Ei­ne Di­ät für fos­sil er­zeug­te Ge­bäu­de

Guillaume Habert ist Professor für Nachhaltiges Bauen und erklärt hier die Rezeptur für das klimaneutrale Bauen. Bei der Wahl der Zutaten gelte auseinanderzuhalten, ob Nullenergie- oder Nullemissionskonzepte umgesetzt werden sollen.

Publikationsdatum
07-04-2022
Guillaume Habert
Professor für Nachhaltiges Bauen, Eid­genössische Technische Hochschule ETH Zürich; Departement für Bau, Umwelt und Geomatik

Der Gebäudesektor ist für 40 % der vom Menschen verursachten jährlichen Treib­hausgasemissionen verantwortlich. Die Hälfte davon entfällt auf Betrieb und Nutzung; die andere Hälfte ist mit der Erstellung und der Fabrikation der Baustoffe verbunden. Die Emissionen aus dem Betrieb von Gebäuden sind in den letzten 50 Jahren erheblich gesunken. In ihrer Klimawirkung haben sich die Lieferketten jedoch nicht ebenso grundlegend verbessert. Deshalb sind die Treibhausgasemissionen, die aus der Bautätigkeit und der Produktion von Baumaterialien stammen, radikal zu senken.

Der wissenschaftliche Weltklimarat IPCC skizziert mehrere Szenarien, wie die mittlere Erderwärmung auf 1.5 °C begrenzt werden kann. Die zuverlässigste Variante ist: Die fossilen Treibhausgasemissionen sind bis 2030 um 50 % zu senken und bis 2040 runter auf die schwarze Null. Jede Verzögerung bedeutet, dass die künftige Generation mehr CO2 nachträglich wieder aus der Atmosphäre entfernen muss.

Ab Mitte bis Ende dieses Jahrhunderts gilt es, sämtliche Treibhausgase zurückzupumpen, was wir ab jetzt weder reduzieren noch vermeiden wollen. Ab 2050 funktioniert Netto-Null nicht mehr; die nächsten Generationen werden Netto-Negativ leben und wirtschaften müssen. Deshalb plädiere ich für den ehrlichsten und fairsten Weg, den Klimawandel einzugrenzen: Die CO2-Emissionen sind bis 2040 auf null zu senken.

Emissionen im Ausland freigesetzt

Die Schweiz will bis 2050 klimaneutral sein; das ist an sich ambitioniert. Trotzdem wird der nationale Null­emissionspfad das 1.5-Grad-Ziel verfehlen. Und zudem konzentriert er sich nur auf den Ausstoss, der direkt im Inland verursacht wird. Dass dies nur ein Minderheitsanteil ist, hat sich noch nicht überall herumgesprochen. Mehr als 50 % der Emissionen, die der Gebäudesektor verantwortet, setzen Bau und Betrieb nicht in der Schweiz, sondern im Ausland frei.

Was bedeutet das für ein Gebäude, das gemäss inländischer Klimastrategie bis 2050 den Netto-Null-Standard einhalten soll? Die Antwort: Das Gebäude muss eine lokale bis nationale Emissionsbilanz von Netto-Null erreichen. Alle kohlenstoffintensiven Emissionen erfolgen im Ausland und werden so indirekt importiert. Stimmen Sie als Leserin oder Leser zu? Diese Strategie ist weder nachhaltig noch gerecht.

Das aktuelle Problem besteht auch darin, dass sich die Mehrheit in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft über das Ziel einig ist, Netto-Null-Emission zu erreichen. Aber allein dem Bausektor fehlt ein gemeinsames Verständnis, bis wann dies geschehen soll – bis 2040 oder 2050? Ebenso unklar ist, auf welchen räumlichen Rahmen sich die Erfolgsbilanz beziehen soll. Sind nur die nationalen Grenzen relevant? Oder sind vor- und nachgelagerte Emissionen mitzuzählen, die beim Bau und im Lebenszyklus eines Gebäudes ­entstehen?

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Sich auf ein gemeinsames Ziel vermeintlich zu einigen, aber nicht zu beachten, dass jeder etwas anderes darunter versteht, ist riskant. Ohne vorgängige Be­reinigung erhöht sich das Risiko, dass die Umsetzung einige Frustration, Enttäuschung und Misstrauen provoziert. Insofern gilt es, die verschiedenen Varianten zu präsentieren, wie ein Netto-Null-Gebäude zu verstehen ist. Ich möchte die Angemessenste aufzeigen, wie man das Ziel beim Bauen in einem vernünftigen Zeit­rahmen erreicht. Ich meine: genau hier und jetzt!

Variante 1: Netto-Null-Energie

Erste Umsetzungsvariante: Wir realisieren ein Netto-Nullenergiehaus und befolgen die Regel, dass nur die Betriebsenergie zu berücksichtigen ist, die für Raumwärme, Warmwasser und elektrische Geräte konsumiert wird. Unberücksichtigt bleibt dabei die graue Energie, die zur Herstellung der Materialien benötigt wird und die beim Bau und bei der Instandhaltung anfällt. Der Fokus beim Netto-Nullenergie-Ziel folgt dieser Hypothese: Ein niedriger Energieverbrauch ist gut für die Umwelt. Gleichzeitig ignoriert man aber, dass nicht so sehr die Menge der konsumierten Energie problematisch für die Umwelt ist, sondern deren Qualität.

