«Das Be­wusst­sein ist hoch»

Interview mit Thomas Gremminger

Wildtiere können sich in Mitteleuropa immer seltener frei bewegen. Es gibt verschiedene Ansätze, ihre Situation zu verbessern. Für den Kanton Aargau ist die Verankerung in der Raumplanung zentral.

Date de publication
19-06-2014
Revision
18-10-2015

TEC21: Herr Gremminger, im Aargau gibt es 31 überregionale Wildtierkorridore. Viele sind nicht mehr intakt. Seit wann arbeiten Sie daran, die Durchlässigkeit zu erhöhen 
Thomas Gremminger: Die Wildtierkorridore wurden 1996 in den kantonalen Richtplan aufgenommen. Eine Weile ist nichts passiert. Dann sind die vereinigten Umweltverbände auf die Kantonsregierung zugegangen und haben Druck gemacht. Daraufhin wurde zwischen 2001 und 2003 ein Sanierungskonzept erarbeitet. Darin hat man sich 30 Jahre Zeit gegeben, die 31 Korridore aufzuwerten, wieder durchgängig zu machen und zu sichern. Jetzt sind wir zehn Jahre dran.

Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden?
Gremminger: Ja, es hat sich einiges getan. Am Baregg wurde vor rund einem Jahr die Erfolgskontrolle einer neuen Grünbrücke über die Kantonsstrasse und einer grossen Unterführung unter der A1 wiederholt. Es zeigte sich, dass alle Zielarten die Bauwerke nutzen. Auch die Korridore Oberlunkhofen-Jonen, Seengen-Boniswil oder Oberwil konnten wir verbessern. Wir bauen viele Kleintierdurchlässe für Marder, Dachs oder Wiesel und versuchen die Situation von Autofahrern und Grosswild durch Sensoranlagen zu verbessern. Was für mich aber noch wichtiger ist: Das Bewusstsein in der Bevölkerung und bei den Gemeinden ist inzwischen recht hoch.

Auf dem Weg hierher in Ihr Büro hatte ich den Eindruck, die Gemeinden bauen intensiv. Sind sie mit ihren Überbauungen schneller als Sie?
Gremminger: Von 220 Gemeinden im Aargau sind vielleicht 80 bis 90 von den Wildtierkorridoren betroffen. Zwar haben noch nicht alle Gemeinden die Wildtierkorridore in ihren Nutzungsplänen, aber im Rahmen der üblichen Revisionen werden diese Vorgaben des Richtplans aufgenommen. Wir als Kanton haben die Aufgabe, die heiklen Stellen raumplanerisch zu sichern. Damit sind wir schon recht weit.

Wie machen Sie das?
Gremminger: Wir haben einen Planungsgrundsatz und Planungsanweisungen im Richtplan, die besagen, dass die Durchgängigkeit der Wildtierkorridore nicht vermindert werden darf und die Gemeinden die Durchgängigkeit in ihren Nutzungsplänen sichern. Wir prüfen alle Bau- und Planungsvorhaben. Bei Baugesuchen oder Planungsverfahren nehmen wir Stellung und haben bei der Interessenabwägung ein gewisses Gewicht. Der Richtplaneintrag ist behördenverbindlich. Auf kommunaler Ebene braucht es die Nutzungspläne. Wenn wir wollen, dass alle die Wildtierkorridore berücksichtigen, müssen im Kulturlandplan der Gemeinde Landschaftsschutzzonen oder spezielle Zonen «Wildtierkorridor» ausgewiesen sein. Das bedeutet: Die Regelung wird grundeigentümerverbindlich. 

«Nicht alle Menschen möchten Luchs, Bär und Wolf in ihrer Nähe haben.»

Wie sieht eine solche Regelung konkret aus?
Gremminger: Wir haben eine Mustervorlage für die Bau- und Nutzungsordnung der Gemeinden erarbeitet. Dort schlagen wir vor, die Korridore im Kulturlandplan auszuscheiden, und schreiben vor, dass die Durchlässigkeit ungeschmälert zu erhalten ist. In dieser Zone sind dann verschiedene Bauten und Installationen wie Tiergehege, unnötige Lichtemissionen verursachende Anlagen etc. unzulässig. 

Wie erfahren die Planer davon?
Gremminger: Die Mustervorlage geht an alle Planer, die von Gemeinden einen Auftrag zur Zonenplanrevision haben. Wir sind baulich vielleicht noch nicht so weit wie andere Kantone, aber in Bezug auf die Raumplanung führend. In diesem gesicherten Umfeld können wir mit der Jägerschaft, dem Bauernverband und der Forstwirtschaft sprechen und unsere baulichen Massnahmen umsetzen. 

