E-Dos­sier: Die Häu­ser der An­de­ren

Editorial

«Die Häuser der Anderen» ist eine Artikelserie, die Architekten zum Dialog einlädt: espazium.ch hat jedem Teilnehmer, jeder Teilnehmerin – allesamt in der italienischen Schweiz tätig – drei in der Region gebaute Häuser vorgelegt und sie gebeten, eines auszuwählen und zu kommentieren, ohne dabei mit Analyse und Kritik zu sparen.

Publikationsdatum
25-06-2021

Dass es zwischen den Architekten in der italienischen Schweiz (und vielleicht nicht nur dort) an Austausch und Debatten mangelt, ist heute schon fast ein Gemeinplatz: Jeder sagt es, wiederholt es, aber selten versucht jemand, es zu erklären. Gewöhnlich folgt auf diese Feststellung die Frage: Wo sind nur Persönlichkeiten wie Tita Carloni geblieben, die es verstanden, über Architektur zu sprechen und sie über den kleinen Kreis der Fachleute hinauszutragen, die Raum- und Landschaftsfragen aufwarfen und Lösungen vorschlugen?1

Ein gutes Beispiel für den Dialog zwischen Planern war vor einiger Zeit in einer Ausstellung der Fondazione Archivi Architetti Ticinesi2 zu sehen. Sie zeigte, wie Tita Carloni, Luigi Snozzi und Livio Vacchini in den 1960er-Jahren mit der Untersuchung der Stadtstruktur von Bellinzona begannen. Sie erfassten akribisch die einzelnen Gebäude und schlugen städtebauliche Strategien vor, die teilweise gewagt sein mochten (wie der Bau eines Parkhauses in der Burg Castelgrande), die aber den ungezügelten Enthusiasmus zeigten, mit dem drei junge Architekten sich miteinander und mit der Stadt auseinandersetzten.

Genau dieser Elan ist es, den wir heute vermissen, ohne zu verstehen, warum er uns abhandengekommen ist. Einen kurzen, aber aufschlussreichen Erklärungsversuch hat Federico Tranfa in seinem Beitrag zum diesjährigen Premio SIA Ticino in der Ausgabe 1/2020 von «Archi» formuliert. Wenn ein Architekt aus der Masse der Standardbauten herausstechen wolle, schreibt Tranfa, bleibe ihm in einem von der Immobilienspekulation geprägten urbanen Kontext, im Umfeld von Massenbauten, die taub seien für die «Stimme» der Umgebung, keine andere Wahl, als auf einen eklektischen Stil zurückzugreifen, der ihm Aussergewöhnlichkeit garantiere.

Daraus entstehe «ein vielfältiges Panorama, in dem jeder Architekt mit seiner Individualität einen eigenen, singulären Platz einnimmt, statt sich mit der Arbeit der Kollegen auseinanderzusetzen», so Tranfa. «Die Abwesenheit von Debatten ist zu einem charakteristischen Merkmal unserer Zeit geworden. Drastische, ja selbst provokante Aussagen lösen keine Kontroversen aus, fast so, als ob das Gegenüberstellen verschiedener Meinungen unangemessen sei. Diese Art friedlicher Ökumene erlaubt es den Architekturschulen, Vertreter ganz unterschiedlicher Kulturen und Ausrichtungen aufzunehmen, ohne je klären zu müssen, inwiefern gegensätzliche Methodologien als gleichwertig betrachtet werden können.»

Während wir warten und hoffen, dass sich etwas ändert – vielleicht vermögen ja die vermehrt für (oft sogar interdisziplinäre) Arbeitsgruppen ausgeschriebenen Wettbewerbe und Studienaufträge neue Wege der Auseinandersetzung zu eröffnen – versuchen wir im espazium eine Nische für diesen Dialog zu schaffen: Wenn er nicht «natürlich» entsteht, wollen wir ihm zumindest eine «künstliche Heimat» geben (um einen Begriff aus Carlo Cattaneos Definition der gebauten Umwelt zu entlehnen).

Deshalb baten wir in der italienischen Schweiz tätige Architekten, die Arbeit eines Kollegen zu kommentieren (sie konnten zwischen drei Vorschlägen wählen) und dabei ruhig auch Bedenken und Kritik zu äussern. Im Mittelpunkt steht das Einfamilienhaus, der Treib- und Grundstoff der Urbanisierung im Tessin: Zwar ist es einerseits für die berüchtigte Periurbanisierung verantwortlich, andererseits ist es aber das einzige Anwendungsfeld, an dem sich alle Planer messen können, während die grossen Werke zwangsläufig einigen wenigen vorbehalten bleiben.

Wir veröffentlichen nun die ersten Beiträge und hoffen, dass sich diese Reihe, die immer offen für neue Texte bleibt, ganz im Geist der Tessiner Meister entwickelt, die in der Lage waren, sich mit Sprüchen wie «Ich gratuliere dir zu deinem neuen Werk, auch wenn es grundverkehrt ist» (Vacchini an Snozzi) in aller Freundschaft herunterzumachen, um dann gemeinsam ein Haus, eine Siedlung, eine Stadt zu entwerfen.

Anmerkungen

 

1 Wir empfehlen Carlonis Buch Pathopolis mit seinen gesammelten Beiträgen zu Landschaft, Raum und aktuellen Themen, die er für die Wochenzeitung «Area» verfasst hat (Edizioni Casagrande, 2011). Ebenfalls sehr lesenswert ist das in der Zeitschrift Archi veröffentlichte «Diario dell'architetto» von Paolo Fumagalli. Die Texte sind hier verfügbar und kürzlich unter dem Titel «Cronache di architettura, territorio e paesaggio in Ticino» (Edizioni Casagrande, 2019) in Buchform erschienen.

 

2 Fondazione Archivi Architetti Ticinesi, Storie, utopie, progetti per Bellinzona – La città di Carloni, Snozzi, Vacchini fra 1962-1970, Bellinzona, Castelgrande, 20.9.2018–20.01.2019.

Die Häuser der anderen

Ca­sa Ko., Mor­co­te – Eloisa Vacchini über Wespi de Meuron Romeo

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