Den Lehm stüt­zen

Interaktion von Lehm und Beton

Die Dimension der Lehmfassade ist Neuland. Für Herzog & de Meuron und Schnetzer Puskas Ingenieure eine ungewöhnliche Aufgabe, die sie pragmatisch angingen.

Date de publication
15-01-2015
Revision
05-10-2015

Das Ricola-Kräuterzentrum in Laufen ist ein grosszügiger Kubus aus Stampflehm, der durch ein inneres Stahlbetonskelett getragen und stabilisiert wird. Im Grundriss rechteckig, weist er Abmessungen von 111 x 30 m auf und ist 11 m hoch. Teile des Gebäudes sind unterkellert und über einen unter Terrain liegenden Gang mit der weiteren Produktion verbunden. Der Kubus ist grundsätzlich eine grosse Halle. Im mittleren Bereich sind eine Besucherzone und die Aufenthaltsräume des Personals angeordnet; die Halle hat hier einen Zwischenboden aus Massivbau. Alle übrigen Einbauten sind Stahlleichtbauten.

Die Architekten und der Lehmbauer bezogen die In­genieure von Schnetzer Puskas schon während der ­Vorprojektphase in die Projektentwicklung mit ein. So wurde baustoffspezifisches, unternehmerisches, ­architektonisches und ingenieurspezifisches Fachwissen von ­Beginn an zusammengetragen. Die angestrebte Fugenlosigkeit und die notwendige Beweglichkeit der Lehmfassade sollten geklärt und die entsprechenden Detailkonstruktionen ausgearbeitet werden. Doch wie geht man ein solches Projekt an, für das Verantwortlichkeiten und Schnittstellen ungewohnt sind und für dessen Materialisierung insbesondere der Ingenieur erst noch ein Gespür entwickeln muss 

Schnittstellen und statisches Repertoire

Zwei Aspekte in der Planungsphase legten die Grundsteine, die das Vorhaben zum gewünschten Ziel führten: erstens das projektspezifische Organigramm der Planenden. Die Bauherrschaft sollte nicht die Schnittstelle zwischen Lehmbauer und Ingenieur sein, und die Organisation sollte nicht durch vertragsspezifisch optimalste Aufteilungen bestimmt werden. Vielmehr entsprachen die vertraglichen Verknüpfungen während jeder Projektphase dem fachlichen Kommunikationsweg.

Die Verantwortung lag stets bei denselben Personen, weil die Fachplaner während des Vor- und Bau­projekts sowie der Ausführung dieselben blieben. Die Kommunikation war direkt und enthielt weniger fehleranfällige Schnittstellen. So setzten die Planenden Schnetzer Puskas Ingenieure zweimal ins Organigramm: einmal als klassische Bauingenieure für die Tragkonstruktion in Stahlbeton, das andere Mal als Bauingenieure und Berater für den Lehmbau.

Der zweite Aspekt war die adäquate Anwendung des bestehenden statischen Repertoires auf die lehmspezifische Bemessung und Dimensionierung. Der Baustoff Lehm ist weder normiert noch standardisiert – Lehm nach Eigenschaften, wie es bei Beton der Fall ist, gibt es nicht. Das Schwindmass und die Konsistenz können variieren, die Materialeigenschaften sind unterschiedlich. Dennoch bildet das vorhandene Repertoire an klassischen baustatischen Methoden die Grundlage, um eine Stampflehmfassade zu bemessen und zu dimen­sionieren.

Der Lehmbauer spezifizierte den Stampflehm, der aus dem Laufentaler Boden gewonnen wurde, in Zusammenarbeit mit den Ingenieuren und abgestimmt auf die Anforderungen, die das Bauwerk vorgab. Sie legten das spezifische Gewicht, die ungefähre Zug­festigkeit sowie das Schwind- und Kriechmass, das von der Wassermenge im Lehm abhängig ist, fest (vgl. Kasten). Die Ingenieure bauten darauf das statische Konzept des gesamten Tragwerks auf und führten die Berechnungen aus. Sie entwickelten schrittweise das notwendige Gespür und Gefühl für den Werkstoff mit seinen Eigenschaften.

