Ner­vi – ge­nia­ler In­ge­nieur-Ar­chi­tekt

«Architecture comme défi» nennt sich eine Wanderausstellung, die derzeit in den Räumen von Archizoom der EPF Lausanne zu sehen ist. Sie widmet sich Pier Luigi Nervi (1891–1979), einem Ingenieur, der wie kaum ein anderer seine Konstruktionen zu architektonischen Werken geformt hat. Mit Modellen, Zeichnungen, Fotografien und einem Katalogbuch werden sein Wirken und auch sein Leben fassbar gemacht.

Data di pubblicazione
28-05-2013
Revision
01-09-2015

Der im lombardischen Sondrio geborene Pier Luigi Nervi studierte an der Universität Bologna und diplomierte 1913 mit Bestnoten als Bauingenieur. Seine ersten baupraktischen Erfahrungen machte er im florentinischen Büro seines Professors Attilio Muggia.

Ab 1923 selbstständig, gründete er mit Rodolfo Nebbiosi die «Societá Ing. Nervi e Nebbiosi» und 1932 in Rom mit Giovanni Bartoli die «Societá Ing. Nervi e Bartoli». Ab den 1950er-Jahren arbeiteten auch drei seiner Söhne im Büro mit. 

Tragstruktur wird Architektur

Nervi konzipierte und konstruierte seine Betonbauwerke oft als Kuppeln und Schalen mit filigranen Gitterwerken und Rippenstrukturen. Die statisch und konstruktiv bedingten Strukturen formte er zum raumbildenden und architektonisch prägenden Element.

Er entwickelte den Stahlbeton weiter zu Ferrozement, dem 1855 durch den Franzosen Joseph-Louis Lambot patentierten1 und für den Bootsbau und Schiffsbau verwendeten neuen Baustoff.

Ferrozement ist ein stark bewehrtes Kompositmaterial aus mehrschichtigem dünnem, mit zementreichem Mörtel imprägniertem Gittergewebe (geschweisste oder gewobene Netze, Streckmetall), das sich unter Beanspruchung wie ein homogener Stoff verhält.2

Er erfand Methoden zur raschen, präzisen und kostengünstigen Vorfertigung von Betontragstrukturen, und vor allem gestaltete er eindrücklich konzipierte und geformte Hallen, Stadien, Hochhäuser und Brückenbauten in Europa, Australien, Afrika und Übersee (USA, Kanada und Brasilien). 

12 exemplarische Bauwerke

Die Ausstellung in Lausanne stellt das Werk Nervis anhand von 12 wichtigen und in ihrer Art exemplarischen Bauwerken dar. Das bislang nahezu unbekannt gebliebene, riesige Kino-Theater Augusteo in Neapel (1924–1929) macht den Auftakt.

Mit dem Stadion Berta in Florenz (1930–1932 und 1950–1951) wurde Pier Luigi Nervi erstmals international als Ingenieur-Architekt bekannt. Flugzeughangars in Orvieto, Orbetello und Torre del Lago (1935–1942) zeigen seine Meisterschaft für Zweckbauten aus Beton, und bei der Ausstellungshalle in Turin (1947–1954) konnte er erstmals die Vorfertigungsprinzipien mit Ferrozement im Grossmassstab anwenden.

Für den Sitz der Unesco in Paris (1952–1958) fand eine fruchtbare Zusammenarbeit mit den Architekten Marcel Breuer und Bernard Zehrfuss statt. Begleitet wurde dieses Projekt durch Lucio Costa, Walter Gropius, Le Corbusier, Ernesto Rogers und Sven Markelius.

Berühmt wurde der als Kuppel von 60m Durchmesser gebaute Sportpalast in Rom (1960), dank neuartigen Baumethoden innert Jahresfrist erstellt. Beim Palazzo del Lavoro in Turin (1959–1961) zur 100-Jahr-Feier des italienischen Staates konzipierte Nervi die 47.000m2 grosse Halle mit 16 schirmförmigen, 26m hohen Dachelementen aus Stahl (je 40x40m), die von je einer Betonstütze getragen sind.  

«Quadratur des Kreises»

Diese Stützen weisen im Sockel einen kreuzförmigen Querschnitt auf, der sich nach oben verjüngt und in einen kreisförmigen mündet. Die Montage dieser grossen Struktur dauerte knapp ein Jahr.

Die Tour de la Bourse, der Börsenturm in Montreal von Luigi Moretti (1961–1965) mit seinen 48 Stockwerken (190m), ist eines von vier Hochhäusern, deren Tragwerke Nervi ersann. Der 10.000 Personen fassende päpstliche Audienzsaal im Vatikan (1963–1971) schwingt sich 100m stützenfrei über eine Fläche von rund 8000m2.

Für die Kathedrale St. Mary in San Francisco (1963–1971) des Architekten Pietro Belluschi (zusammen mit John Michael Lee, Paul A. Ryan und Angus McSweeny) konzipierte Nervi die architektonisch prägende Tragstruktur.

Mit dem italienischen Botschaftsgebäude in Brasilia (1971–1977) wird eines der letzten Projekte des Studios Nervi gezeigt, das kurz vor seinem Tod fertiggestellt und eingeweiht wurde. Beim zwölften dokumentierten Projekt handelt es sich um eine Brücke (Ponte di risorgimento) in Verona (1964–1968).  

60 Jahre Arbeitsleben

Dokumentiert sind diese zwölf Bauwerke mit Plänen und Skizzen – teilweise handelt es sich um Originalzeichnungen –, mit akribisch genau im 3D-Drucktechnikverfahren erstellten Modellen, welche die Tragstrukturen plastisch vor Augen führen, und mit auf Bildschirmen laufenden Filmen oder Bildsequenzen.

Eine Augenweide sind die im Foyer präsentierten Fotografien aus der Bauzeit. Diese hat Nervi seinem Freund Alberto Sartoris, Architekt und Publizist sowie Mitbegründer der Architekturschule Athenaeum in Lausanne, nach und nach in die Schweiz gesandt, wo sie heute in der EPFL aufbewahrt werden. In diesem Foyer wird auch ein eigens hergestelltes Betonelement gezeigt, das die Tragstruktur des päpstlichen Audienzsaals darstellt. 

Das 60 Jahre lang dauernde Wirken von Pier Luigi Nervi als herausragender, ja genialer Ingenieur-Architekt, der statische und bautechnische Neuerungen mit eindrücklicher und eleganter Formgebung zu verbinden wusste, ist in dieser Ausstellung stimmig dargestellt. Zu sehen ist sie bis zum 22. Juni 2013 bei Archizoom und dann ab Mitte September in der ETH Hönggerberg beim Institut gta.

Anmerkungen / Literatur

  1. Patent Nr. 22129, J. L. Lambot, Paris, Combinaison de fer et ciment destiné à remplacer le bois dit fer ciment succédané du bois de construction, 30. Januar 1855.
  2. Sulzer, Hans D., Ferrozement, in: Schweizer Ingenieur und Architekt, Band 100 (1982), H. 48, S. 1052–1057- vgl. auch Ingenieurbauwerke instand setzen
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