Die obe­ren Zehn­tau­send

Vergangenheit mit Anschluss an die Zukunft

Das geschichtsträchtige Hoteldorf oberhalb des Vierwaldstättersees wird erneut verdichtet – das bringt den Standort an seine Grenzen. Von der klaren Struktur profitiert die umgebende Landschaft.

Publikationsdatum
11-01-2018
Revision
11-01-2018

Prachtvolle Hotelbauten prägen seit Ende des 19. Jahrhunderts den Berg­rücken des Bürgenstocks, der sich auf 874 m ü. M., oberhalb von Luzern erstreckt. Dem Grand Hotel, das die Touris­muspioniere Franz Josef Bucher-­Durrer und Josef Durrer im Jahr 1873 eröffneten, folgten etappenweise und über die Jahrzehnte hinweg ­weitere Gästehäuser. Nebengebäude wie Wäscherei, Schreinerei oder Gärtnerei machten den Standort zunehmend unabhängiger von der Stadt. Die steigende Zahl der Beschäftigten zog wiederum einen Bedarf an Häusern für ihre Unterbringung nach sich.

Sportplatz, Freibad, Restaurants und Geschäfte kamen in den 1950er-Jahren hinzu, sodass ein veritables Hoteldorf entstand. Gleichzeitig entfaltete sich ein Wegenetz, das bis heute zu einer komplexen Erschliessung für Fussgänger, Autoverkehr sowie öffentlichen Verkehr inklusive Standseilbahn und Lift angewachsen ist. Innovativ war von Anfang an die Energieversorgung: Bucher und Durrer bauten 1888 ein Kraftwerk im 4 km entfernten Buochs; von dort wurden der Bürgenstock mit Strom versorgt und eine Pumpstation betrieben, die frisches Quellwasser hinaufbeförderte. Heute dient der See als thermischer Energiespeicher (vgl. «Aus Hotel- werden Energiepioniere»).

Schauplatz der Geschichte

Die Lage – hoch über dem Vierwaldstättersee mit Blick auf die Alpen und dennoch von Luzern aus schnell erreichbar – ermöglicht von jeher einen erholsamen Berg­urlaub ohne körperliche Strapazen bei der Anreise. Weltberühmte Persönlichkeiten haben hier ihre raren Ferientage verbracht, internationale Politiker wie Konrad Adenauer oder Indira Gandhi haben zu Sitzungen geladen, und manche Stars wie Sophia Loren und ihr Mann ­Carlo Ponti bezogen sogar dauerhaft Residenz.

In den 1960er-Jahren entwickelte sich der ­Bürgenstock zu einem Treffpunkt der Hautevolee: ­Modeschauen am Pool, Partys, Hollywood-Hochzeiten und ganze Filmteams brachten Glamour und internationale Beachtung. Aufgrund der autofreien Erschlies­sung vom Bahnhof Luzern per Schiff, Standseilbahn und zusätzlichen Lift zu einer Aussichtsplattform zieht das Gelände bis heute gleichzeitig grosse Scharen von wanderlustigen Tagesausflüglern an.

Luxus neu formuliert

Durch kluges Agieren konnte der einheimische Hotel­erbe Fritz Frey, ab 1953 Besitzer der bis dato drei zusam­menstehenden Hotels, dem Niedergang des hochklassigen Bergtourismus in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg Paroli bieten. Zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde es jedoch auch hier stiller – die Hotellerie auf dem Bürgenstock erlebte schwierige Jahre mit mehrfachen Betreiberwechseln. Mit der Übernahme im Jahr 2012 durch die Katara Hospitality Switzerland, einen Staatsfonds aus Katar, soll ein neues Kapitel der Superlative in der Geschichte des Hoteldorfs beginnen. Wenn alle Bauarbeiten abgeschlossen sind, werden 35 Gebäude auf dem Gelände stehen. Nur zwei Häuser ganz im Osten der Anlage erschliessen neuen Baugrund. Die anderen Gebäudegruppen nutzen Standorte, die auch zuvor schon bebaut waren, nehmen jetzt allerdings deutlich mehr Volumen ein. So sind beispielsweise anstelle der Dépendance des Palace Hotels und zweier Villen zehn Privat­residenzen mit fünf Etagen entstanden.

Bestehende Hotels wurden abgerissen oder entkernt und internationalen Luxusstandards ­angepasst. Die Zahl der Hotelbetten hat sich seit 2006 von 180 auf 383 mehr als verdoppelt. Als Annex an den Hotelbetrieb bieten private Residenzen innerhalb des Resorts maximale Intimität – eine Wohnform, die auf gegenwärtige Bedürfnisse der Gäste reagiert. Der Verkauf dieser Bauten spielt aber in erster Linie bei der Finanzierung des modernisierten Hoteldorfs eine herausragende Rolle.

Konferenzräume, Restaurants und Bars sowie private und öffentliche Spa-Bereiche runden das neue Angebot ab. Neben weiteren Infrastrukturbauten und Mitarbeiterhäusern ist anstelle des Hotels Waldheim das architektonisch ambitionierte Waldhotel für ­«Healthy Living» entstanden, eine exklusive Herberge mit medizinischer Betreuung, die kurz vor der Eröffnung steht.