Handelt es sich um erneuerbare Energie, ist ein Nullverbrauch nicht notwendig, um den Klimawandel zu mindern – im Gegensatz zur fossilen Energie. Mit einer Netto-Nullemissionsstrategie respektive beim Netto-Null-Emissionspfad verändern sich die Vollzugskriterien. Zugleich darf man sich nicht nur auf CO2-Bilanzen konzentrieren, sondern hat die Emissionen weiterer Treibhausgase im Auge zu behalten. Denn bei einer gebäudebezogenen Emissionsbilanz zählt auch das klimawirksame Methan, das biobasierte Baumaterialien am Ende ihrer Lebensdauer freisetzen.

Ein Gebäude, dessen Betriebsbilanz emissionsfrei bleiben soll, wählt im Vergleich zur Nullenergie­variante eine der folgenden Optionen: Entweder ver­ursacht der Energiekonsum keine Treibhausgase. Oder negative Emissionen kompensieren sämtliche fossilen Treibhausgase, die der Betrieb eines ­Gebäudes freisetzt – in äquivalenter Menge.

Variante 2: Netto-Null-Emission

Zweite Variante: Sprechen wir über ein Netto-Nullemissionsgebäude, dessen Klimabilanz nicht nur den Betrieb, sondern auch den Bau berücksichtigt. Hierfür existieren mehrere Möglichkeiten, wie die Treibhausgasemissionen gezählt oder besser: abgerechnet werden. Zunächst geht es um Reduktion und/oder Vermeidung: Ein Gebäude, das mehr Energie produziert als lokal benötigt, erlaubt anderen Gebäuden diesen Überschuss zu konsumieren, was deren Bedarf an fossilen Brennstoffen verringert.

Das bilanzierte Gebäude hilft, abseits des eigenen Berechnungssystems zusätzliche Treibhausgasemissionen zu vermeiden. Sein Besitzer darf dafür ein gutes Gewissen beanspruchen; doch der CO2-Gehalt in der Atmosphäre schwindet ­dadurch nicht. Eine vermiedene Emission ist keine negative Emission. Deshalb halte ich es für einen Trugschluss, eine extern vermiedene Emission in die Bilanz eines Netto-Null­emis­sions­gebäudes quantitativ zu integrieren.

Betrachten wir im Gegensatz dazu Treibhausgasemissionen, die als negativ definiert werden und von der Summe der einmal verursachten Emissionen abzugsberechtigt sind. Um Treibhausgase physikalisch aus der Atmosphäre zu entfernen, sind ausschliesslich biologische oder technische Prozesse erforderlich. Das Ziel Netto-Nullemission lässt sich beim Bauen über folgende Umwege erreichen: Entweder werden die Emissionen über den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes bilanziert. Oder die Bilanz wird für jeden einzelnen Moment der Lebensdauer nachgeführt.

Die nachträgliche CO2-Elimination am Lebensende ermöglicht tatsächlich ein Netto-Nullemissionsgebäude. Doch die Klimabilanz erst nach Ablauf des Lebenszyklus zu «neutralisieren», ist nicht wirksam. Daraus resultiert noch kein klimaneutrales Gebäude, weil die Gleichzeitigkeit der Klimaprozesse nicht gegeben ist. Das CO2, das sich während der Lebensdauer eines Gebäudes freisetzt, wird nicht fortlaufend eliminiert.

Eine pauschale Bilanzierung kann uns zwar ein gutes Gefühl geben. Doch in Anbetracht der Dringlichkeit befeuert ein solches Vorgehen die bereits ange­laufene Katastrophe: Ein heute konzipiertes und realisiertes Netto-Nullemissionsgebäude stösst die nächsten 60 Jahre jeweils Treibhausgase aus; eine Kompensation folgt erst 2082. Bis dann heizt sich die Erdatmosphäre weiter auf, obwohl wir den globalen CO2-Gehalt bestenfalls ab 2040 und schlimmstenfalls ab 2050 stabilisieren wollen.

Dieses Gebäude belastet das Klima der nächsten Generation zusätzlich, anstatt das Problem zu lösen. Nur wenn negative Emissionen den Klimafuss­abdruck eines Gebäudes gleichzeitig und kontinuierlich ausgleichen, ist die Netto-Null-Emissionsbilanz gleichbedeutend mit einer klimaneutralen Lösung.

Ein Rezept für ein vegetarisches Gebäude?

Aber können wir ein Gebäude bauen, ohne den CO2-Gehalt in der Atmosphäre zu verändern? Eigentlich ja! Dies scheint relativ einfach machbar. Wir dürfen uns aber nicht mit dem Einsatz klimaneutraler Materialien begnügen. Ebenso sollten wir daran denken, ein gesundes Gebäude zu realisieren. Wenn wir uns körperlich gesund halten wollen, passen wir unsere Ernährung an und reduzieren zum Beispiel den Verzehr von Fleisch und Zucker. Auch bei Gebäuden können wir Diät halten, in diesem Fall aber mit fossil erzeugten Baumaterialien. Wie bei der Ernährung sind Ausnahmen erlaubt: Manchmal darf die Kost etwas Schwereres beinhalten, solange man weiss, dass es ein besonderer Anlass ist und danach leichtere Speisen bevorzugt werden.

