Auf dem Bo­den blei­ben

Im Gleichgewicht von Pflicht und Kür

Ohne grosses Spektakel sanieren JOM Architekten ein Mehrfamilienhaus auf dem Freudenberg. Mit viel Gespür für Feinheiten wissen sie, wo es sich lohnt, Akzente zu setzen.

Date de publication
28-08-2014
Revision
18-10-2015

Was den Zürchern die «Pfnüselküste», ist den St. Gallern der Freudenberg: Die Wohnlage am Nordhang des Tals ist weniger attraktiv als auf dem gegenüberliegenden Rosenberg – trotz Seeblick, wie der gleichlautende Name der Villa von 1908 an der Schneebergstrasse verdeutlicht. Zwar stehen auch auf dem Freudenberg in höheren Lagen stattliche Villen, doch sind sie längst nicht so repräsentativ wie auf der anderen Talseite, und in den meisten Fällen handelt es sich um Mehrfamilienhäuser. Dies mag erklären, weshalb der Umbau der Jugendstilvilla an der Schneebergstrasse zurückhaltend und pragmatisch erfolgte: Das Sockelgeschoss wurde zu einer Wohnung umgebaut, im Dachgeschoss zwei neue Einheiten eingebaut – die drei dazwischen liegenden Stockwerke mit je zwei Wohnungen jedoch wurden lediglich aufgefrischt.

Die Sanierung von 2014 führt damit nahtlos die laufende Erneuerung des Gebäudes fort. Dies zeigt sich insbesondere in einem Detail: In den 1980er-Jahren wurden im ganzen Haus Kunststofffenster eingebaut. Puristen hätten diese im selben Aufwasch durch Holzfenster ersetzt. Doch die «Villa Seeblick» ist ein Haus, das benutzt werden will – und letzten Endes auch eine Investi-tion, die Rendite abwerfen muss. Da die Lebensdauer der offensichtlich unpassenden Fenster noch nicht abgelaufen war, blieben sie erhalten und werden wohl erst bei der nächsten Sanierung ausgewechselt.

Räumliche Vielfalt unter dem Dach

Trotz dieser Ausgangslage konnten JOM Architekten aus Zürich einige markante Akzente setzen. Die Maisonettewohnungen im Dachgeschoss fallen spektakulär aus und verleihen dem Dach einen neuen Ausdruck; von der Traufe aufwärts ist die Sanierung gegen aussen deutlich ablesbar. Die Schleppgauben wurden durch Gauben mit flachem Dach und Drehkippfenstern ersetzt, im zweiten Dachgeschoss sind zudem einige hinzugekommen; die mächtigen Kamine wurden abgebrochen; zusätzliche Dachflächenfenster bringen Licht in die Wohnung. Kurz nach der Fertigstellung glänzen die kupfernen Abdeckungen der Gauben noch etwas grell und lassen die Aufbauten stark hervortreten, doch mit der Zeit werden sie oxidieren und sich der Farbe der Ziegel anpassen.

Hingegen konterkarieren die elf Gauben und fünf Dachflächenfenster den ursprünglich behäbigen Ausdruck des Dachs. Sie sind das unübersehbare – und auch etwas zwiespältige –  Zeichen einer ausgeweiteten Nutzung. Verstecken wollten die Architekten die Gauben auf jeden Fall nicht: Deren Fensterrahmen nehmen die rote Farbe des Zierriegels auf, in dem die Giebel ausgeführt sind. Das funktioniert auf drei Seiten hervorragend, lediglich auf der Strassenansicht stiftet es ein wenig Verwirrung, da dort das Treppenhaus in Natursteinquadern anstelle des Fachwerks ausgeführt ist – die roten Fensterrahmen erscheinen auf dieser Seite episodisch. 

Für den Ausbau der Dachwohnungen nutzten die Architekten geschickt die Geometrie des Kreuzgiebels: Mit einer gewendelten Treppe trennen sie eine Eingangshalle ab, um die herum sich ein Kranz von Wohnräumen anordnet. Hinter der Treppe liegt jeweils ein kleines, gefangenes Zimmer unter dem westlichen bzw. dem östlichen Giebel. Durch eine achteckige Öffnung in der Wand der Treppe im Osten geht der Blick auf den neu in seiner ganzen Fläche befensterten Giebel. Auch wenn die Wohnung unter dem mächtigen Dach kompakt ist, schaffen die Durchblicke eine verblüffende räumliche Tiefe und Weite.

