«Mit ei­ge­nen Ideen und ei­ner Mo­torsäge ein­zie­hen»

Das Zollhaus im Zürcher Industriequartier ist Standort für ein Experiment zur Aneignung von Wohnraum: Grosszügige Hallen laden Bewohnende zum Selberbauen ein. Die Wohnpioniere versprechen sich davon ein gemeinschaftlicheres und bereichernderes Stadtleben.

Date de publication
02-11-2020

Das Zollhaus ist schon länger Thema für die Medien: Die Neue Zürcher Zeitung staunte im Sommer über die grosse Nachfrage nach gemeinschaftlichem Wohnraum bei gleichzeitigem Verzicht auf ein eigenes Auto. Das Schweizer Fernsehen strahlte im Frühjahr 2019 einen Dokfilm über «anders Wohnen in einer Halle» aus1. Und Hochparterre berichtete ebenfalls letztes Jahr über Anfangsprobleme dieser Selbstbau-Idee.

Tatsächlich musste die Genossenschaft konzeptionell nachbessern, um das Wohnhallenprinzip umsetzen zu können. «Neben baurechtlichen Fragen liessen auch finanzielle Hürden die Ursprungsidee scheitern», bestätigt Zollhaus-Projektleiter Andreas Billeter die Überarbeitung. Ins Programm der gemeinnützigen Wohn- und Gewerbesiedlung kam das Hallenwohnen, weil sich unter anderem ehemalige Fabrikbesetzer im Zollhaus-Beteiligungsverfahren dafür einsetzten.

Das Konzept zum Eigenausbau ist in der nun ausgeführten Version entschlackt und vereinheitlicht. Zur Verfügung stehen acht schall- und brandschutztaugliche Hallenformate von 40 bis 280 m2 Fläche und 4.1 m Höhe; Nasszellen und Haustechnik sind ebenfalls vorbereitet. Für die Vermietung der Wohnhallen fand ein Bewerbungsverfahren statt. Deren zwei richtet eine Gruppe aus vier Erwachsenen mit Kindern im Alter von einem bis zwölf Jahren gemeinsam ein. TEC21 sprach mit dem künftigen Bewohner Gian Trachsler drei Monate vor dem Einzug.

 

TEC21: Herr Trachsler, was versprechen Sie sich vom Hallenwohnen, das es in dieser Form ja eigentlich noch nirgends gibt?

Gian Trachsler: Unsere Gruppe hat sich für ein «Hallenwohnen für Familien» beworben, weil wir nicht den Standard übernehmen wollen, wie man heute als Kleinfamilie lebt. Wir möchten lieber flexiblere und gemeinschaftlichere Möglichkeiten des Zusammenwohnens ausprobieren.

TEC21: Was meinen Sie damit?

Gian Trachsler: Wir wollen das Leben und den Raum mit an­deren Leuten teilen, über die eigene Familie hinaus. Dafür bietet uns das Hallenwohnen einen Möglichkeitsraum, den wir unserer Lebenssituation entsprechend weiterbauen dürfen. Ein weiteres Plus ist das Zusammenleben in einer selbst gewählten Grossfamilie.

TEC21: Wie darf man sich Ihren künftigen Wohnraum vorstellen?

Gian Trachsler: Wir sind daran interessiert, eine räumliche Antwort auf unsere familiäre Situation zu finden, die auf flexible Bedürfnisse im Alltag reagieren kann. Festgelegt haben wir bislang Folgendes: eine gemeinsame Küche, eine Gemeinschaftszone und zwei Privatbereiche à jeweils 16 m2, als jeweiliger Rückzugsraum für beide Familien. 

TEC21: Ist das vergleichbar mit einer Satelliten- oder Clusterwohnung, in denen Rückzugsräume jeweils mit eigener Wohninfrastruktur ausgerüstet sind?

Gian Trachsler: Man könnte es als Clusterwohnung bezeichnen, aber mit einigen Abweichungen. Der Platzbedarf ist bei uns wesentlich niedriger; wir beanspruchen eine Wohnfläche pro Kopf von etwa 20 m2, und Raum für Wohnen und Kochen gibt es ausschliesslich in gemeinsam nutzbarer Form. Von diesen Funktionen sind die privaten Rückzugsräume deshalb entschlackt. Hier zieht man sich zurück, wenn man will, zum geniessen oder auch zum streiten. Für die Kids suchen wir nach individuellen Raumvarianten. Und für die Teenies richten wir ein Zimmer mit eigenem Zugang zum Hof ein. 

