Fei­n­ju­stie­rung ei­nes Bahn­via­duk­ts

Alptransit

Wie sollen Schnellzüge auf einem Viadukt fahren, der sich wegen ­des schlechten Baugrunds um bis zu einem halben Meter setzen würde? Die Ingenieure des Projekts erläutern ihr anspruchvolles Konzept.

Data di pubblicazione
28-04-2016
Revision
28-04-2016
Thomas Bühler
Ing. dipl. ETH, direttore Tunnel e tracciato, AlpTransit San Gottardo SA

Der Ceneri-Basistunnel verbindet als Teil der neuen Gotthard-Alpentransversale (vgl. TEC21 32 – 33/2015) die Agglo­merationen von Bellinzona im Norden und Lugano im Süden. Beim komplexen Verkehrsknoten Camo­rino verbindet der 1 km lange Viadukt Lu­ga­no – Bellinzona  das Nordportal des Ceneri-Basistunnels mit der bestehenden Bahnlinie Bellin­zona –Locarno – Luino. Das Bauwerk ist das Ergebnis einer interdisziplinären Ingenieur- und Architektenleistung  und wurde im Rahmen des ersten «Building Award» in der Kategorie Grund-, Tief- und Infrastrukturbau zusammen mit vier anderen Projekten nominiert.

Neben ­der sorgfältigen Einbindung in die Landschaft waren verschiedenste Bahn- und Strasseninfrastrukturen zu berücksichtigen, die sich zum ­Teil noch ­in Planung befinden, ­wie etwa der Ausbau der zweiten NEAT-­Phase ­oder die Stadterweiterung ­mit der ­Stazione Ticino. Der Viadukt wird zusammen mit dem Ceneri-­Basis-tunnel voraussichtlich Ende 2020 ­in Betrieb genommen.

Gleise ohne Dilatationen

Die Tessiner Ingenieurgemeinschaft CIPM integrierte die bahntechnischen und ungünstigen lokalen Randbedingungen in ein anspruchs­volles Viaduktkonzept (ein ausführlicher Bericht zur Planung findet sich in TEC21 41/2008, «Il Nodo di Camorino»): Für Schnellbahnstrecken mit Geschwindigkeiten über 140 km/h müssen vertikale Verformungen und differenzielle Rotationen (unter 0.6 ‰) bei den Überbaudilatationen strikt begrenzt werden.

Die Gleise mit 850 m Kurvenradius mussten undilatiert und ohne Schienenauszugsvorrichtungen ausgeführt werden. Zu­gleich ­ist der Baugrund mit mächtigen Schichten aus organischen Tonen stark setzungsempfindlich und die Interaktion des Viadukts mit ­den benachbarten Infrastrukturen gross. Diese widersprüchlichen Rahmenbedingungen bewältigte ­die Ingenieurgemeinschaft mit unkonventionellen Lösungen: Der Viadukt wurde in 78 m bis 152 m lange Sektoren unterteilt.

Als statisches Grundsystem wählte man eine Kombination von Rahmentragwerken und Sprengwerken mit zwei oder drei Spannweiten, die die Anfahr- und Bremskräfte aufnehmen und Längsverschiebungen bei den Dilatationen auf maximal 20 mm begrenzen.

Die Pfeilerstiele sind gelenkig auf den Fundationen aufgelegt und in der Regel mit dem Überbau monolithisch verbunden. An den Sektorenrändern sind die Pfeilerstiele durch Betongelenke (vgl. Kasten «Betongelenk», ­unten) mit dem Überbau verbunden, um die Schnittkräfte infolge der horizontalen Belastung zu begrenzen. Der Überbau ist als Kastenquerschnitt ausgebildet und für ­die Bemessungssituation mit häufig auftretenden Nutzlasten voll vorgespannt. Sämtliche Vorspannkabel mit 31 bis 37 Litzen weisen einen Korrosionsschutz der Kategorie C auf.

Ihre beweglichen Verankerungen sind alle in der Mitte der Sektoren angeordnet, womit die Ausführungsreihenfolge der verschiedenen Sektoren flexibel gestaltet werden konnte. Um den Kippnachweis für den Lastfall Erdbeben zu erfüllen, sind am Fuss der höheren Pfeiler zusätzliche Kabel angeordnet, die in den Fundationen verankert sind. Die Pfeiler sind auf einer kombi­nierten Pfahl-Platten-Gründung fundiert. Trotz den extrem ungünstigen Bodeneigenschaften lassen sich die Setzungen infolge ständiger Lasten auf insgesamt ­­­30 mm begrenzen.

