«Mit der Zeit wird sie an Glanz ver­lie­ren»

Interview mit Martin Dietrich

Die Hängebrücke in Sigriswil ist eine bemerkenswerte Konstruktion. Bekannt ist sie aber auch wegen ihres «Blendeffekts». Ist der Eingriff in die Landschaft zu markant? Wir fragten Martin Dietrich, der die Brücke geplant hat. Seine Antworten sind entwaffnend ehrlich.

Date de publication
25-04-2014
Revision
18-10-2015

Die Hängebrücke in Sigriswil am nördlichen Ufer des Thunersees zeichnet sich durch verschiedene Besonder­heiten aus: Sie ist eine der längsten und gleichzeitig eine der höchsten Fuss­gängerhängebrücken weltweit. Das Budget der Bauherrschaft, eines privaten Vereins, war knapp, und dennoch ist ein aus konstruktiver Sicht beachtenswertes Bauwerk entstanden. Die Widerlager sind an den Hangkanten der beiden Dörfer Sigriswil und Aeschlen gesetzt. Dadurch steht das Ingenieurbauwerk an markanter Stelle der Berglandschaft. Verweilt man einen Augenblick im Trogträger in der Mitte der Spannweite, steht man 230m über dem mittleren Seespiegel des Thunersees. Eine schwindelerregende Erfahrung.

TEC21: Herr Dietrich, die Hängebrücke in Sigriswil erhielt wegen ihres «Blendeffekts» zusätzliche ­Aufmerksamkeit. Dies verdeutlicht, wie markant der Eingriff eines Ingenieurbauwerks in die Landschaft sein kann. Wie reagieren Sie auf diese Tatsache?
Martin Dietrich: Die Planung der Brücke war eine Teamarbeit, und sie ist im Wesentlichen so herausgekommen, wie wir uns das vorgestellt haben. Wir haben sie im Modell gebaut und am Computer visualisiert, um die wichtigsten Entwurfs- und Konstruktionsentscheide zu überprüfen. Dennoch bin ich überrascht, wie sich das fertige Bauwerk aus verschiedenen Blickwinkeln immer wieder neu zeigt. Von der Hangseite her und von unten wirkt sie fili­gran und transparent. Vom See aus betrachtet ist der Lochblechträger geschlossen. Ebenso von innen aus dem Blickwinkel der Benutzer, was für Leute mit Höhenangst ein Vorteil ist. Und am späteren Nachmittag ist sie bei tiefem Sonnenstand von der anderen Seeseite her gut sichtbar. Aber von einem Blendeffekt zu sprechen ist übertrieben. Im Winter, wenn Schnee liegt, sieht man sie kaum.

Wie gingen Sie während der Projektierung mit der Aufgabe um, das Bauwerk in die Landschaft zu betten?
Dietrich: Ich kannte den Ort vorher nicht besonders gut. Aber uns war bewusst, dass diese Brücke ein markanter Eingriff in das Landschaftsbild sein würde. Beim Gesamtleistungswettbewerb1 haben wir uns deshalb eingehend mit der Situation auseinandergesetzt. Wir untersuchten mehrere Varianten in Bezug auf die Linienführung und die konstruktive Ausführung. So kam z. B. bei der horizontalen Linienführung nicht die Lösung mit der kürzesten Brückenlänge zum Zug. Mit der längeren Variante mussten wir weniger Waldfläche roden lassen, und wir konnten die Anzahl der betroffenen Landeigentümer, die vom Brückenprojekt nicht alle gleichermassen begeistert waren, reduzieren. Das sind Punkte, die Kosten und Termine markant beeinflussen – also für die Realisierbarkeit des Bauvorhabens entscheidend sind.

