen und An­forderungen frühzeitig zusammenzuführen. Der Zertifizierungsprozess und der Bewertungsraster können Ordnung schaffen. So lassen sich Zielkonflikte, Zusammenhänge und Spielräume erkennen, die man sonst nicht entdeckt hätte. Zu Beginn einer Zertifizierung muss daher – aus formalen Gründen – ein Pflichtenheft mit Projektzielen formuliert werden.

TEC21: Stärkt der Standard die Position des Architekten?
Raphael Frei: Das ist eigentlich unser Ziel. Der Architekt kann seine Kompetenzen mithilfe des Bewertungs­rasters erhöhen. Er muss das Wissen zurückholen und darf es nicht vollumfänglich an Spezialisten delegieren. Allein der Informationsgewinn aus einer engen Zusammenarbeit mit andern Fachdisziplinen verbessert seine Verhandlungsbasis gegenüber der Bauträgerschaft und der Behörde. Ohne diesen Wissensvorsprung kann man eigentlich nirgends bauen.

Anmerkung

  1. Muster oder Komposition? Sanierung Telli-Hoch­häuser, wbw 1/2 2018.

Die drei Nachhaltigkeitsdimensionen

Der Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz ist nicht mehr ganz jung (vgl. TEC21 19/2014) und dennoch nur ein zartes Pflänzchen. Vor vier Jahren sind knapp 30 neue Hochbauten mit einem Pilotzertifikat ausgezeichnet worden. Inzwischen ist das Bewertungsverfahren für die Markteinführung fit gemacht worden. Seit 2016 existiert die offizielle Version SNBS 2.0; das Zertifikat konnte seither zweimal vergeben werden. Rund ein Dutzend Projekte stehen aber kurz davor. Der Gebäudestandard bewertet ein umfassendes Themenspektrum, unter anderem den Ressourcenaufwand, wirtschaftliche Aspekte und soziale Anliegen. 45 Qualitätsindikatoren erfassen die drei Bewertungsdimensionen Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft:

  • Umwelt: Primär­energiebedarf und Treibhausgasbilanz bei Erstellung, Betrieb, Mobilität / Abfallentsorgung und -wiederverwertung / Flora und Fauna / Versickerung und Retention
  • Wirtschaft: Lebenszykluskosten / Betriebskonzept / Bauweise, Bauteile, Bausubstanz / Handelbarkeit / Regionale Wertschöpfung
  • Gesellschaft: Städtebau und Architektur / Partizipation / hindernisfreies Bauen / Nutzungsflexibilität / Begegnungsräume (innen und aussen) / subjektive Sicherheit, Wohlbefinden / Raumkomfort.

(Paul Knüsel)

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