Hans­jürg Lei­bund­gut (1949–2023) – ein Nach­ruf

Er dozierte nicht über Energie, sondern sprach von Anergie und Exergie. Und auch andere Ansätze, die Hansjürg Leibundgut an der ETH Zürich erforschte, sind mittlerweile unverzichtbarer Teil einer postfossilen Gebäudeversorgung. Arno Schlüter, Professor für Architektur und Gebäudesysteme an der ETH Zürich, würdigt die Leistungen seines Doktorvaters und Vorgängers.

Publikationsdatum
15-07-2023
Arno Schlüter
Leiter des Instituts für Technologie in der Architektur der ETH Zürich

«Neue Route entdeckt»: Mit dieser nüchternen Überschrift leitete Hansjürg Leibundgut sein Büchlein «Zero Emission Low Ex»1 im Jahr 2010 ein. Es war die erste Bilanz seiner Expedition, die er fünf Jahre zuvor als Professor an der ETH Zürich begann. Diese nannte er «viaGialla – Wegbeschreibung für Gebäude in eine nachhaltige Energie-Zukunft»2. Der Maschineningenieur mit «Leib und Gut», wie er gelegentlich selbst witzelte, entwarf darin eine Logik, die sich aus der Thermodynamik und ihren Hauptsätzen ableitet und die für Hansjürg Leibundgut so zwingend war wie ein physikalisches Gesetz.

Anfang 21. Jahrhundert stiess eine thermodynamische Betrachtung des Wärmehaushalts von Gebäuden auf breite Resonanz in der internationalen Forschung. Zweck dieses Low-Ex-Prinzips war, die Energieflüsse im Gebäude differenzierter zu betrachten und deren Effizienz thermodynamisch zu bewerten. Das Begriffspaar «Exergie» und «Anergie» – ursprünglich für industrielle Energiesysteme konzipiert – fand Eingang in den Fachdiskurs der Gebäudewelt. Den Bedarf an Exergie, der hochwertige Teil der Energie, galt es auf ein niedriges Niveau zu reduzieren (Low-Ex). Im Gegenzug ist niederwertige Anergie theoretisch im Überfluss vorhanden.

Übersetzer und Motivator

Hansjürg Leibundgut leistete dazu wichtige Übersetzungsarbeit: So wie die Hauptsätze der Thermodynamik einst formuliert wurden, um mit effizienten Dampfmaschinen Kriege zu gewinnen, so verwendete er sie, um gegen den menschengemachten Klimawandel und den CO2-Ausstoss anzutreten. In seiner Antrittsvorlesung an der ETH Zürich im Jahr 2005 nahm er die ihm damals schon diagnostizierte Krebserkrankung als Metapher für den Zustand der Erde und verglich die Krebszellen in seinem Blut mit den CO2-Molekülen in der Erdatmosphäre. Für seine Arbeit an der Professur für Gebäudetechnik an der ETH suchte er konsequenter Weise Mitstreiterinnen und Mitstreiter, und nicht einfach Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Tief beeindruckt von den damaligen Erkenntnissen des Internationalen Klimarats IPCC startete Leibundgut jeweils das Vorlesungssemester mit diesem Thema: Er liess Klimaforscher vor den Architekturstudierenden über die neuesten Prognosen berichten. Und am Ende der Vorlesung rief er die Studierenden dazu auf, die Hand zu heben, wer mitstreiten wolle. Es waren nicht wenige.

Nüchterne Denkweise, provozierende Thesen

Für seine Definition des Low-Ex-Prinzips erweiterte Hansjürg Leibundgut die Systemgrenzen von Gebäuden und bezog neben dem Heizen und Kühlen auch die Produktion der Exergie in Form von Strom mit ein. Erneuerbare elektrische Energie sollte dort gewonnen werden, wo dies effizient möglich war: lokal auf dem Hausdach und global zum Beispiel in den Wüstenregionen Nordafrikas. Seine nüchterne Denkweise als Ingenieur übertrug er ebenso auf geopolitische und ökonomische Fragen. Daraus leitete er seine «Utopie» ab: «Wir haben kein Energieproblem, sondern ein Emissionsproblem.»

