Die Stei­ne der Sur­sel­va mi­schen sich un­ters Volk

In der Stadt Ilanz haben an verschiedenen Orten riesige Steinbrocken aus der Region einen Platz bezogen. Die Langzeitausstellung ist Teil der Initiative Zentrumsentwicklung und macht Räume neu erlebbar.

Data di pubblicazione
26-10-2022

Ein kantiger Brocken, fast wie ein kleines Haus, steht auf dem Perron des Bahnhofs von Ilanz/Glion. Ganz still und stumm. Wie in dem altbekannten Kinderlied vom Männlein im Walde wäre nun zu fragen, um welches Wesen es sich hier handelt. Der Brocken am Bahnhof steht zwar ganz allein, über die Altstadt verteilt allerdings gibt es mehrere Dutzend Findlinge, die allein oder gruppiert platziert wurden. Insgesamt sind es über 200 Tonnen, die aus den verschiedenen Tälern der Bündner Berglandschaft der Sur­selva in die Stadt am Vorderrhein gebracht wurden.

In der Surselva, so schreiben der Künstler und Bildhauer Christian Aubry und die Architektin und Farbgestalterin Lucrezia Zanetti, zeige sich die Erdkruste als unsere Lebensgrundlage auf einmalige Weise. Die beiden Projektleitenden sind fasziniert, wie die Steine durch überdimensionale Erdbewegungen aus der Tiefe an die Oberfläche gedrückt wurden. Sie sind Zeitzeugen ganz besonderer Art, Zeugen einer Zeit nämlich, die die Dauer eines Menschenlebens um das Tausend- und Millionenfache übertrifft.

Steine aus allen Tälern

Das Alter der Steine variiert mit ihrer Herkunft. Einige stammen aus oberen, jüngeren Gesteinsschichten, beispielsweise die Sedimentablagerung des Flimser Bergsturzes, auch Ruinalta genannt. Sie entstand vor knappen 9500 Jahren. 250 bis 300 Millionen Jahre alt dagegen ist der Verrucano, benannt nach dem Ort seiner ersten geologischen Bestimmung, dem italienischen Monte Verruca. Der Verrucano stammt aus den tiefen Schichten einer Sedimentfolge, die sich in Flüssen und saisonalen Wildbächen als Ablagerungen des variskischen Gebirges bildete. Infolge vielfältiger, auch vulkanischer Einlagerungen tragen die Verrucano-Steine vielerlei Farben, infolge metamorpher Verformungen auch überraschende Muster.

Violett, rötlich, grünlich und fast schwarz zusammengesetztes Verrucano-Gesteinsmaterial liegt unter der grossen Linde vor der katholischen Kirche, in direkter Nachbarschaft zur Steingruppe auf dem Landsgemeindeplatz. Während die horizontal installierten Verrucanos zum Sitzen und Klettern einladen, stehen die Gegenüber auf dem zentralen Platz da wie eine Landsgemeinde fremdartiger Wesen: Mit Granit aus dem Val Cristallina über Puntegliasgranit, Marmor aus dem Val Lumnezia und Tuffstein aus Schlans bis zum Bündnerschiefer hat sich eine illustre Gesellschaft versammelt, mit einer eigensinnigen und poetischen Präsenz.

Zuweilen erinnern die aufrechten Steine mit ihren Köpfen und Höckern, Nasen und Schultern an Menschen oder  Tiere. Dies ist ganz im Sinn der Projektleiter, die diese Wesen vor zwei Jahren an Berghängen und Bachläufen der Surselva geborgen haben. Auf einem Werkplatz in Rueun haben sie überwintert und wurden dann von einer Gruppe junger Steinbildhauer unter der Anleitung von Aubry und Zanetti so vorbereitet, dass sie in der Ilanzer Altstadt auf temporären Fundamenten in ihre jeweilige Position gebracht werden konnten. Einzelne Stellen der Findlinge wurden bearbeitet, damit die Charakteristik und geologische Formation in Fugen und Schliffen ans Tageslicht kommt.

Sperrige Findlinge

Die schwersten Brocken unter den 200 Gebirgsfragmenten sind die beiden Cristallinagranite vor dem Rathaus: Sie wiegen zusammen 12 Tonnen. Wer im Zug anreist, wird auf dem Perron von einem fast 3 Tonnen schweren Granit begrüsst. Die Bergregion der Surselva erzählt mit ihren magmatischen, metamorphen und sedimentären Gesteinen Weltgeschichte, von der Verschiebung der Kontinentalplatten bis zum Flimser Bergsturz: Erd­geschichte in vielen Schichten.

«Schicht­wechsel» heisst der von verschiedenen regionalen Firmen und Institutionen initiierte Verein und ebenfalls die diesjährige, erste Ausstellung. Die Wortwahl ist so spielerisch und vielschichtig wie die Gesamtanlage der Langzeitausstellung: Der «Schichtwechsel» betrifft die Schauspieler der um die Steine herum aufgeführten Theaterstücke genauso wie die Spazier­gängerinnen, die ihren Alltag neu erleben. Geologische Gesteinsschich­ten überlagern sich mit den Raumschichten der Stadt, die sperrigen Neuzugänge wecken eine neue Aufmerksamkeit auf die Aussenräume der Ilanzer Innenstadt.

Hier soll etwas passieren: Sperrig und eigensinnig sind die Steine, die von den Berghängen he­run­tergebracht und in die Stadt gestellt wurden. Am Strassenrand, vor einem Hotel und einem Souvenirgeschäft, vor und hinter Kirchen und mitten auf dem Landsgemeindeplatz wurden sie  installiert und werden so rasch nicht wieder verschwinden.

Raum einnehmen

Die Surselva-Steine sind Einheimische und Fremdlinge zugleich, die Raum einnehmen und vor allem anfangs auch Irritationen ausgelöst haben. Es ist eine Veränderung mit vertrautem Material aus den benachbarten Bergen, aber in einer so urtümlichen Form, wie sie die Steine in der Stadt bisher nie hatten. Es sind weder Randsteine noch Torbögen, es sind keine Stützen und keine Ornamente, sondern riesige Brocken aus den umliegenden Bergen.

Auf dreieinhalb Jahre, bis 2025, ist das Ausstellungsprojekt angelegt, jedes Jahr wird ein neues Thema gewählt. Die Steine sind die Auslöser verschiedenster Aktivitäten: Fachreferate und Podiumsdiskussionen, auch in Zusammenarbeit mit dem Museum Regional Surselva in Ilanz, genauso wie Workshops, Performances und Wanderungen stehen auf dem Programm, als integraler Teil der Initiative Zentrums­entwicklung der Gemeinde. Die Steine werden also bei Weitem nicht still und stumm in der Stadt stehen.

Schichtwechsel, Altstadt Ilanz, frei zugänglich, bis 2025.
schichtwechsel-la-surselva.com

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