In­ne­re Dis­zi­plin

Fachhochschulzentrum St. Gallen

Das neue Zentrum der FH St. Gallen wurde von giuliani.hönger geplant. Mit seiner pragmatischen Haltung verkörpert es Tugenden der Fachhochschulen. Der Städtebau ist sauber hergeleitet und bleibt dennoch diffus –vorläufig.

Publikationsdatum
12-02-2014
Revision
13-10-2015

Kurz bevor der Zug in der filigranen Bahnhofshalle von St. Gallen verschwindet, zeigt sich den Passagieren ein 65m hoher Turm am Fusse des Rosenbergs. Die neue Fachhochschule mit ihrem prägnanten Sockel ist für Zugreisende nicht zu übersehen und vom Bahnhof in wenigen Minuten zu erreichen – besser könnte die Anbindung an den öffentlichen Verkehr nicht sein.

Trotz diesem Vorteil war das Geviert, in dem die neue Hochschule steht, lange Zeit keine besonders gute Adresse: In den heruntergekommenen Häusern zwischen den Gleisen und der viel befahrenen Rosenbergstrasse hauste die überschaubare Besetzerszene der Stadt, sonst verirrte sich kaum jemand in die Gegend.

Aber es ist Bewegung in das kleine Quartier gekommen: In der benachbarten Lokremise bilden Kino, Theater sowie ein Ableger des Kunstmuseums einen kulturellen Hotspot, der Besucher auf diese Seite der Gleise zieht. Und nun werden auch die 3000 Studentinnen und Studenten der Fachhochschule das Quartier bevölkern und es mit ihrem Kommen und Gehen beleben.

Die vier Studienrichtungen der Hochschule – Gesundheit, Soziale Arbeit, Technik und Wirtschaft – waren einst auf acht Standorte in der Region verteilt. Vor etwas mehr als zehn Jahren fand der Wettbewerb für ein gemeinsames Schulgebäude statt. Das Programm war anspruchsvoll, denn die Hochschule sollte nicht nur Raum für Lehre und Verwaltung bieten, sondern auch noch einige Probleme beim Bahnhofsgebäude lösen, das sich auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise befindet: Auf dem Bahnhofplatz kamen sich individueller und öffentlicher Verkehr immer öfter in die Quere.

Eine Tiefgarage und eine Velostation unter der Fachhochschule sollten öffentlichen und privaten Verkehr weitgehend entflechten. Zudem war im Programm vorgeschrieben, die Vorfahrt für die Autos ebenfalls auf die Rückseite des Bahnhofs zu verlegen. Zu guter Letzt sollte der Neubau auch noch einen Entwicklungsschub im Quartier auslösen. Vom Siegerprojekt wurde also auf allen Ebenen einiges erwartet.

Am Ende gab der Städtebau den Ausschlag. Mit seiner klaren Haltung setzte sich das Büro giuliani.hönger im Wettbewerb von 2003 gegen die Konkurrenz durch: Sein Projekt meistert das Programm in einem prägnanten Solitär und bezieht sich geschickt auf unterschiedliche Strukturen des Stadtgefüges. Der Sockel mit den Unterrichtsräumen füllt das gesamte zur Verfügung stehende Geviert aus und übernimmt die Traufhöhe der Häuserzeilen an der Rosenbergstrasse. Mit diesem Kunstgriff bettet sich die fünfstöckige Basis in ihre unmittelbare Umgebung ein.

Auf der Südseite springt das Erdgeschoss zurück, markiert mit einem überdachten Vorplatz den Eingang und vermittelt zum Bahnhof. Die Büros der Institute, des Lehrkörpers und der Verwaltung liegen im Turm, der auf eine andere städtebauliche Ebene verweist: Zusammen mit dem verglasten Rathaus und dem steinernen Turm der Hauptpost spannt er nun ein Dreieck über Bahnhof und Gleisfeld.

Der Zufall wollte es, dass giuliani.hönger 2009 auch den Wettbewerb für die Neugestaltung des Bahnhofplatzes gewannen. So kann das Büro nun auch die Anbindung an die andere Seite der Stadt ergänzen. Mit der neuen Bahnhofsvorfahrt in der Tiefgarage des Schulbaus ist dafür ein erster Schritt getan.