Die Giebelzimmer folgen mit ihrer Decke der Form des Dachs, wodurch vielgestaltige und spannungsvolle Raumfiguren entstehen. Im oberen Dachgeschoss bieten beide Wohnungen noch eine Nasszelle, eine Galerie und ein zusätzliches Zimmer. Vom Obergeschoss der westlichen Wohnung geht eine steile Treppe hoch bis auf die sieben Quadratmeter kleine Dachterrasse. In den Dachwohnungen ist den Architekten eine anregende, verwinkelte Komposition gelungen. 

Den Jugendstil interpretieren

Die zweite grosse Änderung betrifft den Zugang zum Haus. Vor dem Umbau befand sich der Eingang am Fuss des Gebäudes, eingeklemmt zwischen Erdgeschoss und dem steilen Hang. Die Eingangstür wurde nun um zwei Stockwerke nach oben versetzt, und eine zierliche Passerelle mit gezacktem Dach führt von der Schneebergstrasse hinab zum Haus. Wie steil der Hang an dieser Stelle abfällt, zeigt sich daran, dass der neue Hauseingang nun zwischen dem zweiten und dritten Obergeschoss zu liegen kommt – auch wenn die Passerelle selbst noch beinahe zwei Meter in die Tiefe führt. Bei der Gestaltung dieses Zugangs haben sich die Architekten vom Jugendstil leiten lassen; als Referenz dienten die organisch geschwungenen Abgänge aus Gusseisen in die Pariser Métro mit ihren prägnanten Glasdächern.

Das geknickte Dach und das Metallgeländer zitieren den Jugendstil in einer abstrakten Form, die Tür mit einem dreidimensional gefrästen Ornament, die Leuchten und insbesondere der frei geformte Türgriff mit Knabenmotiv (Gestaltung: Romy Rechsteiner) greifen dann schon direkter auf das historische Vorbild zurück. Souverän spielen hier die Entwerfer die Ökonomie der Mittel aus. Mit wenigen, beherzten Eingriffen geben sie dem Haus eine neue Note und holen es in die Gegenwart. Die restlichen Arbeiten an den Fassaden beschränken sich auf eine neue Farbgebung: Die graue Fassade hat einen perlweissen Anstrich erhalten, wodurch die Natursteinverkleidungen im Sockel und Risalit besser zur Geltung kommen. Vor der Sanierung unterschied sich die Farbe des Putzes kaum von der des Steins, der grüne Anstrich von Rollladen und Traufkante nahm der Villa ihre städtische Eleganz. 

Mit dem Blick fürs Wesentliche

Das Wirtschaftlichkeitsprinzip – den St. Gallern mit ihrer berühmten Universität nicht gänzlich fremd – bestimmte auch die Sanierung der restlichen Wohnungen. Die Eingriffe in den Zwischengeschossen blieben im Wesentlichen auf die Küchen und Bäder beschränkt. Dabei greifen die Architekten auf bewährte Mittel zurück: Zementfliesen mit geometrischen Mustern, englisch verlegte Keramikfliesen und ein Riemenparkett für den Eingangsbereich, der neu gestaltet wurde. Das Material ist hochwertig, die Architektursprache passt zur Entstehungszeit des Gebäudes. Ohne dogmatische Verrenkungen oder grosse Gesten erfüllt die Villa nun aktuelle Wohnansprüche. 

Wie subtil dieses ausgewogene Nebeneinander von Bestand und neuen Elementen umgesetzt werden kann, belegen die Küchen: Anstelle der üblichen Einbaumöbel, die den Raum vom Boden bis unter die Decke füllen, stehen in der «Villa Seeblick» Möbel mit einer Höhe von 1.60 Meter im Raum. Zwar gibt es weniger Möglichkeiten, Geschirr und Kochgerät zu verstauen, dafür wird die Küche wieder als vollwertiges Zimmer wahrgenommen. Hier sind die Architekten von der Norm im Wohnungsbau abgewichen – sehr zum Vorteil des Hauses und seiner Atmosphäre. Sie haben mit viel Sinn für das Machbare und das Angebrachte eine Balance gefunden, um dem Haus sowie seinen Bewohnerinnen und Bewohnern gerecht zu werden. Der Wechsel der Eingriffstiefe bildet die grosse Stärke der Sanierung: Mit einigen wenigen Glanzpunkten erhält die solide Grundhaltung Würze. 

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