TEC21: Ihre Gruppe mietet zwei Hallen, die beim Einzug klar voneinander abgetrennt sind. Wie passt das mit dem Gemeinschaftswunsch zusammen?

Gian Trachsler: Wenn wir im Januar 2021 einziehen, können wir uns vier Wochen lang einrichten. Miete bezahlen wir erst ab Februar. Der Genossenschaft haben wir angekündigt, mit einer Motorsäge einzuziehen. Wo nötig, öffnen wir Trennwände, brechen sie auf oder reissen sie ganz raus. Wir gehen davon aus, dass sich die Ausgangsstruktur stark verändern wird.

TEC21: Wäre es nicht einfacher gewesen, auf Trennwände zu verzichten?

Gian Trachsler: Deren Einbau hatte die Genossenschaft vorgesehen, und wir waren damit einverstanden. So können uns Teile der Wand als Material zum Weiterbauen dienen. Wo wir sie jedoch belassen, profitieren wir von einer bauphysikalisch und akustisch hochwertigen Trennung. Diese Wahl ist im übrigen finanziell folgenlos. Wir würden ohne Wände den selben Mietpreis bezahlen.

TEC21: Wie nutzen Sie die besondere Raumhöhe von 4 m und 10 cm?

Gian Trachsler: Diese Überhöhe liefert uns die grosse Chance zur räumlichen Freiheit: Wir verlassen das sonst übliche Gerüst mit zum Beispiel 12 m2grossen Zimmern und 2.5 m Höhe. Nun stehen uns Räume zur Verfügung, die sich in Fläche und Höhe variabel strukturieren lassen. Wir denken dazu an eine Raumlandschaft, die auf anderthalb Geschossen Nischen zum Sitzen, Kajütenbetten oder ausschliesslich für Kinder zugängliche Höhlen unter den Treppen bereithält. 

TEC21: Schränkt das halbe Zusatzgeschoss nicht ein, weil es kein vollständig nutzbarer Raum ist?

Gian Trachsler: Das Angebot, eine Halle mit eineinhalb Geschossen selbst einzurichten und zu bewohnen, bewerte ich nur positiv. Das bietet vielfältigere und spannendere Strukturierungsvarianten als der konventionelle Wohnungsraster. Auch die Höhe bietet Möglichkeiten, sich ins Private zurückziehen zu können. Wo man hinaufklettert und einen Vorhang zuziehen kann, entsteht eine gefühlte Distanz. Man muss dazu nicht einmal das offene Raumgefüge verlassen.

TEC21: Haben Sie von der Genossenschaft eine Carte blanche für den eigenen Ausbau erhalten?

Gian Trachsler: Wir übernehmen den Wohnraum so, wie er baurechtlich eingegeben und abgenommen wird. Wände herausnehmen oder überdimensionierte Kajütenbetten einbauen ist aber uns überlassen. Unser Verein hat im Mietvertrag die Auszugsklausel unterschrieben, wonach der Ursprungszustand zu hinterlassen sei. Wir haben aber sicher nichts dagegen, wenn allfällige Nachmieterinnen oder -mieter mit unseren Einrichtungsideen weiterbauen wollen.

TEC21: Meines Wissens gibt es keine Referenzadressen, was das Hallenwohnen betrifft. Die Vorstellung, wie flexibel Wohnräume sein können, scheint mir eine zentrale, aber unbekannte Grössen an. Wie leicht lassen sich Ihre Hallen anpassen, wenn sich die Familiensituation dereinst verändert?

Gian Trachsler: Die Kinder werden älter und wollen sich vermehrt abkoppeln; dafür haben wir eine erste Rochade eingeplant. Auch nach der ersten Einrichtungsphase können wir uns vorstellen, die Hallen mit Säge und anderem Werkzeug weiterzuverändern. Über künftige Anforderungen und spätere Bedürfnisse könnte man lang diskutieren. Wir legen nun jedoch nicht los und erwarten einen perfekten Zustand. Diese Freiheit ist ja gerade gesucht: den Raum an die familiären und alltäglichen Gegebenheiten durchaus spontan anzupassen.

