Das UFO und die Stadt

Hier schreibt kein Baufachmann, sondern ein Laie: Der Abschlussredaktor von TEC21 macht sich seinen eigenen Reim auf Verkehrsplanung und Strassenbau.

Publikationsdatum
17-09-2014
Revision
06-11-2015

Eine Jugend in Konstanz, um 1975. Ausgefallene Unterrichtsstunden verbringt der träumerisch gestimmte Gymnasiast damit, auf dem Velo den idyllischen Stadtteil Paradies zwischen Seerhein und Grenzbach, im Volksmund nur «Saubach» genannt, zu durchstreifen. Neblige Herbstmorgen voll tauschwerer Spinnennetze, dazwischen die zaghafte Oktobersonne. Behält sie heute die Oberhand? Ich kann noch die erdigen Trampelpfade riechen, die die Tägermoos-Bauern zwischen beerigen Büschen und Gartenzäunen gezogen haben. Zugegeben, ich trage dick auf –– aber es war eine halbwegs heile Welt. Bis das UFO landete.

Sicherlich, der Engpass war dagewesen. Zwischen Bregenz im Osten und Stein am Rhein im Westen nur eine einzige Strassenbrücke über den Bodensee. Sämtlicher Verkehr aus der Region Singen––Radolfzell––Stockach––Überlingen einerseits und aus der Ostschweiz andererseits quälte sich laut und stinkend durch die Enge der Konstanzer Altstadt, auch die ganz dicken Brummer –– vorbei an meinem Gymnasium. Jahr für Jahr wurden es mehr. Ein Mitschüler starb unter einem Lkw. Es reicht!, brodelte es in der Volksseele. 

Ende der 1960er-Jahre hatten sich Bund, Land Baden-Württemberg und Kreis Konstanz auf ein grossräumiges Verkehrskonzept geeinigt: Aus Stuttgart sollte die Autobahn A81 vier- bis sechsspurig über Singen und den Bodanrück an die Schweizergrenze geführt werden. Dort würde ihr die A7, aus Zürich kommend, die Hand reichen. Das erst wenige Jahre zuvor zur Universitätsstadt aufgestiegene Konstanz sollte besonders profitieren: Grosszügige Anschlussknoten würden uns quasi direkt aufs Stuttgarter Landesparkett oder auf die Klotener Startbahn befördern.

Und Platz für die paar neuen Strassen war doch da: hier eine bereits geschlagene Stromschneise durch den Wald, dort eben hochgeständert über einige Schrebergärtchen hinweg, wen sollte das stören? Die Welt war im Aufbruch, die Olympischen Spiele von München hatten die Nation berauscht: Wir waren wieder wer, und Konstanz würde endlich erwachen aus seinem Seehasenschlummer. 

Als Appetizer gab es den am dringendsten benötigten Baustein im grossen Gesamtpaket: die zweite Rheinbrücke für Konstanz. Jahrzehntelang ersehnt, geplant, verworfen, erfleht –– nun sollte sie kommen, und zwar so richtig. Massiv, breit und extrem leistungsstark. 

Als Erstes musste unser Schulsportplatz weichen –– das «Schänzle» war den Baggern im Weg. Und nun wurde gebaut. Gerammt. Geklotzt. Nach fünf langen Jahren stand sie da, die riesige Brücke. Das UFO. Und die kleine Stadt rieb sich die Augen. Denn auf beiden Seiten endete die auf zweimal drei Spuren angelegte Fahrbahn in zwölf Metern Höhe als Stummel im Nichts. Anschlüsse, Auf- und Abfahrten fehlten fürs Erste. Geplant waren sie zwar mal gewesen –– doch in der Zwischenzeit hatte sich die Welt gewandelt. 