Dieser Ansatz stand in der damaligen Zeit in einem starken Kontrast zu den allgemeinen Bemühungen um Energie sparende Gebäude. Er nahm in Kauf, dass sein Anliegen in der Bau- und Energiebranche provozierte. Dabei ging oft vergessen, dass sein Blick auf ein optimales System gerichtet war, und sich nicht gegen die Effizienz von Geräten oder die Qualität einer Gebäudehülle wandte. Vielmehr verstand Leibundgut darunter, dass sich ein Effizienzoptimum aus dem Zusammenspiel vieler Gebäudekomponenten ergibt, die jeweils unter sich ausbalanciert werden können.

Mit gewisser Streitlust führte Hansjürg Leibundgut beispielhaft das Dämmen der Gebäudehülle ins Debattierfeld. Seine These war: Nicht zwingend jede Kilowattstunde Wärme musste eingespart werden, wenn das Gebäude selbst mehr Exergie produziert und sich die vor Ort erzeugte Wärme im Erdreich speichern lässt. Es «kommt eben darauf an» war seine oft unbequeme Antwort an Gesprächspartnerinnen und -partner, die sich gegen allzu einfache Lösung richtete.

Für Architektinnen und Architekten hingegen, die sich immer stärkeren gesetzlichen Anforderungen konfrontiert sahen, war der systemische Ansatz des ETH-Professors eine Befreiung. Sie erkannten darin eine Freiheit für mehr Flexibilität in der Gestaltung: Das Gebäudesystem wurde dynamisch verstanden; und das Energiethema gab der Gebäudetechnik wieder mehr Gewicht. 2010 initiierte er im Departement Architektur die Initiative «Vom Energiesparen zur Emissionsfreiheit» und verankerte damit erstmals das Ziel: Die CO2-Emissionen sind über den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes zu reduzieren.3

Entwickler und Akademiker

Einige technische Komponenten für das Low-Ex-Gebäudesystem entwickelte er bereits vor seiner akademischen Karriere als treibende Kraft in der Zürcher Planungsfirma Amstein + Walthert. Diese konnte er an der ETH weiterentwickeln: Auf dem Dach sollen Hybridkollektoren die solare Einstrahlung in Strom und Wärme umwandeln. Erdsonden sollen das Erdreich über die Jahreszeiten thermisch bewirtschaften. Effiziente Wärmepumpen sollen daraus das notwendige Temperaturniveau für ein Heizsystem produzieren. Oder dezentrale Lüftungsgeräte sollen punktgenau für Frischluft in Innenräumen sorgen. Diesen Komponenten fügte Leibundgut einige Sensoren und digitale Informationen hinzu. Das Gebäudetechnik-Orchester war bereit für ein «Konzert der Aktoren».4 Zur Erforschung solcher Low-Ex-Systeme kamen vor über 15 Jahren erste Gebäudeinformationsmodelle zum Zug, die heute als BIM auch in der Praxis Anwendung finden.

Forscher und Praktiker

Allzu theoretische Ansätze interessierten nicht. Lieber vertraute er seiner Intuition und Erfahrung, um die Eignung von Komponenten und Systemen an konkreten Umsetzungsprojekten zu demonstrieren. Die Sanierung des Bürogebäudes HPZ am ETH-Campus Hönggerberg, in dem die Professur selbst angesiedelt war, bot dafür eine gute Gelegenheit. Anstelle damals üblicher Totalumbauten sollte das Bürogebäude «minimalinvasiv» und «Low-Ex»-gerecht saniert werden. Mithilfe technischer Massnahmen wurde der Exergieverbrauch gesenkt und das Gebäude fit gemacht für einen Anschluss an das Anergie-Arealnetz Hönggerberg, das mit Abwärme und thermischer Energie aus einem Erdspeicher gespeist wird.

Noch weiter trieb Leibundgut die praktische Anwendung des Low-Ex-Prinzips beim eigenen Wohnhaus. Dazu setzte er Gebäudetechnikkomponenten ein, die teilweise erst in Prototypversion verfügbar waren. Seine Risikobereitschaft war hoch. Wichtig war ihm allerdings, keine Zeit zu verlieren. Zu beiden Projekten lässt sich sagen: Ein ideales Konzept traf auf die (Bau-)Realität. Die neuen Herausforderungen konnten den Eiligen gelegentlich zur Verzweiflung treiben. Zentral ist aber die durchaus praxisrelevante Erkenntnis: Selbst in einem logischen und stringenten System können die Wechselwirkungen in der Realität schnell komplex werden. Der Orchestrierung kommt eine grössere Bedeutung in Planung und Betrieb zu.