Wo fangen Sie an?
Gremminger: Unser grösstes Projekt ist der Suret, ein national bedeutender, klassischer Wildtierkorridor mit Mehrfachbarriere. Das Gebiet wird durchschnitten von der Autobahn A1, einer vierspurigen Bahnlinie mit Nachtverkehr, der vierspurigen Aaretalstrasse T5 und zwei Kantonsstrassen. Hinzu kommt, dass das Aareufer teilweise verbaut ist. Gesamtschweizerisch liegt hier eines der wichtigsten Nadelöhre, das das Queren des Mittellands in Nord-Süd-Richtung und eine grossräumige Verbindung vom Schwarzwald zu den Voralpen ermöglicht. Wir arbeiten seit 2003 mit unterschiedlicher Intensität daran, die Durchlässigkeit wiederherzustellen. 

«Wir sind baulich vielleicht noch nicht so weit wie andere Kantone, aber in Bezug auf die Raumplanung führend.»

Wer führt die Massnahmen aus?
Gremminger: Hauptsächlich der Verursacher, das heisst für die Verkehrsträger das Bundesamt für Strassen (Astra), die SBB und die Abteilung Tiefbau des Kantons. Die SBB haben im Oktober 2013 zwei neue Unterführungen mit einer Investitionssumme von rund 10 Mio. Franken wildtiergängig verbreitert. Die Abteilung Tiefbau wird an den Kantonsstrassen Kleintierdurchlässe bauen, und das Astra hat zugesichert, 2017/2018 eine Grünbrücke über die A1 zu erstellen. Das Kraftwerk muss im Rahmen der Neukonzessionierung die Betonplatten am Aareufer entfernen und das Ufer wildtiergängig gestalten. Unsere Aufgabe ist es, die verschiedenen Vorhaben zu koordinieren. Eine gemeinsame Datenbank gibt es nicht. 

Können Sie auch unabhängig von Bund und SBB die Situation für die Wildtiere verbessern?
Gremminger: Unsere Hauptaufgabe ist es, die eigenen Vernetzungsprojekte im Kulturland, im Wald und an den Gewässern voranzubringen. Wir haben zum Beispiel beim Wildtierkorridor Oberlunkhofen-Jonen eine Intensivobstanlage verlegt. Solche Anlagen sind eingezäunt und verhindern so das Queren. Für den Umzug der Bäume, den Schutz vor Hagel, Regen oder Sonne, die Bewässerungs- und Retentionsanlage hat der Kanton 110.000 Franken investiert. Das war ein längerer Prozess, denn es musste so organisiert sein, dass der Landwirt keine finanziellen Einbussen hatte. Das Beispiel zeigt: Es gibt viele Möglichkeiten, die Durchgängigkeit zu verbessern, man braucht allerdings Ideen und die entsprechenden Finanzen. Bisher war das im Aargau nicht so problematisch, aber künftig wird das Geld knapper.

Was bereitet Ihnen sonst noch Kopfzerbrechen?
Gremminger: Zwei Dinge. Zum einen die wieder zunehmende Produktionsorientierung der Landwirtschaft. Es ist schwierig, die Landwirte dazu zu bewegen, dass wir unsere Vernetzungsmassnahmen auf ihren Produktionsflächen umsetzen dürfen. Wenn der Landwirt auf seiner Fläche Heckenstrukturen zulässt und im Idealfall auch pflegt, wird er seit 1993 zwar über Direktzahlungen vom Bund und Zusatzzahlungen vom Kanton abgegolten, aber er muss erst mal wollen. In der Regel erwerben wir das Land nicht, sondern erstellen nur die Strukturen. Wenn es um Kernlebensräume ging, haben wir auch schon Land gekauft. Wir können den Grundeigentümer aber nicht zwingen, das Land abzutreten. 

Und was ist der zweite Punkt?
Gremminger: Die Kosten von Grossbauwerken, vor allem wenn wir ohne Bund oder SBB bauen müssen. Sollte eine Grünbrücke bei einer Kantonsstrasse nötig sein, braucht es einen Kredit beim Grossen Rat. Ob die grüne Infrastruktur in einem Umfeld, das eher Richtung Sparen geht, ausreichend Gewicht erhält, ist nicht sicher. 

