Die Gren­zen der Ver­dich­tung: die Ate­liers Vau­girard in Pa­ris

In der Pariser Innenstadt konnten die  Basler Architekten Christ & Gantenbein kürzlich die Überbauung Vaugirard realisieren. Der Bau gründet auf einer Untersuchung grossstädtischer Typologien und wirft Fragen nach den Grenzen des Verdichtens auf.

Publikationsdatum
18-03-2024

Entlang einer neuen Strasse, die durch das Werkstattareal der Pariser Verkehrsbetriebe RATP führt, entstehen derzeit mehrere Wohnbauten. Das Projekt nach einem Masterplan von Dominique Lyon ist besonders komplex, weil die Industrietätigkeit auf dem Areal aufrechterhalten wird. Die Unterhaltshallen der RATP werden nach und nach durch gemischt genutzte Gebäude mit Werkstätten und darüber liegenden Wohnungen ersetzt. Auch das von Christ & Gantenbein entworfene Gebäude folgt diesem Szenario: Über der zweigeschossigen Tiefgarage und den darüberliegenden Werkstätten, die auf doppelter Geschosshöhe das gesamte Erdgeschoss einnehmen, erheben sich fünf Stockwerke mit Sozialwohnungen.

Ein Betontragwerk erleichtert die notwendige Entkopplung zwischen dem Werkstatt- und dem Wohnteil des Gebäudes. Die Fassaden bestehen aus vorgefertigten Holzelementen mit einer Bekleidung aus verzinktem Stahl. Ebenerdige Gärten sind nicht vorgesehen. Dies ist einerseits den Renditevorgaben der Bauherrschaft geschuldet und andererseits der Tatsache, dass die nicht bebauten Flächen von den Zufahrtsgleisen zu den Werkstätten beansprucht werden. Neben dem privaten Aussenraum, über den jede Wohnung verfügt, können die Bewohnerinnen und Bewohner aber einen gemeinsamen Dachgarten im Zentrum der Überbauung nutzen.

Pariser Typologie weitergezogen

Die Besonderheit des Projekts von Christ & Gantenbein liegt in der Qualität der vorgeschlagenen Typologien und darin, wie sich die Architekten auf die ausführliche Untersuchung anonym wirkender Wohnbauten aus dem 20. Jahrhundert stützen, die sie im Rahmen ihrer Lehrtätigkeit an der ETH Zürich erarbeitet haben.1

Diese theoretische Arbeit, die neben Paris noch weitere Städte umfasst, zeigt die grosse typologische Vielfalt auf, die sich in stark verdichteten urbanen Kontexten und im Rahmen der ersten sozialen Wohnbauprojekte entwickelt hat. Was sich dabei herauskristallisiert und was den Wert jener Epoche ausmacht, ist ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Integration und den urbanen Massstab neuer Quartiere bei gleichzeitiger Erhöhung der Dichte. Bei den grossen Wiederaufbauprojekten der 1950er- und 1960er-Jahre trat dieser Wille zur Urbanität in den Hintergrund, bevor er Ende der 1960er-Jahre wieder erwachte.

Das von Christ & Gantenbein über den Ateliers Vaugirard realisierte Gebäude ist insofern eine konkrete Umsetzung dieser theoretischen Arbeit, als dass es intelligente Elemente aus den untersuchten Grundrissen extrahiert und in Merkmale eines zeitgenössischen Wohnbauprojekts transformiert. Hinter der äusseren Gleichförmigkeit der Fassadenbekleidung im charakteristischen Pariser Zinkgrau verbirgt sich eine grosse typologische Vielfalt. 

Die gebogenen Enden und die eher kombinatorisch als repetitiv gehaltene Gliederung des 124 m langen Quaders ermöglichen eine gewisse Varietät der Wohnungsvolumen. Dank der Fassadenvorsprünge sind alle Wohnungstypen, die vom Studio bis zur Fünfzimmerwohnung reichen, nach mehreren Seiten ausgerichtet und einige sind sogar durchgehend. Alle Wohnungen verfügen über einen grosszügigen Aussenraum, dessen Grösse proportional zur Wohnfläche variiert und als Loggia, Balkon auf den Hof oder – im 5. Stock – als Dachterrasse ausgestaltet ist.

