Brü­cken­bau­en mit Fühls­inn

Ingenieurwesen, Brückenbau

«Mit Brücken in Städten und Landschaften können Akzente gesetzt werden», verkündet das «Handbuch Brückenbau». Doch dieses Standardwerk sagt nicht, wozu das gut sei – und somit auch nicht, wie es gelingen ­könne. Kunio Hoshino hingegen bringt es in seinem Buch von 1972 auf den Punkt.

Publikationsdatum
17-09-2014
Revision
18-10-2015
Thomas Ekwall
MSc. EPFL Bau-Ing., MAS ETHZ Arch., Korrespondent TEC21

«Die eine Brücke ist ein beliebter Treffpunkt für Verliebte, sie wird häufig in Märchen und in der Malerei geschildert. Warum versammelt man sich dort? Den Leuten gefällt der Platz irgendwie sehr gut. An anderen Brücken hält niemand ein Mittagsschläfchen, vertieft sich niemand in seine Gedanken. Volkslieder und Märchen erwähnen sie nicht. Warum meidet man diese Brücke? Man findet sie irgendwie unbehaglich.»

Kunio Hoshino geht der Frage nach, wie die Atmosphäre eines Orts durch eine Brücke tangiert wird. Seine Dissertation zieht keine absoluten Schlüsse, sondern «es wird lediglich etwas Wesentliches über die Gestaltung von Brücken ausgesagt». Nicht nur über Gestaltung wohlgemerkt, denn seine These lautet, dass die Menschen durch die rasche Entwicklung der Zivilisation und der bebauten Umwelt entfremdet werden.

Wir Bauingenieure nehmen wesentlich an dieser Entwicklung teil, bekommen Anerkennung, wenn wir Entwürfe in Bauwerke umsetzen oder Bedürfnisse mit Kunstbauten befriedigen. Hoshino jedoch traut uns im Gegenteil das Innehalten zu – und fragt: «Ist es nicht das Recht und die Pflicht eines Brückenbauers, den Bau einer Brücke abzulehnen, wenn es ihm nicht gut erscheint, an der betreffenden Stelle eine Brücke zu bauen? Den Brückenbau abzulehnen wäre oft viel richtiger als Brücken möglichst schön zu gestalten. Wenn man schon Brücken baut, muss man sie mindestens so gestalten, dass man sich durch sie nicht gestört fühlt.» Bevor er die Frage der Gestaltung aufgreift, erinnert er uns daran, dass wir an der Entwicklung der Baukunst nicht nur teilnehmen, sondern diese auch mitsteuern können. Dazu gehört auch der Mut, Pflichtenhefte und gar Aufträge konsequent abzulehnen.

Gestaltung kennt keine Regel

Woran also sollten wir uns halten, wenn wir Brücken gestalten? Der Mensch nimmt die Brücken anhand seiner Intuition eines natürlichen Verlaufs der Schwerkraft wahr, sagt Hoshino. Balkenbrücken mit waagrechter Fahrbahn und senkrechten Pfeilern haben oft eine schlechte Wirkung. Ein Grund dafür sei, dass die Kräfte innerhalb eines Balkens intuitiv schwer erfassbar sind, im Gegensatz zur Stützlinie eines Bogens oder zur Kettenlinie einer Hängebrücke. Gestaltung heisst in solchen Fällen, die menschliche Intuition der Kraft zu begleiten, indem die Bauteile dementsprechend gekrümmt und gegliedert werden.

Das Verhältnis von Verkehrslasten zum Eigengewicht wirkt entscheidend auf die Gestaltung. Ist es klein, hat die Brücke einen klaren Kräftefluss, und wir stellen uns eindeutig ablesbare Zug- und Druckglieder vor, die dem natürlichen Lastabtrag folgen. Man denkt etwa an schwere Steinbogenbrücken oder leichte Fussgängerstege aus Strickseil. Im häufigsten Fall ist das Verhältnis aber gross: Die Brücke muss verschiedensten Lastzuständen standhalten, und ihre Form wird komplexer. Sie entzieht sich der Führung des reinen Gewichts und öffnet ein breites Repertoire an Tragwerksformen. Hier kommt die Kultur, die schöpferische Kraft des Brückenbauers, besonders zur Geltung.

Die Brücke zur Umgebung ist nun geschlagen: Die Wahl der Typologie ist untrennbar mit der Atmosphäre des Orts verbunden. Wie der Künstler sein Gemälde komponiert, wird der Ingenieur die Wirkung seines Bauwerks hinterfragen: Wie verhält sich die Fahrbahn zum Horizont? Welche Blicke werden durch die Brücke umrahmt oder zerklüftet? Wie verhält sich der Massstab der Brücke zur Umgebung und zum Menschen? Flächen oder lieber Linien 

Hoshino argumentiert mit verständlichen Worten und einfachen Handskizzen. Er provoziert uns mit seiner unbefangenen Art, so wie ein aufgeklärter Laie, der es besser weiss als der gelehrte Brückenbauer. Er macht uns klar, dass diese Fragen nicht nur mit den herkömmlichen Werkzeugen des Homo faber zu lösen sind, sondern dass man sich ihnen im Wesentlichen durch den menschlichen Fühlsinn annähern kann. Als Ingenieure sind wir in der privilegierten Lage, diese zwei Gebiete kultivieren und vereinen zu können.

Nun lege ich das Buch zur Seite, begegne der Welt und gehe meinem Fühlsinn nach. Das Schlusswort lasse ich Hoshino: «Es ist ganz egal, was man denkt. Es ist immer richtig, wenn tatsächlich eine gut gestaltete Brücke entsteht. Man darf jeden eingeschlagenen Weg mit Überzeugung gehen, sofern man dabei das wesentliche Ziel nicht aus den Augen lässt.» 

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