Das Innere überrascht

Auch wenn sich Sockel und Turm auf unterschiedliche Strukturen beziehen, liest sich das Haus dennoch als zusammenhängende Figur. Ein Raster mit einem Achsmass von 250cm durchdringt das gesamte Gebäude und gliedert auch die Fassaden. Diese bestehen rundherum aus eingefärbten und sandgestrahlten Betonelementen, die sich mit ihrem warmen Beige auf die lokale Bautradition beziehen: Sie imitieren den Savoyer Sandstein, der im St. Gallen der der Gründerzeit häufig zum Einsatz kam. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich die feine Differenzierung der Tektonik von Sockel und Turm.

Im überhohen Erdgeschoss mit den öffentlichen Nutzungen stehen die vorfabrizierten Elemente direkt auf dem Boden und tragen die vier Unterrichtsgeschosse, bei denen die horizontalen Fassadenelemente vorstehen. Das verleiht dem Sockel einen liegenden Charakter und unterstreicht die Wirkung der bis zu 60m langen Fassaden. Im Turm hingegen stehen die vertikalen Bauteile vor, was ihn zusätzlich in die Höhe streben lässt.

Gegen aussen erscheint der Sockel als homogener und ausgefüllter Block. Umso grösser ist die Überraschung, wenn nach dem gedrungenen Eingang plötzlich eine gläserne Decke den Blick nach oben freigibt. Aus der Eingangshalle zeigt sich der Turm in seiner vollen Grösse von den Grundpfeilern bis zur Krone. Der Grundriss enthüllt, mit welchem Kniff die Architekten die enorme Tiefe des Gebäudes in den Griff bekommen haben: Der Sockel ist eigentlich ein Blockrand, und der Turm steht in dessen Mitte.

Die schmalen Seiten des Turms berühren den ausgestanzten Block und verbinden ihn zu einer eckigen Acht. Dadurch erhält das Haus an seiner Basis zwei Ausschnitte, durch die Licht in das tiefe Gebäude eindringt. Der kleinere Hof im Osten bildet einen offenen Lichthof über dem verglasten Dach des Eingangsbereichs, während der grössere Hof im Westen komplett überdacht ist und die zentrale Halle der dreigeschossigen Mediathek umfasst. 

Ausdruck und Inhalt passen zusammen

Rund um die beiden Höfe erstrecken sich Korridore, und dahinter, in der äussersten Schicht des Sockels, befinden sich die Unterrichtsräume, die vom Tageslicht profitieren. Die Pläne bergen noch eine weitere Überraschung: Die Fachhochschule zeigt sich gegen aussen in einer klaren Geometrie, was vermuten liesse, dass der rechte Winkel ebenfalls ihren Fussabdruck dominierte.

Doch die unregelmässige Gestalt des Blockrands verzieht die Kanten des Sockels. Seine gerasterte Fassade umfasst auf den Längsseiten 25 Elemente, auf den kürzeren Seiten einmal 22 und einmal 19 Elemente. Dadurch tauchen im Innern immer wieder Ecken auf, die mit spitzen und stumpfen Winkeln Spannung in das streng gerasterte Gebäude bringen. Auch der Turm ist alles andere als ein Rechteck. Mit 10, 6, 9 und 7 Elementen übernimmt er an drei Kanten die Ausrichtung seiner Basis und verjüngt sich zusätzlich gegen Norden, um seine Nachbarn nicht über Gebühr zu beschatten. 

All diese unterschiedlichen Geometrien sind gekonnt ineinander verwoben, denn nirgends zeigt sich ein Bruch im räumlichen Raster. Die Perfektion belegt, wie viel Energie die Architekten in die Logik der Struktur investiert haben. Das Gebäude drückt damit Eigenschaften aus, die für die Fachhochschulen stehen: Das Wissen dient robust und belastbar der Anwendung. Genauso, wie das Haus in St. Gallen ohne viel Aufhebens Platz schafft für die Studierenden. Utilitas und Firmitas haben hier Vorrang. 

Leider bleibt dieser lösungsorientierte Ansatz im Städtebau vorläufig unsichtbar. Noch wirken die Plätze vor und neben dem Haus verloren. Dies wird sich erst ändern, wenn auch die beiden Ergänzungsbauten erstellt sind, die giuliani.hönger vorschlagen (vgl. Situationsplan). Dann werden die Aussenräume gefasst und die Erschliessung nachvollziehbar: Momentan verzweigen sich die beiden Aufgänge aus der Unterführung vor dem Haus und führen zwei Mal präzise am Eingang vorbei. Lediglich die Orientierung zur Rosenbergstrasse ist auf lange Zeit verbaut, denn nur ein Hörsaal und die zugeklebten Fenster der Küche zeigen auf die Strasse, die der Neubau hätte beleben können. 

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