Pionier und Visionär

Vor Abschluss seiner Professur begann sich Hansjürg Leibundgut für die industrielle, wirtschaftliche und politische Umsetzung der Anergie-Vision einzusetzen. Er wirkte beim Aufbau von Allianzen und Spin-offs mit, um die Low-Ex-taugliche Gebäudetechnik marktreif zu machen. Die bodennahe Geothermie und die Photovoltaik waren seine Experimentierfelder; heute, nicht einmal 20 Jahre später, sind diese Technologien etabliert und im Baubereich weit verbreitet.

Der Klimawandel, damals noch ein Nischenthema, ist nun ebenfalls im kollektiven Bewusstsein angekommen. Die Schweiz hiess vor wenigen Wochen das Klimaschutzgesetz mit dem Ziel einer Netto-Null-Treibhausgasbilanz bis 2050 gut. Für den nun anstehenden fossilen Ausstieg des Gebäudeparks ist die «Low-Ex-Idee» von Hansjürg Leibundgut eine unverzichtbare Alternative.

Auch für die künftige Forschung hat er ein solides Fundament gelegt: Der Kern seiner Vision besteht aus dem systemischen Ansatz, der auf einem Balanceakt beruht: Das Gebäudesystem ist zu verstehen als Zusammenspiel zwischen Material, Konstruktion und technischen Komponenten. Lernfähige Algorithmen dirigieren das Aktoren-Konzert, um den Exergiebedarf zu minimieren und die Bedürfnisse der Nutzenden sicherzustellen. Darin vorgezeichnet ist auch, die CO2-Bilanz um die Erstellung der Komponenten zu erweitern. Und für die Architektur wichtig: Solarinstallationen wandeln sich von mühsam versteckten Aufsätzen zu einem gestalterischen Element an der Gebäudehülle.

In seinem siebenjährigen Wirken am Departement Architektur der ETH Zürich schuf Hansjürg Leibundgut ein konsistentes und umfassendes Werk. Die ursprüngliche Wegbeschreibung für das nachhaltige Gebäude ist bis heute gültig – in Forschung und Praxis. Mindestens so bleibend ist die Erinnerung an seine Person: Hansjürg Leibundgut steckte viele Leute und ein breites Umfeld mit seiner Energie und seinem unbeirrbaren Einsatz an, einst auch umstrittene Ideen weiterzutragen.

Quellen

 

1 Zero Emission Low Ex, HJ. Leibundgut, ETH Zürich 2010

 

2 viaGialla – Wegbeschreibung für Gebäude in eine nachhaltige Energie-Zukunft, HJ. Leibundgut, ETH Zürich 2007

 

3 Vom Energiesparen zur Emissionsfreiheit: Der Weg zum emissionsfreien Gebäudepark, Hochschulkommunikation ETH Zürich, 2010

 

4 Zero Emission Low Ex, HJ. Leibundgut, ETH Zürich 2010

Kurzbiografie

 

Hansjürg Leibundgut (1949–2023) studierte Maschinenbau an der ETH Zürich mit den Vertiefungsrichtungen Reaktortechnik und Fluiddynamik. In seiner Dissertation spezialisierte er sich auf die Gebiete Solar- und Kältetechnik. In seiner beruflichen Karriere wirkte er als Verantwortungsträger in Verwaltung, Privatwirtschaft und Forschung: Leibundgut war in der Zürcher Kantonsverwaltung zuständig für die Vollzugsbereiche Energie und Lufthygiene, wurde danach Chefingenieur und Mitinhaber der Planungsfirma Amstein + Walthert. 2005 folgte die Berufung zum Professor für Gebäudetechnik am Institut für Hochbautechnik (Departement Architektur) der ETH Zürich. Hansjürg Leibundgut verstarb im Juni im Alter von 74 Jahren in Zürich.

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