Gram­ma­tik der Stadt­de­tails

In «Bedeutsame Belanglosigkeiten − Kleine Dinge im Stadtraum» beleuchtet Vittorio Magnago Lampugnani die Geschichte des Stadtmobiliars und urbaner Kleinarchitekturen – und erklärt, warum nichts das Gesicht einer Stadt so sehr prägt wie die Kultur ihres öffentlichen Mobiliars.

Data di pubblicazione
25-03-2020

Einer, der sich wie kein Zweiter dem städtischen öffentlichen Raum und seiner ­Geschichte verschrieben hat, ist Vittorio Magnago Lampugnani. Nach Stationen in Berlin und Frankfurt am Main sensibilisierte der aus Rom stammende Architekt als Leiter des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) an der ETH Generationen von Zürcher Studierenden für die essenziellen Bausteine von Stadtgestaltung und Städtebau.

Mittlerweile emeritiert, hat Lampugnani nun unter dem Titel «Bedeutsame Belanglosigkeiten» ein Buch herausgebracht über all das, was im Zwischenraum der Städte anzutreffen ist: jenes nutzbringende Mobiliar, das dem Stadtraum erst zivilisatorischen Komfort verleiht, ihn aber auch schmückt. Es sind die Kristallisationspunkte städtischen Lebens: Pavillons, Kioske, Tramhaltestellen, Litfasssäulen, Bänke, Telefonzellen, Mülleimer.

Der Städtebauhistoriker gliedert das Stadtmobiliar in Kleinarchitekturen, Objekte (Brunnen, Leuchten usw.) und «Elemente», womit raumbe­grenzende Dinge wie Schaufenster, Einfriedungen und Pflasterungen gemeint sind. So entsteht eine regelrechte Grammatik der Stadtdetails. Sie ist weit gefächert, offeriert erstaunliche Fakten und Fundstücke und ist dabei über weite Strecken ausgesprochen unterhaltsam.

Bloss keine Katalogware

Viele der porträtierten Objekte könnte man unter dem Begriff «Stadt­möbel» fassen – hätte das Wort nicht den Beiklang einer Drohung, da man es mit jenen Sitzbänken oder Fahrradhaltern aus den Katalogen von Metallwarenherstellern verbindet, mit denen anspruchslose Verwaltungen ihre Stadträume bestücken.

Neben historischem Interesse war das wohl Lampugnanis zweites Motiv, dieses Buch zu verfassen: seinen Lesern zu vermitteln, dass diese vermeintlichen Belanglosigkeiten – und ihre Beschaffenheit – sehr wohl bedeutsam sind, weil sie wesentlichen Einfluss darauf nehmen, wie wir den Alltagsraum einer Stadt erleben. Denn, so der Architekturhistoriker, «tatsächlich erzählen die kleinen Objekte des Stadtraums nicht nur die eigene, sondern auch die Geschichte ihrer Stadt».

Einer Stadt, die auf sich hält, sind diese funktionalen Kleinigkeiten keineswegs egal. Städten wie Zürich, Paris oder München, die sich der Tradition ihrer Stadtmöblierung bewusst sind, kommt es nicht in den Sinn, ihre Freiräume mit beliebiger Katalogware zu bestücken. Im Ideal­fall lassen sie eigene Objekte (wie den Zürcher Hai-Müllkübel) entwickeln, zugleich schützen sie ältere Objekte, die sich bewährt haben.

In kaum einer zweiten Stadt wird diese Kultur so gepflegt wie in Zürich. Mit dem sogenannten Orangenen Ordner verfügt die Verwaltung zudem über ein detailliertes Gestaltungsmanual, das für fast jede Aufgabe eine Lösung anbietet.

Augen­fällig und im Buch entsprechend gewürdigt ist die fast durchweg hohe Qualität der Tramhaltestellen, auch jenseits von architektonischen Blickfängen wie dem kühn auskragenden Pavillon am Bellevue, 1939 nach Plänen von Hermann Herter und Fritz Stüssi errichtet. Und in kaum einer ande­ren Stadt kann sich der Stadtwanderer an so vielen – und so ­unterschiedlichen – Brunnen erfrischen: Schmuckbrunnen und Trinkbrunnen, mal aufwendig-repräsentativ, mal bescheiden als schlichtes Steinbecken in einer Mauer.