1973 hatten die arabischen Ölstaaten ihre Fördermengen zeitweilig gedrosselt und damit den Westen in Agonie und Panik versetzt. Der vermeintlich grenzenlose Aufschwung stiess an sein Limit, euphorisch vorangetriebene Strassenbauprojekte trafen plötzlich auf vernehmbaren Widerstand. So auch in Konstanz. Andockend an die giganteske Brücke am Schänzle sollten sowohl das Paradies meiner Freistunden als auch das Haidelmoos, ein ruhiges Quartier mit Kleingärten und Einfamilienheimen, von sechs Spuren Autobahn durch- und überquert werden.

Dagegen begann sich nun Protest zu regen. Die Debatte polarisierte das beschauliche Städtchen und spülte die ersten Grünen in den Gemeinderat; gemeinsam mit der SPD erzwangen sie 1985 den ersten Bürgerentscheid der Stadtgeschichte. (Dass elf Jahre später ausgerechnet Konstanz den ersten grünen Oberbürgermeister Deutschlands wählte –– vielleicht eine Spätfolge jener UFO-Landung.)

Die Autobahn quer durchs Haidelmoos? Sie wurde verworfen. Die Lkws in der Altstadt? Sie blieben. Und vor deren Toren, hineinragend ins Paradies, stand nun die Brücke from outer space, das Kuckucksei aus einer vergangenen Zeit, mehr als 20 Jahre lang nur über peinliche, provisorische Abfahrts-«Ohren» an beiden Enden und überhaupt bloss zur Hälfte befahrbar. Eine vollständige Nutzung verhinderten die Einspruchsklagen couragierter Bürger fürs Erste. 

Unsere Schweizer Nachbarn freilich hielten Wort. 2002 war der letzte Tunnel durch den Seerücken fertiggestellt, die A7 an der Grenze angelangt. Und nun? Es gab alte Vereinbarungen, und zudem wollte wirklich niemand, dass sich auch noch dieser zusätzliche Verkehr ungelenkt über Konstanz ergiessen würde. 

So blieb dem Paradies das Inferno letztlich nicht erspart: Beidseits gesäumt von haushohen, schamhaft begrünten Lärmschutzwällen zerteilt heute eine vierspurige Strasse ebenerdig das einstige Idyll. Wo wir seinerzeit Schulsport getrieben hatten, kraxelt sie recht abrupt in die Höhe, um die aus heutiger Sicht viel zu hoch geplante Brücke zu erschliessen. Darunter meine Kindheitsbilder, brutal zerstört und zubetoniert, Parkplätze für immer mehr Autos. Viele Paradiesler sind doppelt gestraft, mussten sie doch ihre Gemüseäcker ennet der Grenze einem imposanten Zollhof opfern. 

Und wer nun einwendet, leistungsstarke Verkehrswege seien nun einmal unerlässlich für unseren Wohlstand, dem sei verraten: Nichts ist gewonnen. Auf Konstanzer Seite ist der grossspurige Anschluss an die Autobahn über die Jahre in immer weitere Ferne gerückt. Der nördliche Brückenstummel wurde inzwischen zwar mit einer episch ausholenden 110-Grad-Kurvenrampe geerdet, die einem beim Drüberfahren die Fehlplanung so richtig fühlbar macht. Doch weil der weitere Ausbau auf sich warten lässt, steht der morgendliche Pendlerstau nun eben ein paar hundert Meter weiter draussen, im industriellen Speckgürtel. Und steht und steht. 

Halt, eins hat das Ganze schlussendlich doch gebracht – aber war das wirklich so geplant? Die Schweizer A7 beschert Konstanz einen kaum noch zu bewältigenden Ansturm konsumwilliger Eidgenossen, die hinterher an den Zollämtern brav Schlange stehen und sich ihre Mehrwertsteuerrückerstattungsstempel abholen. Die UFO-Brücke heisst auf Schweizerdeutsch «Aldi-Brugg» –– an ihrem nördlichen Ende liegt das Eldorado, die grenznächste Filiale des Discounters. Den Konstanzer Einzelhandel freut’s, die Bürger –– nun ja. 

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