Der Entwurf ist inspiriert von traditionellen Pariser Formen und Strukturen, insbesondere von den winzigen Balkonen, über die viele traditionelle Wohnungen in den obersten Etagen verfügen. Der architektonische Ansatz besteht unter anderem darin, die für das Dachgeschoss übliche Gestaltung auf alle fünf Wohngeschosse anzuwenden. Auch die Entscheidung, die gesamte Fassade mit einer Verkleidung auszustatten, die das Grau der Pariser Dächer aufnimmt, folgt diesem Prinzip. Auf diese Weise gelingt es dem Projekt trotz des beschränkten Raums und der geforderten hohen Dichte des Programms, über den üblichen Standard von Pariser Sozialwohnungen hinauszugehen.

Kontextualisierung ja. Aber für welchen Kontext?

Die Einbettung des Werks in die industrielle Umgebung ist durchaus gelungen, die Form des Baus steht in enger Kohärenz mit den Gleisen, die das Areal durchqueren. Was jedoch zu wünschen übrig lässt, ist die Gesamtkomposition der Überbauung. Der Kontrast zwischen dem Bau von Christ & Gantenbein und dem gegenüberliegenden Gebäude A ist symptomatisch für den schon fast zwanghaften Eklektizismus, der mit solch grossen Bauvorhaben einhergeht. 

Für Gebäude A wurde eine Kunststeinfassade gewählt, die explizit auf Frank Lloyd Wrights «Textile Blocks» im Ennis-Haus verweist, aber keinerlei Bezug zur Umgebung hat. Klarer wird dieser Entscheid, wenn man weiss, dass dieses Gebäude für Eigentumswohnungen vorgesehen ist. Zur Abgrenzung von der nüchternen Finesse eines qualitativ hochstehenden Sozialwohnungsbaus braucht es anscheinend reichlich Protz und Prunk, um den künftigen Eigentümerinnen und Eigentümern das Gefühl des Privilegiertseins zu vermitteln. Diese Unterscheidung geht auf Kosten jeglicher Kohäsion; es kann kein Dialog zwischen den Gebäuden stattfinden. In Paris stehen die Wohnhäuser der Reichen und der weniger Reichen zwar nebeneinander, aber sie sprechen nicht miteinander.

Ein Potemkinscher Dachgarten

Ein weiterer Schwachpunkt des Projekts ist der sogenannte Gemüsegarten auf dem Dach. Er dürfte auf einer Vorgabe beruhen, die die Bauherrschaft im Lauf des Projekts formuliert hat, womöglich um das Kriterium «umweltfreundlich» abhaken und in der Bilanz auf die soziale und ökologische Ausrichtung hinweisen zu können. Der dafür vorgesehene Raum ist aber so schwer zugänglich, dass man sich fragt, wie der Garten überhaupt angelegt werden konnte. 

Der Grund dafür sind die Leitungen der passiven Lüftung, die kreuz und quer zwischen den Beeten verlaufen; ein Nebeneinander von Rohren und Beeten, das an die dystopischen Rohr- und Schlauchwelten im Film Brazil von Terry Gilliam erinnert. In diesen Beeten, die nur auf komplizierten und nicht ungefährlichen Wegen erreichbar sind, dürfte kaum je jemand Gemüse pflanzen. Dennoch wird sich die RATP mit begrünten Dächern rühmen und nebenbei ein paar Labels und die dazugehörigen Subventionen einheimsen können.

Die Realisierung von Christ & Gantenbein ist ein gutes Beispiel dafür, was geschehen kann, wenn theoretisches Wissen, und möge es noch so relevant sein, mit den Herausforderungen der Umsetzung konfrontiert wird. Es muss sich Hindernissen anpassen und sich mit entgegengesetzten, meist weniger sorgfältig erarbeiteten architektonischen Haltungen arrangieren.

Trotzdem ist aus diesem Wissen ein qualitativ hochstehendes Werk hervorgegangen, das die seltene Herausforderung meistert, im Zentrum der Pariser Innenstadt eine Industrietätigkeit aufrechtzuerhalten. Ungeachtet der abgehobenen Inkongruenz der Nachbarschaft und des programmatischen Greenwashings der Bauherrschaft gelingt es dem Bau, die industrielle Sprache des Areals mit der urbanen Pariser Materialität zu kombinieren.

Anmerkung

 

1 Emanuel Christ, Christoph Gantenbein, Victoria Easton, Cloé Gattigo (Hg.): Typology: Paris, Delhi, São Paulo, Athens. Zürich, Park Books, 2015

Verwandte Beiträge