Vorbelasteter Baugrund

Der setzungsempfindliche Boden war die grösste Herausforderung: Drei Jahre vor Baubeginn des Viadukts wurden temporäre, pyramidenförmige Vorbelastungen bei jeder Pfeilerachse erstellt und mit Extensometer überwacht, mit dem Ziel, rund 80 % der potenziellen Setzungen vor Baubeginn zu erzeugen.

Damit die tolerierbaren Grenzwerte des Überbaus sicher eingehalten werden, kann der Überbau über ihre Auflagerelemente nachträglich um 100 mm angehoben werden. Diese sind am Pfeilerfuss angeordnet, um Unterhaltsarbeiten und Anhebeinterventionen zu vereinfachen. Sie bestehen aus zwei Topflagern und einem Schubdornlager, die die vertikalen respektive horizontalen  Kräfte (Nser=10–17 MN, Vser= 4–8 MN) aufnehmen.

Belastungsversuche dienten als Grundlage für die Bemessung der Pfahlfundationen. Die Tragfähigkeit konnte mit bis ­zu 8000 kN getestet werden. Dabei wurden die absolute Verschiebung am Pfeilerkopf und die internen Deformationen mittels «sliding micrometers» analysiert. Zusätzlich dienen Längs­träger als Zugbänder zwischen den Fundamenten, um die Restrisiken in Bezug auf allfällige Horizontalverschiebungen abzudecken.

Einheitliche Erscheinung

Die Beratungsgruppe für Gestaltung (BGG) stand der Ingenieurgemeinschaft während des gesamten Bauvorhabens zur Seite. Als Autorin der gestalterischen Richtlinien der ganzen Gotthardachse nahm sie Einfluss an den Gesamtentwurf. Sie setzte sich für die charakteristischen, scheibenartigen V-Pfeiler ein, die der bei Bahnbrücken oft vorhandenen Massivität entgegenwirken. Die Tunnelröhre beim südlichen Abschluss des Viadukts übernimmt die Formensprache der danebenliegenden doppelspurigen Hauptröhre. Diese Einheit des Portals stellt ein architektonisch und landschaftlich starkes Element am Fuss des Hangs unter der Autobahn dar.

Am Bau Beteiligte
 

Bauherrschaft
AlpTransit

Architektur
BGG

Projektierung
Ingenieurgemeinschaft Piano di Magadino (CIPM), Biasca: Filippini & Partner Ingegneria, Biasca; Studio d’Ingegneria G. Dazio & Associati, Cadenazzo; Studio d’Ingegneria Bernardoni, Lugano; brenni engineering, Mendrisio

Örtliche Bauleitung
Ingenieurgemeinschaft dspp, Bellinzona: Spataro Petoud Partner, Bellinzona; dsp Ingenieure & Planer, Greifensee


Betongelenk

Die Gelenke am Kopf der Pfeiler­stiele der Sektorenränder wurden nach dem anerkannten Berechnungsmodell von Fritz Leonhardt definiert, dessen Gültigkeit im Zusammenhang mit Versuchen der Empa am Hardturmviadukt geprüft wurde.

Die For­schungsarbeit «Betongelenke im Brücken­bau» des Deutschen Beton- und Bautechnik-­Vereins wies die Über­tragung des Modells auf die heutige Normengeneration 2010 nach.

Nach eingehender Analyse der verschiedenen Last- und Verformungsfälle wurde die Gelenkhalsbreite mit 5 cm gewählt, um den erzielten dreiach­sigen Spannungszustand zu gewährleisten. Anhand von zwei Prototypen im Massstab 1:1 wurden die ausführungstechnischen Pro­ze­duren opti­miert.

Insbesondere wurde auf die Betonrezeptur, die genaue Verlegung der Bewehrungen, die Bauphasen und die Definition des Kontrollplans speziell geachtet. Die Ausführung der 22 Betongelenke des Viadukts bereiteten keine nennenswerte Schwierigkeiten.

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