Betonskelett trägt stehende Lehmfassade

Das statische Konzept des Hauptgebäudes besteht aus einem Skelettbau aus Stahlbeton mit vorgesetzter Stampflehmfassade. Der Skelettbau ist eine biegesteife Pfosten- und Riegelkonstruktion aus vorfabrizierten Stahlbeton­elementen. Die Bauherrschaft liess das Tragwerk aus Beton herstellen, weil es als Massivbau optisch zum ­massiven Lehmbau passte. Eine Stahlkonstruktion wäre zu filigran und zu duktil gewesen, und auf den Flanschen hätten Staub oder Kräuterreste aus der Produktion ­liegen bleiben können. Ein Stahlskelett hätte also aus ästhetischen, hygienischen – Ricola-Bonbons gelten als Medizin – und tragwerkspezifischen Gründen nicht mit dem Lehmbau harmoniert. Die Pfosten und Riegel weisen Abmessungen von 55 x 55 cm bzw. 55 x 60 cm auf. 19 Querachsen und drei Längsachsen liegen auf einem Stützenraster von 6.10 x 6.10 m.

Die mittlere Längs­achse teilt sich bei den Büros und den Verarbeitungsstätten in zwei auf. Es kann ein Korridor angeordnet werden. Die Aussteifung des Hauptge­bäudes erfolgt allein durch die biegesteifen Rahmen. Die Querriegel spannen als Zweifeldträger über den Stützen und sind gelenkig an den Fassadenstützen angeschlossen. Um die notwendige ausstei­fende Zweigelenkrahmen-Konstruktion zu gewähren, sind die Stützen entsprechend an ihren Füssen in Längs- und Querrichtung eingespannt. Streifenfundamente und Rammpfähle gewähren die Lastabtragung in den lehmhaltigen Baugrund. Im Endzustand funktionieren die Dachträger als Plattenbalken; der Überbeton (19 cm) auf den vorfabrizierten Elementen (6 cm) bildet als ­Verbunddecke eine aussteifende Scheibe.

An das Stahlbetonskelett rückverankert ist die fugenlose 45 cm dicke Stampflehmfassade. Denn die Fassade ist stehend, also nur in vertikaler Richtung selbsttragend. Die horizontalen Einwirkungen wie Wind und Erdbeben müssen abgefangen werden. Allerdings ist die Interaktion zwischen den zwei Materialien Beton und Lehm nicht zu unterschätzen: Lehm schwindet und schrumpft mit der Zeit mehr als Beton – bei seinem isotropen Verhalten auch noch in alle Richtungen. Die Befestigung der ­Lehmfassade am steifen Betonskelett muss daher verschiebbar sein, sonst reisst die Fassade. Stahllaschen, befestigt an Halfenschienen, die in alle Betonstützen eingelassen sind, schaffen die notwendige vertikale Beweglichkeit.

Auf der kurzen Gebäudeseite wurden extra dafür zusätzliche Fassadenstützen angeordnet. Das horizontale Schwindmass des Lehms kann im Allgemeinen aufgefangen werden, weil sich die Fassade horizontal verformen kann. So wurden die Gebäudeecken nicht mit der Tragkonstruktion verbunden, um auch hier die notwendige Beweglichkeit zu erhalten. Wegen ihrer geometrischen Form sind sie ohnehin stabil und können Horizontalkräfte aufnehmen. Am Fassadenfuss hingegen, wo die Lehmfassade wegen ihrer Saugfähigkeit auf einem Dämmbetonsockel steht, werden die Verformungen verhindert. Es entstehen Zwängungen, und es bilden sich kleine verteilte Risse, die der Lehm aber selbst «heilt».

Die Schwächen sind auch die Stärken

Lehm ist kein Alleskönner. In konventioneller Denk­weise ist der Lehm schwer, steif und wenig duktil. Aus­serdem ist Lehm kein Biegetragmaterial. Eine Dach­konstruktion wäre deshalb einzig als architektonisch gebundene Gewölbekonstruktion möglich; auch die Wände müssten – wenn sie denn horizontale Kräfte abtragen können sollen – in geschwungener Form ausgeführt werden. Doch man sollte das Material gemäss seinen guten Eigenschaften einsetzen. Die Ingenieure wussten diese zu nutzen.