TEC21: Sie sind nicht nur Hallenmieter im Zollhaus, sondern auch Architekt, der ein Genossenschaftsprojekt im Koch-Areal realisiert – ebenfalls in Zürich. Dort will man das Rohbauwohnen ermöglichen. Was ist der Unterschied?

Gian Trachsler: Rohbauwohnen basiert im Wesentlichen auf der Idee des Hallenwohnens. Die gemeinnützigen Bauherrschaften, die Genossenschaft Kalkbreite mit dem Zollhaus und die Genossenschaft Kraftwerk mit dem Baufeld C auf dem Koch-Areal, kennen sich untereinander bestens und tauschen ihre Erfahrungen gegenseitig aus. Doch wie die zweite Version aussehen wird, das soll ein partizipativer Prozess klären. Wir hoffen auf eigenständige Inputs und wilde Ideen aus der Basis. Unser Architekturstudio hat hierzu keinen Entwurfsauftrag, sondern übernimmt eine koordinierende Rolle. Unsere Aufgaben beschränken sich auf das Definieren von Schnittstellen und das Abklären von Machbarkeiten. Eine Herausforderung, die ich nun aus privater und beruflicher Warte kennengelernt habe, ist: Wie sind flexible Wohnideen baurechtlich zu synchronisieren?

TEC21: Wie stark bringen Sie Ihr architektonisches Fachwissen in die Diskussionen der Hallengruppe im Zollhaus ein?

Gian Trachsler: Dafür lege ich den professionellen Hut ab. Im Verein bin ich einer von mehreren Beteiligten, und in praktischen Belangen eher ungeschickt. Bei der Planung hüte ich mich möglichst, auf allfällige Sachzwänge hinzuweisen, die mir als verantwortlichen Planer auffallen. Ich bevorzuge hier die Perspektive des Laien, auch um die Möglichkeiten des Hallenwohnens besser auszuloten.

TEC21: Gehen wir zum Ursprungsmotiv des Hallenwohnens zurück: Räume in der Stadt, die man sich zum Wohnen spontan aneignen kann und deren Struktur flexibel bespielbar ist. Wie weit hat sich das Projekt im Zollhaus davon entfernt?

Gian Trachsler: Die informelle und oft nur halb offizielle Aneignung einer alten Industriehalle mit der Idee im Zollhaus zu vergleichen ist schwierig. Die Rahmenbedingungen und die Ökonomie dieser Vorhaben funktionieren komplett anders. Das Zollhaus ist ein Neubau mit Wohnhallen; der Nutzungsdruck und die Preise sind ungleich höher als in einem Objekt mit abgeschriebenem Immobilienwert.

TEC21: Passen das Hallenwohnen und preisgünstiges Wohnen zusammen?

Gian Trachsler: Wir bezahlen für die Miete der überhohen Räume effektiv mehr als die übrigen Genossenschafterinnen und Genossenschafter für konventionelle Wohneinheiten. Nicht zu unterschätzen ist auch der Aufwand, den wir für die Koordination von Schnittstellen oder finanziell für den Eigenausbau selbst leisten. Allerdings wehren wir uns nicht dagegen, weil die flexible Wohnform als Gegenleistung zu einem Plus an Nutzungsmöglichkeiten führt. Was die Ökonomie des Zollhaus-Projekts jedoch sehr stark prägt, ist die zentrale Lage. An der Peripherie wären die Mietpreise wohl niedriger, unabhängig vom Wohnexperiment.

TEC21: Wie würden Sie den ideellen und gemeinnützigen Charakter des Hallenwohnens erklären?

Gian Trachsler: Die zur Verfügung gestellten Räume sind kein individueller Luxus, sondern ermöglichen eine kompakte und effiziente Nutzung von Wohnflächen. Im Vergleich zu konventionellen Standards rücken wir sehr nah zusammen. Persönlich empfinde ich das Hallenkonzept als Bereicherung von schubladisierten Wohnangeboten und als Gewinn für die Verdichtung einer Stadt. Wir sollen zwar dichter bauen, aber daraus darf kein Nullsummenspiel werden, wenn gleichzeitig die individuelle Wohnfläche wächst. Aneignung wird so zur Gegenleistung für die kompakte Nutzung. Und das Wohnen in der Stadt füllt sich mit mehr Leben.

Anmerkung
1 «Anders Wohnen», SRF-Doku, Mediathek Schweizer Fernsehen 2019

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