Eine Tieferlegung ins Tal kam nicht infrage?
Dietrich: Nach dem Entscheid des Wettbewerbs haben wir im Zug des Baubewilligungsverfahrens diskutiert ob, es richtig war, die Brücke oben auf der Hangkante zu platzieren. Aber ein Tieferlegen hätte lange Zugangswege bedingt – auf der Seite von Sigriswil in einem Hang mit einer Neigung von 45 Grad. Das Bauwerk sollte schulwegtauglich und behindertengerecht sein, somit wären wesentliche Mehrkosten entstanden. Die Bauherrschaft und die Gemeinde haben sich deshalb klar für die oben liegende Variante ausgesprochen. Immerhin hat die Brücke ein Längsgefälle von 2.5%, sodass sie im Gegenhang von Aeschlen um 8.5m tiefer ankommt. Und wir haben uns zum Ziel gesetzt, durch eine sorgfältige Gestaltung ein Bauwerk zu schaffen, das sich nicht zu verstecken braucht. 

Haben Sie das Projekt auch hinterfragt?
Dietrich: Ich habe mich natürlich gefragt, wie viel Technik die Landschaft verträgt, ohne dass ich mich auf diesem Gebiet besonders kompetent fühle. Für mich als Ingenieur ist es eher eine Gefühlssache. Dieses Gefühl sagt mir: Es verträgt hier solche Brücken, doch die weiteren sollten möglichst filigran und transparent sein, sodass die Panoramabrücke Sigriswil das markanteste Bauwerk bleibt, denn sie dient nicht nur einem touristischen Zweck, sondern ist auch verkehrstechnisch wichtig.2 ­Ähnliches überlegte ich mir im Übrigen bei den rein touristischen Aussichtsplattformen, bei denen ich als Ingenieur beteiligt war.3 Ingenieurtechnisch ist eine solche Konstruktion stets eine grosse Herausforderung, aber damit ich mit gutem Gewissen mitmachen kann, sollten ein paar Randbedingungen stimmen.

Wann ist es für Sie denn gerechtfertigt, an einem solchen Projekt mitzuwirken?
Dietrich: Wenn folgende Kriterien erfüllt sind: Der Ort ist bereits erschlossen, das Objekt erfüllt einen klaren Zweck oder bietet einen Mehrwert, es soll sorgfältig geplant, einfach rückbaubar und wenn möglich rezyklierbar sein. Zudem hilft es, wenn die Chemie zwischen Bauherrschaft und Planern stimmt und man sich mit den Zielen identifizieren kann. In Sigriswil hatten wir diesbezüglich keine Vorbehalte. Wenn die Brücke einmal nicht mehr gebraucht wird, ist sie rasch wieder rückgebaut. Selbst das kleine gerodete Waldstück wächst in kurzer Zeit nach. Den Beton haben wir sehr sparsam eingesetzt. Ich habe es als Kompliment verstanden, wenn die Leute während der Bauphase kaum glauben konnten, dass für eine so grosse Brücke derart kleine Fundamente ausreichen würden.

Die Konstruktion ist ein kostengünstiger Kompromiss zwischen einer Touristenattraktion und einer täglich genutzten Erschliessung.
Martin Dietrich: In der Tat war eine Lösung gefragt zwischen einer komfortablen städtischen und einer hochalpinen, auf Abenteuer und Herausforderung ausgelegten Hängebrücke. Weil die Brücke auch als Schulweg dient, sollte sie hinsichtlich Sicher­heitsgefühl und Schwingungsverhalten höheren Ansprüchen genügen als eine hochalpine Hängebrücke. Die Fussgängerlast haben wir mit 2.5 kN/m2 festgelegt, unter Berücksichtigung einer laut Euronorm für lange Brücken zulässigen Abminderung; die Brücke trägt insgesamt 1360 Personen à 75kg. Um die Kosten von 1.15 Mio. Fr. für das reine Brückenbauwerk ein­zuhalten, war eine effiziente Konstruktion gefragt. Bei den als Längsträger wirkenden Seitenwänden bestimmte die Statik die erforderlichen Blechstärken und den maximal möglichen Lochanteil. Der Brücken­boden ist mit Profilrosten ausgelegt. Das sind 2.5mm dünne Abkantbleche mit gestanzten Löchern, die einen gegen oben, damit der Gehweg rutschfest ist, die anderen gegen unten, damit das Wasser abläuft – eine clevere Erfindung. Sie sind dichter als ein Gitterrost, weshalb Menschen mit Höhenangst oder Hunde weniger Probleme haben.