Die vermeintlichen Schwächen erweisen sich in einem anderen Zusammenhang und unter anderen Rahmenbedingungen als Stärken. Die Wasserlöslichkeit zum Beispiel ist verantwortlich für die Feuchtigkeitsregulierung und dafür, dass der Lehm zu 100% reversibel ist. So muss der Fassadenfuss zwar auf einem Sockel aus Dämmbeton stehen, weil er sonst zu viel Wasser aufsaugen und sich auflösen ­würde. Doch gerade die Porosität und die Kapillarwirkung ­bewirken, dass Lehm dicht ist – Lehm quillt und dichtet die Fassade auf natürliche Weise ab. 

Die Porosität des Stampflehms gleicht zudem Temperatur und Feuchtigkeit im Innenraum aus. Infolge ihrer Masse nivelliert die Lehmwand Tagesschwankungen und glättet Jahresschwankungen. Der Lehm schafft im Innenraum der Betriebsstätte also ganz ohne Technik ein passendes Raumklima. Allerdings nur in den Bereichen Kalt-Kalt – im mittleren Bereich des Gebäudes, wo die Büroräumlichkeiten untergebracht sind und geheizt wird, besteht die Aussenwand aus einer Zweischalenkonstruktion.

Schwinden konstruktiv auffangen

Der Wassergehalt des Lehms wirkt sich auf das Schwindmass aus. Die Ingenieure mussten deshalb nicht nur zwischen Tragkonstruktion und Lehmfassade, sondern bei allen Details konstruktive Lösungen finden, um das Schwindproblem aufzufangen. So schliesst ein feines Blech den Dachrand ab, und der Luftraum zwischen Lehm und Blech fängt die differenziellen Setzungen infolge Schwindens zwischen Betonskelett und Lehmwand auf – bis zu 5 cm können das am Dachrand sein. Die Lehmfassade kann unter dem Blech frei schrumpfen. Auch die runden Fenster lassen sich nicht ohne Weiteres in die Fassade integrieren, weil auch hier das Schwinden rund um den Rahmen Risse in der Lehmschicht ver­ursachte, hätten die Ingenieure nicht eine ausgeklügelte, aber in sich einfache Detailkonstruktion entwickelt, die genau dies verhindert. An den zwei Hälften der Fensterrahmen sind jeweils zwei Stahllaschen an­geschweisst. Sie bilden auf halber Fensterhöhe das

Auflager des Stahlrahmens in der Lehmwand. Oben und unten am Rahmen sind Hohlräume angeordnet. Auf diese Weise werden das Setzmass halbiert und die Setzungsdifferenzen zwischen dem oberen und unteren Punkt des Rundfensters ausgeglichen; es entstehen keine grössere Risse. Die horizontalen Lasten gibt das Kreisfenster über kurze, als Pendelstützen ausgebildete Zug- bzw. Druckstahlstäbe an die mittig innenliegende Betonstütze ab.

Kognition als Ingenieurbaukunst

Mit jedem Konstruktionsdetail ist die Erfahrung des Ingenieurs für den Lehm gewachsen. «Dimensionen auf ihre Richtigkeit einzuschätzen war zu Beginn der ­Planung kaum möglich», erläutert Heinrich Schnetzer. «Wir haben aber nichts Neues erfunden. Wir sahen ­Zusammenhänge und quantifizierten sie, und wir zogen Rückschlüsse aus Verhalten anderer Baustoffe. So konnten wir im Voraus beurteilen, wie sich Lehm unter bestimmten Belastungen verhalten würde.»

Beim Neubau des Kräuterzentrums das Wort Innovation zu verwenden, wäre zu hoch gegriffen. Die Ingenieure haben vor allem bestehende baustatische Methoden auf Neues angewendet. Darin liegt hier aller­dings die beachtenswerte Ingenieurbaukunst: über­geordnete Gesichtspunkte bezüglich Werkstoff und Baustatik zu betrachten, zu bewerten und neu anzuwen­­­­­­den – auf kognitiv höchster Ebene. Man darf gespannt sein, wie der althergebrachte Werkstoff Lehm mit diesem Entwicklungsschritt im Bauwesen vorankommt. 

Lehm-Kennwerte


Druckfestigkeit: 2.40 N/mm2
Biegezugfestigkeit: 0.52 N/mm2
Scherfestigkeit: 0.62 N/mm2
Schwindmass: 0.8 %
Kriechmass: 0.2 %
Rohdichte: 2300 kg/m3

Am Bau Beteiligte


Architektur
Herzog & de Meuron Architekten AG


Tragwerk
Schnetzer Puskas Ingenieure

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