Haben Sie ein Beispiel, von dem Sie wissen, dass es auf Sie zukommt?
Gremminger: Wir müssen die Grünbrücke über die T5 selbst bauen, weil die kantonale Autobahn im Zug der Referendumsabstimmung zur Autobahnvignette nun doch nicht an den Bund übergeht. Die T5 ist der kurze vierspurige Autobahnzubringer von Hunzenschwil bis Aarau. Wir planen dort die erste Grünbrücke mit einer Holzunterkonstruktion in der Schweiz.1 Wir sprechen von rund 9 Mio. Franken, die aus der kantonalen Strassenkasse finanziert werden müssen.

Wann sind solche grossen Bauwerke gerechtfertigt, abgesehen von SBB-Linien und Autobahnen?
Gremminger: Ab 10.000 Fahrzeugen pro Tag rechnet man mit einer erheblichen Barrierewirkung. Ist die Belastung geringer, setzen wir zum Beispiel Sensoranlagen ein. Sie sind verhältnismässig günstig. Die Tiere sind zwar nicht hundertprozentig geschützt, aber die Anlagen warnen immerhin die Autofahrer und Autofahrerinnen.2 Der starke Rückgang der Wildunfälle auf den drei Strassenabschnitten mit solchen Anlagen bestärkt uns, weitere Stellen durch Sensoranlagen zu entschärfen. 

Gibt es ein Warnsystem, das sich bemerkbar macht, wenn auf einem Strassenabschnitt der Verkehr dauerhaft stark zunimmt?
Gremminger: Wir kennen natürlich die Verkehrsbelastung, die alle paar Jahre neu erhoben wird. Aber wie sich die zunehmende Belastung auf das Wanderverhalten der Tiere konkret auswirkt, ist schwierig zu beurteilen. Es wäre also eine interessante Aufgabe zu prüfen, wie sich die Situation an einer Stelle verschärft und ob die Barrierewirkung zunimmt. 

Ist es denkbar, dass ein Bauwerk nur erstellt wird, um einer seltenen Art das Wandern zu ermöglichen?
Gremminger: Ich möchte das nicht auschliessen, aber politisch stelle ich mir das schwierig vor. Es gibt wahrscheinlich auch nur wenige solcher Arten – in Gewässern der Fischotter und an Land Luchs, Bär und Wolf. Diese Tiere möchten allerdings nicht alle Menschen in ihrer Nähe haben. Die Ausbreitung des Luchses wird eher durch Umsiedlung gefördert. 

Der Kanton Aargau spielt aufgrund der Grenznähe eine wichtige Rolle. Wie ist die Zusammenarbeit mit Deutschland?
Gremminger: Schwarzwald, Hotzenwald und Dinkelberg sind ennet der Grenze das Pendant zum Jura, mit einer Vielzahl von Biotopen und Arten. Dank der geringen Distanz sind diese Naturräume relativ einfach zu vernetzen. Wir suchen den Kontakt mit den zuständigen Stellen in Baden-Württemberg. Eine Herausforderung wird die A98 sein, wenn diese durchgehend in Betrieb gehen wird. Auf den Plänen ist die Durchgängigkeit momentan sichergestellt. Unsere Wildtierkorridore im Rheintal wurden bereits verbindlich festgelegt. Und wir sind an der Projektierung der verschiedenen Massnahmen. Hier müssen wir gemeinsam weitergehen. Denn wir investieren viel Zeit und Geld, und es wäre ein Irrsinn, wenn diese Anstrengungen an der Landesgrenze enden würden. 

Anmerkungen

  1. Das Tiefbauamt des Kantons Aargau plant über die Schnellstrasse T5 eine Holzkonstruktion. Nach Aussage des Projektleiters Guido Sutter liegt jedoch erst ein Auflageprojekt vor, das ungefähr einem Vorprojekt nach SIA entspricht. Das heisst, verschiedene technische Details sind noch nicht abschliessend festgelegt. 
  2. Bei üblichen Anlagen werden die Wildtiere mit akustischen Signalen vor herannahenden Autos gewarnt, oder fixe Warntafeln weisen auf die potenzielle Gefahr durch Wild hin. Neue Systeme erfassen nicht nur die Bewegungen des Wilds und leiten diese als Warnsignal weiter, sondern sie können die Daten der Sensoren auch abspeichern. Diese Informationen machen deutlich, nach welchem Muster sich die Wildtiere bewegen. Wenn ein Tier die Infrarotstrahlen unterbricht, leuchten am Strassenrand Warntafeln auf, und die Fahrzeuglenker können das Tempo reduzieren. 
Magazine

Sur ce sujet