Gehen die Meinungen über dieses Bauwerk gerade deshalb so weit auseinander? Von «geniales Ingenieur­bauwerk» bis «hässliches Stahlmonster» ist die ganze Palette an Reaktionen zu hören.
Martin Dietrich: Es ist gut zu wissen, dass sich Fachleute in der Regel positiv über das Bauwerk äussern, besonders dann, wenn sie es vor Ort und nicht nur von der gegenüberliegenden Seeseite aus besichtigt haben. Über gewisse Details lässt sich natürlich diskutieren, aber das ist gut so. Den Begriff «hässliches Stahlmonster» habe ich übrigens zum ersten Mal in einem Bericht über den Eiffelturm gelesen. So hat offenbar eine Mehrheit der Pariser das Projekt damals kommentiert. Sicher wäre in Sigriswil eine Holzbrücke charmant gewesen. Der Wettbewerb hat aber gezeigt, dass in dieser Situation und mit diesen Dimensionen ein Holzbau punkto Wirtschaftlichkeit und Dauerhaftigkeit chancenlos war. 

Sind solche Ansichten Geschmackssache?
Martin Dietrich: Der Ausdruck «Geschmackssache» zeugt von einer gewissen Ratlosigkeit. Ich bin jeweils froh, wenn ich eine Meinung mit klaren, technischen Argumenten begründen kann. Ich wurde beispielsweise gefragt, warum sich die Pylone in Sigriswil nach vorn neigen – wenn man an einem Seil ziehe, lehne man sich doch zurück. Nach aussen geneigte Pylone hätten aber den Pylonfuss weit hangabwärts versetzt, die Knicklänge fast verdoppelt und den Hang ungünstig belastet. Und bei belassenem Pylonfuss hätte sich der Pylonkopf so verschoben, dass die Abspannseile über die Brückenenden hinaus bis in den Sportplatz gereicht hätten. Das hat die gewählte Lösung bestätigt. Oder die Diskussion um den Farbanstrich: Ursprünglich wollten wir die Brücke duplexieren, also feuerverzinken und mit einem anthrazitfarbigen Deckanstrich versehen. Neben den Mehrkosten wäre aber die Gefahr von Montageschäden gross gewesen, also verzichteten wir darauf. Später kam die Idee auf, das seeseitige Blech mit einem dunklen «Tarnanstrich» zu versehen. 
Das konnten wir abwenden mit dem Einwand, dass die Farbe auf dem Untergrund nicht haften und sich der Träger infolge grösserer Temperaturdifferenzen horizontal verformen würde. Das Feuerverzinkte dunkelt mit der Zeit ohnehin nach. Nun sollte man der Brücke etwas Zeit geben, bis sie in einigen Jahren von selber etwas an Glanz verliert. 

Anmerkungen

  1. Für die ersten beiden Brücken des Rundwegs hat der Verein Panorama Rundweg Thunersee einen Gesamtleistungswett­bewerb durchgeführt. Es ging um die Brücken in Sigriswil über den Guntenbach und in Leissigen über den Spissibach. Grundlage dazu bildete das ­Wettbewerbsprogramm vom September 2009. 
  2. Informationen zum Panorama Rundweg Thunersee unter www.brueckenweg.ch
  3. Martin Dietrich konnte auf dem Gemmipass, dem Harder bei Interlaken und dem Stockhorn Plattformen mitplanen oder selber planen; eine weitere wird in ­diesem Jahr von den Schilthornbahnen ob Mürren realisiert.

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