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Die Analogie zum Bauen ist: Ist ein besonders grosses Fenster wirklich zwingend, beschränkt sich das Architekturkonzept auf diesen Einzelfall. Die grauen Treibhausgasemissionen, die dafür in Kauf zu nehmen sind, lassen sich kompensieren. Zum Beispiel durch Baumaterialien, deren Fabrikation keine fossilen Emissionen erzeugt, sondern die im Gegenteil selbst CO2 binden. Ein derartiges Netto-Nullemissionshaus bezeichne ich als ein gesundes und ausgewogenes Gebäude. Für die gute Materialdiät empfehle ich:

  • eine Reduktion von kohlenstoffintensiven Baumaterialien wie etwa Glas;
  • einen angemessenen Einsatz von «kohlenstoff­armen» Baumaterialien wie Beton oder verleimtem Holz, deren Herstellung relativ wenig CO2 freisetzt;
  • einen extensiven Gebrauch von nahezu kohlenstofffreien Materialien wie Lehm
  • und einen vermehrten Einsatz von «kohlen­stoffnegativen» Materialien wie schnell nachwachsende biobasierten Materialien
  • und teilweise Massivholz.

Ein mögliches klimaneutrales Rezept aus dem Wissenschaftslabor sei dazu verraten: Eine 60 cm dicke Aussenhülle aus Strohballen kann die fossilen Emissionen eines Mehrfamilienhauses, erzeugt durch die Bereitstellung der Betonstruktur und der Glasfenster, ausgleichen. Zur Kompensation einer Leichtbaukonstruktion mit verleimtem Holz und identischer Fensterfläche wären nur 40 cm mächtige Strohballen erforderlich.

Auf weniger als 20 cm darf die Dicke der biobasierten Aussenhülle schrumpfen, wenn Fenster aus einer Bauteilbörse installiert werden. Allerdings verschlechtert sich dadurch die Wärmedämmung, was den Heizwärmebedarf und die Betriebsemissionen wiederum ansteigen lässt. Für die Gesamtbetrachtung von gebäudebezogenen Emissionen bei Bau und Betrieb spielt auch die Zeit eine Rolle. Sie definiert, bis wann pflanzliche Rohstoffe nachwachsen und die Emissionsbilanz ausgleichen.

Der Ausgleich mit negativen Emissionen ist deshalb zu erklären: Pflanzliche Baustoffe zu ernten, entfernt kein CO2 aus der Atmosphäre, sondern transferiert den gebundenen Kohlenstoff vom Ackerfeld oder aus dem Wald in die gebaute Umwelt. Stroh, Holz oder Hanf sind im Gebäude gelagert und machen Platz für die nachwachsende Biomasse. Dadurch erst sinkt der Kohlenstoffgehalt in der Atmosphäre. Die Zeit macht einen Unterschied: Waldbäume wachsen langsamer als Ackerfrüchte, weshalb die Nettoemission von Holz weniger schnell als bei Stroh verbucht werden darf. Biobasierte Rohstoffe aus Ackerkulturen sind eine effizientere ­Pumpe für die Klimabilanz. Dämmstoffe aus Weizen­stroh oder Hanfbeton ermöglichen deshalb negative Kohlenstoffemissionen für ein Gebäude.

Von klimaneutral bis fair und ökologisch

Was ich voraussetze, wenn das Gebäude eine zentrale Rolle als CO2-Speicher übernehmen soll: Jedes neue Gebäude muss mithelfen, den Anteil an biobasierten Baumaterialien zu erhöhen. Wird die Gesamtmenge an Kohlenstoff in der gebauten Umwelt grösser, steigt die CO2-Konzentration in der Atmosphäre nicht länger.

Ein gesunder Ernährungsplan besteht insofern aus einem ausgewogenen Verhältnis von Gemüse, Fleisch und Gebäck. Wichtig ist aber auch die Qualität der ­Nahrungsmittel. Sind die Produkte biologisch oder mit Pestiziden hergestellt? Der italienische Architekturprofessor Andrea Bocco hält eine solche Slow-Food-Diät auch für Gebäude tauglich. Dafür seien kohlenstoff­intensive Materialien von vornherein zu reduzieren und unvermeidbare Emissionen durch negative auszugleichen. Zugleich ist zu berücksichtigen, woher die Bau­materia­lien stammen und wie sie hergestellt werden. Ich schlies­se mich dieser Empfehlung an und folgere weiter: Die Strategie der Netto-Nullemissionen muss sich auch auf lokale und vertrauenswürdige Lieferketten stützen. Es ist wichtig, ein kohlenstoffneutrales Gebäude in ein faires und ökologisches Baukonzept einzubetten.

Übersetzung: Paul Knüsel, Redaktor Umwelt/Energie

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 11/2022 «Die Wette auf das Klima».

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