Die Aussenbereiche sind im Lauf der Jahrzehnte zum integralen Teil des Areals geworden. So entsteht der Eindruck eines in sich geschlossenen Gefüges. Baulich stehen die Wege, Plätze und Hotelgebäude allen Besuchern offen. Ob sich jedermann in dieser Welt des High-End-Luxus willkommen fühlt, ist eine andere Frage. Die öffentlichen Wege führen nicht selten an fensterlosen Wänden entlang. Manche Zugänge zu den Privatresidenzen verbergen sich hinter hohen Mauern und beanspruchen die schöne Aussicht für ihre Bewohner.

Natur als Kulisse

Seit Beginn der Entwicklung dieses Orts hat sich das Verhältnis zwischen natürlicher und gebauter Landschaft umgekehrt: Während die ersten Hotels als Ausleger städtischer Ansprüche in der Natur funktionierten, die im deutlichen Kontrast zur Umgebung standen, kamen in den 1950er-Jahren einzelne Kleinbauten dazu, die den Solitärcharakter der grossen Häuser abmilderten. Der Aussenraum gewann als wichtiger Bestandteil der Gestaltung an Bedeutung.

Bis heute hat sich das architektonische Agglomerat aber so verdichtet, dass die Natur zunehmend als blosse Kulisse in weiter Entfernung eine Rolle spielt. Die Bepflanzung und Modellierung der freien Flächen zwischen den Bauten ist zwar ausgesprochen feinfühlig und dem Ort angemessen, muss sich aber inzwischen mit so geringem Platz begnügen, dass sie in eine dekorative Rolle gezwungen wird (vgl. «Ein Zacken mehr auf der Bergkrone»).

Da die Baukörper aus den verschiedenen Epochen einzeln gedacht und entstanden sind, ist es schwierig, ein neues Gesamtkonzept zu entwickeln, das die älteren Häuser einbindet und den Ort zu einem gewachsenen Ganzen fassen würde.
Die Piazza vor dem mit «5 Sterne Superior» ausgezeichneten Bürgenstock Hotel liegt vom See abgewandt. Sie bildet den zentralen Ort auf dem Weg entlang des Bergrückens, der Fussgängern vorbehalten ist. Autoverkehr und Postbuslinie verlaufen auf einer parallelen Achse, einer Servicestrasse unterhalb der Hauptwege. Der Anschluss an das doppelte Wegenetz – eines für Fussgänger, eines für den Autoverkehr – nimmt manchen Gebäuden die eindeutige Ausrichtung. So ist beispielsweise der Zugang zur Rezeption des Bürgenstock Hotels für Fussgänger und Ankommende aus der Bürgenstockbahn erst über zwei Wendeltreppen im Innern zu erreichen. Der Haupteingang mit der direkten Vorfahrt ist von der Servicestrasse für den motorisierten Verkehr geschaffen. Er liegt zwei Etagen tiefer an der Südseite des Hauses und führt direkt in die Lobby mit dahinterliegender Lounge und der grandiosen Aussicht über den See.

Beste Absichten

Seit 2007 begleiten verschiedene Behörden von Kanton und Gemeinde sowie unabhängige Naturschutzorganisationen die Planungen des Tourismusstandorts. Aus dieser Zusammenarbeit entstand 2014 ein Gestaltungsplan, der den Bauvorhaben zugrundeliegt. Durch den so gesteckten Entwicklungsrahmen sollen die umliegende Landschaft, das Ortsbild und die denkmalgeschützten Bauten bewahrt werden. Durch die kompakte Bebauung und Wegeführung, die auf dieser Basis eingehalten wurden, gelang einerseits eine klare Formulierung des Gebiets – andererseits grenzt es sich damit aber auch ab. Die Verdichtung innerhalb des Hotelstandorts ist der Preis für den schonenden Umgang mit der direkten Nachbarschaft. Hier ist positiv anzumerken, dass nur wenige hundert Meter entfernt Bauernhöfe in ihren Feldern und Weiden liegen, die weiterhin landwirtschaftlich bestellt werden.

Eine interessante Fragestellung ist, an wen sich dieser Ort wendet und an wen nicht. Durch das um­fassende Angebot an Hotels und Restaurants sollte sich jeder – ein einigermassen unbegrenztes Budget vorausgesetzt – einen geschäftlich, medizinisch oder touristisch ausgerichteten Aufenthalt zusammenstellen können, solange sich seine Wünsche auf eine komfortable Versorgung beziehen. Was aber ist mit den Gästen, deren Interesse dem Ort, der Landschaft, den regionalen Produkten oder gar den Bewohnern der umliegenden Höfe gilt? Wie weit reicht die Wertschöpfung des neuen Bürgenstockprojekts für die Bevölkerung? Inwiefern ist das Resort als Teil eines visionären Tourismuskonzepts einzuordnen?

Mit vertiefenden Informationen zu den denkmalpflegerischen Aspekten und der landschaftlichen Einbettung des Hotelsdorfs, dem Energiekonzept sowie zu den architektonischen Qualitäten der Hotels bieten die folgenden Artikel das Handwerkszeug zur Annäherung an die grossen Themen. Die hier zusammengetragenen Informationen sind als Einladung zu verstehen, sich vor Ort ein eigenes Bild zu verschaffen.
 

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