«Ein Rä­der­werk al­ler Be­rufs­fach­leu­te ist wich­tig»

Swissbau 2012

An der ersten Swissbau Focus Arena diskutierten Vertreter aus Wirtschaft, Bund und dem Baugewerbe unter der Leitung von Filippo Leutenegger über den Fachkräftemangel in der Schweizer Baubranche und die Aufwertung von handwerklichen Berufen.

Publikationsdatum
18-01-2012
Revision
25-08-2015

Die Baubranche boomt: Die Auftragsbücher sind voll, die Einwohnerzahl der Schweiz nimmt jährlich um etwa 80'000 Personen zu, sodass im Durchschnitt etwa 40'000 neue Wohnungen pro Jahr gebaut werden. Neben dem Bevölkerungswachstum fördern die tiefen Hypothekarzinse diese Entwicklung. Durch den geplanten Atomausstieg und die Förderung von energetischen Sanierungen steigt der Bedarf an energieeffizienten Gebäuden, gleichzeitig erhöht sich damit die Komplexität des Bauens. Das Problem: Der Schweiz fehlt qualifiziertes Personal. Dies führt dazu, dass Fachkräfte aus dem Ausland geholt oder Abstriche in der Bauqualität gemacht werden – gerade bei den praxisnahen Berufen. Auf diesem Hintergrund diskutierten die Teilnehmenden dieser Swissbau Focus Arena. Hauptreferenten waren der neue SIA-Präsident Stefan Cadosch, Daniel Büchel (Vizepräsident Bundesamt für Energie und Programmleiter Energie Schweiz), Ursula Renold (Direktorin Bundesamt für Berufsbildung und Technologie) sowie Peter Schillinger (Zentralpräsident Suissetec). Ergänzt wurde die Runde durch Vertreter von Berufsverbänden oder aus Bildungsinstitutionen wie beispielsweise der Hochschule Luzern, der ETH Zürich, der Geschäftsstelle Minergie oder Gebäudeklima Schweiz.

Handwerkliche Berufe aufwerten

«Uns fehlen die Praktiker», sagt Stefan Cadosch. Für den SIA-Präsidenten mangelt es vor allem an technisch versierten Fachleuten, die den Bau von Grund auf kennen. Viele der Teilnehmenden sehen hier vor allem ein gesellschaftliches Problem: Handwerkliche Berufe wie beispielsweise der des Bauzeichners haben ein Imageproblem und müssen aufgewertet werden. Es gilt das Selbstbewusstsein des Handwerkers zu stärken, das Werteprofil zu korrigieren und zu zeigen, dass heute mit einer Berufslehre eine Karriere gemacht werden kann. Laut Ursula Renold vom Bundesamt für Berufsbildung und Technologie wirkt sich zudem die demografische Situation in naher Zukunft (weniger Schulabgänger) negativ auf den Fachkräftemarkt aus.  

Herausforderungen in der Energiebranche

Auch die Weiterbildung wurde thematisiert: Daniel Büchel, Vizepräsident Bundesamt für Energie und Programmleiter Energie Schweiz, wies darauf hin, dass gerade in der Energiebranche grosse Herausforderungen durch neue Tätigkeitsfelder und neue Technologien auf die Branche zukommen. Für Armin Binz, Leiter Minergie Agentur Bau,  fehlt der Schweiz ein Weiterbildungssystem, das im Bauwesen integriert ist: «Jede Branche, die über eine integral komplexe Materie verfügt, hat auch ein Weiterbildungssystem, das teilweise obligatorisch ist, wie beispielsweise für Ärzte.» Die Weiterbildung müsste jedoch auch Vorteile bringen – finanziell und in Form von Anerkennung, so Binz.

Auswirkungen des Bologna-Systems

Thema der Diskussion war auch das Bologna-System. Viele der Teilnehmenden sind der Meinung, durch die Bologna-Reform habe eine Akademisierung stattgefunden. Es entstehe der Eindruck, ohne einen Titel wie Bachelor oder Master sei man wertlos. Hier gilt es, das duale Bildungssystem zu stärken: Das Fachhochschulsystem darf sich nicht zu sehr den Universitäten angleichen, sondern muss die Brücke bauen zwischen der universitären Grundlagenrichtung und der praxisorientierten Bildung. Ursula Renold: «Die Schweiz braucht einen Mix aus Berufsqualifikationen – akademisch und fachlich.» Laut Renold sind Kampagnen notwendig, die den jungen Leuten zeigen, dass alle Berufsfelder wichtig sind. Diese sollen in Zusammenarbeit mit dem SIA und Suissetec entstehen.
Auch Andrea Deplazes, Professur für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich, sieht das Problem beim Bologna-System: Es könne nicht sein, dass 3500 eingeschriebene Architektinnen und Architekten in der Ausbildung an den Hochschulen das gleiche Ziel verfolgen. Diejenigen, die eine Affinität für Ausführungsplanung, konstruktive Umsetzungen oder Bauleitung hätten, würden nicht abgeholt. «Wir haben viele Studierenden, aber die müssen doch nicht alle das gleiche lernen. Hier versagen die Bildungsinstitute», so Deplazes. Für ihn ist die Bologna-Reform ein «Gleichmachungssystem». Beim Grundsatz «Gleichwertig, aber andersartig» stimme nur der erste Teil, die Profilierung der Kompatibilität sei vergessen gegangen.
Urs Rieder von der Hochschule Luzern findet nicht, dass die Baubranche ein Akademisierungsproblem hat. Für ihn fehlt der Praxisteil in der Ausbildung. Dies liege vor allem daran, dass die Bildungsinsitutionen die Ausbildung möglichst attraktiv machen wollen. Attraktiv bedeute in diesem Fall einen grossen Entwurfsteil – zu Lasten der Praxis. «Die anderen baugewerblichen Berufe haben dieses Problem nicht. Dort haben wir das Problem,  dass wir nicht die talentierten Leute in die Branche bringen. Der Knackpunkt liegt auf der Berufswahlstufe», so Rieder. Ursula Renold: «Wir müssen mehr über die Inhalte der Ausbildung reden anstatt über den Titel und die Arbeitsfelder. Ein Räderwerk aller Berufsfachleute ist wichtig.»

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