Be­kennt­nis zur Pra­xis: zum Tod von Ernst Gi­sel

Ernst Gisel hat seinen Platz in der Architektur über die Praxis gefunden. Das Streben nach Qualität und Gültigkeit hat sein Werk voll und ganz bestimmt. Am 6. Mai ist er in seinem Haus am Zürcher Römerhof gestorben.

Publikationsdatum
27-05-2021

Mit der Absicht, Maler zu werden, wechselte Ernst Gisel nach seiner Lehre als Bauzeichner an die Kunstgewerbeschule Zürich. Dank seinen beiden Lehrern Wilhelm Kienzle und Willy Guhl kam er wieder zur Architektur zurück und trat zunächst als Mitarbeiter ins Atelier von Alfred Roth ein. Dort kam er zwischen 1942 und 1944 in Kontakt mit der Zürcher Architekturavantgarde. Im folgenden Jahr eröffnete er mit nur 23 Jahren sein eigenes Büro in Zürich.

Schon nach kurzer Zeit war er bei mehreren Wettbewerben erfolgreich und konnte zunächst das Schulhaus Recken in Thayngen (1950–1952) und anschliessend seine erste grosse Bauaufgabe mit überregionaler Bedeutung, das Parkthea­ter in Grenchen, realisieren (1953–1955). Mit diesem Bau gelang Gisel eines der ersten international anerkannten Beispiele im multifunktionalen «Gemeinschaftsbau», dessen Nähe zur skandinavischen Architektur und besonders zu den Bauten von Alvar Aalto deutlich spürbar ist.

Auch die Möglichkeiten der anderen massgeblichen Bauaufgaben seiner Zeit – Schul- und Kirchenbau – hatte Ernst Gisel erkannt. Seine Schulen Letzi (1954–1956) und Auhof (1956–1958) in Zürich sind als Teil des jeweiligen Quartiers konzipiert. Die Form des Hoftyps entwickelte er mit seiner wohl bekanntesten Schule, dem Schulzentrum Mühleholz (1970–1973), sowie der Liechtensteinischen Ingenieurschule (1988–1999) in Vaduz weiter und stellte dem Siedlungsbrei eine ordnende urbane Struktur gegenüber.

Zahlreiche Kirchen und Gemeindezentren (Effretikon 1958–1960, Stuttgart-Sonnenberg 1964–1966 oder Steinhausen 1978–1981) zeigen eine hohe Plastizität der Baukörper. Sie weisen eine ästhe­tische Nähe zum Brutalismus auf, unterscheiden sich aber grundlegend hinsichtlich des Gestaltungsprozesses, den Gisel nachdrücklich als einmaligen künstlerischen Vorgang beschrieb: «Jedes Haus ist eine Plastik.»

Ernst Gisels Nähe zu Kunst und Künstlern manifestiert sich in der umfangreichen Werkgruppe der Atelierhäuser. Er baute für Hans Aeschbach in Zumikon (1947–1948), für den Bildhauer Paul Speck in ­Tegna (1954–1955) und natürlich für sich selbst das «Blaue Atelier» an der Zürcher Streulistras­se (1972–1973). Feinfühlig integriert Gisel Atelierräume selbst in grössere Wohn­bebauungen im städtischen Kontext und beweist damit grosse Sensibilität und Vertrautheit mit den Bedürfnissen der Künstler.

Eine Siedlung, die Wohnungen mit qualitätvollen Arbeitsräumen innerhalb einer Künst­lergemeinschaft vereint, konnte Gisel mit dem Ensemble für die Genossenschaft Maler und Bildhauer an der Zürcher Wuhrstrasse exemplarisch umsetzen (1953–1954). Der gemeinschaftliche Hof war auch der Raum für legendäre Feste, die Gisel hier zusammen mit seinen Künstlerfreunden feierte. Arbeiten der dortigen Künstlerinnen und Künstler bilden auch einen Schwerpunkt in Gisels bedeutender Privatsammlung. Mit Otto Müller und Silvio Mattioli arbeitete er darüber hinaus bei vielen anderen Bauprojekten regelmässig zusammen.

Neben dem Bauen für die Öffentlichkeit und die Gemeinschaft – zu dem auch Gisels Beitrag an der Schweizerischen Landesausstellung Expo ’64 in Lausanne gehört – war es der Wohnungsbau, mit dem er sich besonders identifizierte. Die Bedürfnisse der Nutzer und die Wahl angemessener Materialien und Techniken waren sein Hauptanliegen. Atmosphärische Räume mit ausgefeilter Lichtführung versuchte der passionierte Aquarellmaler auch beim Geschosswohnungsbau umzusetzen. Auf die dreiseitige Belichtung in den Wohnungen der Punkthochhäuser des Märkischen Viertels in Berlin wies er gerne hin. Für die Planung seines Teilsektors mit mehr als 1700 Wohnungen führte er von 1965 bis 1969 in Berlin ein Zweitbüro.

Ab den 1980er-Jahren realisierte Gisel vermehrt Grossprojekte wie das Kundenzentrum der Stadtwerke in Frankfurt a. M. (1986–1990) oder das World Trade Center in Zürich (1991–1995). Für einige der früheren Bauten wurde das Büro Gisel mit der Erweiterung betraut, darunter das Kongresshaus Davos (1988–1990, vgl. TEC21 5–6/2011), das Parktheater Grenchen (1994/95) und die Schule in Engelberg (1994–1998).

Die grosse Qualität von Ernst Gisels Architektur sei sein «Sinn für das Urbane», wie er sich im Thema «Haus–Stadt» ausdrückte. Dies bescheinigte ihm Luigi Snozzi in der erstmals 1993 erschienenen Gisel-Monografie.1 Die Vorliebe für Hofhäuser und stadträumliche Gebilde ist nicht nur an Gisels Privathaus in Zumikon zu erkennen, sondern steht auch als Leitgedanke hinter den Schulen und Gemeinschaftsbauten. So entstanden Gebilde, die sich aus Plätzen und Höfen zusammensetzen und in ihrer Gesamtheit zu «echten Organismen der Stadt» wurden (Snozzi).

Viele Gisel-Bauten erhielten Auszeichnungen. Seit 1968 war er Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und Ehrenmitglied des BDA, seit 1996 Ehrenmitglied des SIA. 2004 erhielt er den Ehrendoktor der ETH Zürich. Das eigene Atelier an der Streulistrasse schenkten Ernst und Marianne Gisel 1999 der ETH Zürich. Teil der Schenkung war die umfangreiche Plan- und Modellsammlung, die heute vom Archiv des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) der ETH Zürich betreut wird. Im «Blauen Atelier» ist Gisels Werk und Persönlichkeit stets präsent. In den beiden oberen Geschossen, in denen auch das Entwurfsstudio von Gion Cami­nada untergebracht ist, entstehen Entwürfe zukünftiger Architektinnen und Architekten – so, wie Gisel es sich wünschte.


Anmerkung


1 Bruno Maurer, Werner Oechslin: Ernst Gisel Architekt, Zürich: gta Verlag, 1993, 2. erweiterte und ak­tu­alisierte Auflage, zus. mit Almut Grunewald, Zürich: gta Verlag, 2010

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