Von der Säule zum Tempel

Auch prosaische Bauten wie die öffentliche Toilette klammert der Autor nicht aus. Bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts gab es sie nahezu ausschliesslich für Männer, in Form von Pissoirs. In Zürich etwa entstand erst 1893 am Bürkliplatz eine erste öffentliche Damentoilette. Dagegen waren in Paris um 1870 bereits fünf verschiedenen Typen von Pissoirs gebräuchlich. Die Frühform bildet eine frei stehende, an einer Seite offene Säule, die «colonne ­Rambuteau», deren obere Hälfte
als Anschlagsäule diente. Eine – zumal in der Metropole der Eleganz – erstaunlich ungeschützte
Art, sein Bedürfnis zu verrichten. Erst Gabriel Davioud, Chefarchitekt unter Haussmann, führte ab 1870 Sicht­blenden aus Blech ein.

Das Berliner Pendant dieser Einrichtungen war das 1876 von Carl Theodor Rospatt entworfene, legendäre «Café Achteck». Um 1900 omni­präsent in der Stadt, hat von den grün lackierten gusseisernen Häuschen immerhin eine Handvoll Exemplare überdauert. Der klassizistische Duktus dieses Oktogons und sein diskret vor die Eingangstür gerücktes eisernes Paravent bilden in der Tat eine perfekte Tarnung: Bei meinem ersten Berlinbesuch musste ich mir erst erklären lassen, was es mit diesem gartenlaubenartigen Tempelchen auf sich hat.

Angesichts des gestalterischen Ideenreichtums vergangener Zeiten fällt Lampugnanis Urteil über die uniforme Tris­tesse moderner Automatiktoiletten hart aus: «Austauschbar, abweisend, mittelmässig.»

Im Kapitel «Objekte» widmet sich der Verfasser dem wichtigsten Grundbaustein einer Stadt, den Belägen von Strasse und Plätzen. Es war ein langer Weg, bis sich Asphalt als Bodenbelag der modernen Stadt durchgesetzt hatte. So ging die Londoner Verwaltung nach anfänglicher Pflasterung mit Granit und ersten Versuchen mit Asphalt Ende des 19. Jahrhunderts dazu über, die Strassen der Metropole mit Holz zu pflastern – die noblen mit Hartholz, die weniger noblen mit Kiefer. Dies einerseits den vielen Reitern zuliebe, andererseits um die Verkehrsgeräusche zu dämpfen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand dieses urbane Parkett endgültig.

Dock für Leihvelos

Auch künftig werden Städte mit der Gestaltungsaufgabe des städtischen Mobiliars konfrontiert sein, man denke nur an die Ladesäulen für Elektrofahrzeuge oder an bislang fehlende Abstellanlagen für die den Stadtraum vermüllenden E-Roller und Leihfahrräder. Lampugnani appelliert an die Verantwortlichen, Sorgfalt walten zu lassen bei solch neuen Gestaltungsaufgaben wie auch bei der Pflege des Vorhanden.

So erwächst aus der Wertschätzung des facettenreichen Erbes im öffentlichen städtischen Raum auch eine Verantwortung für die Zukunft. Die öffentliche Kontroverse, die etwa in Berlin vor einigen Jahren um die Abschaffung der verbliebenen gasbetriebenen Strassenleuchten entbrannte, unterstreicht, dass viele Menschen eine wachen Blick für die spezifischen Details ihrer Stadt haben. Schön, dass endlich ein Buch diese städtische Dingwelt würdigt, und gut, stammt es aus der Feder dieses Autors.

Angaben zur Publikation

 

Vittorio Magnago Lampugnani: Bedeutsame Belanglosigkeiten −
Kleine Dinge im Stadtraum.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019.
192 Seiten, Mit vielen Abbildungen. Grossformat. Klappenbroschur,
ISBN 978 3 80313687 9, Fr. 41.50

 

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