Aus der Mitte gen Nor­den und Sü­den

Der grösste Teil der beiden Einspurröhren des Ceneri-Basistunnels wurde im Sprengvortrieb vom ­Zwischenangriff bei Sigirino ­ausgebrochen. Vor allem für die Materiallogistik hatte das ­entscheidende Vorteile.

Date de publication
29-10-2020

Schon lang vor Beginn der eigentlichen Bauarbeiten im Jahr 2006 am Ceneri-­Basis­tunnel hatte Sigirino für das Projekt einen besonderen Stellenwert. Zwischen 1997 und 2000 wurde von dem kleinen Ort ein 2.7 km langer Sondierstollen bis zum angedachten Basistunnel ausgebrochen, um Erkenntnisse über die geologischen Verhältnisse zu erhalten. Die Planungen und auch die Finanzen sahen sich keinen unüberwindbaren Hindernissen gegenüber; das Vorprojekt war seit 1999 genehmigt, 2004 stimmte der Nationalrat der Freigabe der Kredite zum Bau zu – und so fiel Sigirino die Rolle des Hauptangriffpunkts für den Tunnel zu.

Die Vorteile lagen auf der Hand: Für die Baustelleninstallation war ausreichend Platz vorhanden, die Autobahn und die Eisenbahnbergstrecke führten direkt am Ort vorbei und konnten auch an die Baustellenlogistik angeschlossen werden. Und vielleicht als wichtigster Trumpf: Neben dem Installationsplatz konnte in einer Hangmulde der Grossteil des Ausbruchmaterials aus den Röhren abgelagert werden, ohne das Schienennetz oder die Strasse zu belasten – es gelangte direkt über Förderbänder zur Deponie.

Nach der Sondierung der Fensterstollen

Etwas südlich des bestehenden Sondierstollens fuhr eine Tunnelbohrmaschine den 2.3 km langen und 4.8 % geneigten Fensterstollen mit einem Ausbruchsdurchmesser von 9.7 m auf. Er diente als Zugang zu den Kavernen, aus denen die beiden Röhren des Basistunnels nach Norden und Süden vorgetrieben wurden. Neben den Startkavernen für den Tunnelvortrieb entstanden noch weitere, die dank dem bereits vorhandenen Sondierstollen zeitgleich mit dem Fensterstollen aus­gebrochen werden konnten. Die grösste Kaverne nahm die Betonanlage auf. Aufgrund der Platzverhältnisse auf dem oberirdischen Installationsplatz, aber auch zum Schutz der Anwohner – die Anlage lief praktisch rund um die Uhr – entschied man sich, die Beton­herstellung von täglich bis zu 1000 m3 unter Tage zu ­bewerkstelligen.

Anstehende Geologie und hängende Geräte

Ein Grund für den Sprengvortrieb im Basistunnel war die heterogene Geologie. Die Anwendung der Sprengtechnik lässt eine schnelle Anpassung an unterschiedliche geologische Zonen zu. Der grösste Teil des Ceneri weist verschiedene Gneisarten auf, allerdings mussten mehrere Störzonen durchfahren werden, etwa die Linea Val Colla mit ihren 650 m Länge, in der zerriebene und zerbrochene Gesteine anstehen. Auch die Val-Mara-Störzone machte den Mineuren zu schaffen. Von der Oberfläche aus war sie durch eine Kernbohrung erkundet worden, beim Tunnelvortrieb stellte sich ihre Länge dann aber als 145 m heraus und war damit etwa fünf Mal ausgedehnter als vorher angenommen. Trotz diesen geotechnischen Widrigkeiten konnten die Vortriebs­arbeiten zu einem guten Abschluss gebracht werden.

Portal Vezia – Autos unter dem Zug

Zwei Worte charakterisieren die Baustelle des Südportals des Basistunnel vortrefflich: beengte Verhältnisse. Auf der einen Seite, westlich der Baustelle, lagen die Gleise der Bergstrecke, die vom Ceneri herabkommen und die es zu erreichen galt. Im Osten stand die legendäre Villa Negroni aus dem 18. Jh. mit ihrem Park und einige Wohnhäuser in unmittelbarer Nähe oberhalb am Hang. In einem etwa 200 m langen Tagbautunnel im Lockergestein wurde der Anschluss der Tunnelgleise an die Stammstrecke umgesetzt. Hierfür mussten Teile des Parks der Villa in Anspruch genommen werden, wobei der denkmalgeschützte Palast vor Erschütterungen und Setzungen bewahrt werden musste.

Mit der Anordnung einer messtechnisch überwachten Rühlwand als Baugrubenabschluss gelang dies. Anschlies­send erfolgte ein kurzer unterirdischer Vortrieb von etwa 300 m Länge. Hier war bereits eine besondere Schwierigkeit zu bewältigen: Unterhalb des Trassees der Eisenbahnröhren führt der Strassentunnel Vedeggio Cassarate der Umfahrung Lugano hindurch – und das mit einer Überdeckung von nur vier Metern. Eine schonende Baumethode war ­daher unabdingbar. Mittels Sektorsprengungen und Mikroladungen konnten die Auswirkungen nicht nur auf das anliegende Gestein begrenzt werden, auch die Anwohner profitierten von diesem Vorgehen, vor allem da das Konzept vorsah, kritische Bauarbeiten nur zu Tageszeiten durchzuführen.

Portal Vigana – Autos über dem Zug

Überquert die Bahn beim Südportal die Strasse mit sehr geringem Abstand, ist es im Norden beim Portal Vigana umgekehrt. Die neuen Röhren fahren unterhalb der Nationalstrasse A2 und auch der Bergstrecke der Eisenbahn, die hier im Anstieg zum Ceneri begriffen sind, in den Berg ein. Allerdings fällt auch hier die Überdeckung nicht gerade üppig aus: Nur neun Meter liegen zwischen Tunnelfirst und der Autobahn – und das im Lockergestein des Hangs. Mit Horizontaljettings und Rohrschirmen, die an den Rändern der Paramentstollen fundiert wurden, konnte diese kritische Unterfahrung bewerkstelligt werden.

Die beiden Nordportale weisen unterschied­liche Geometrien auf. Führt aus dem westlichen Portal nur ein Gleis in Richtung Bellinzona respektive der Gotthardstrecke, nimmt das östliche Portal zwei Gleise auf  – eines aus Locarno, das andere vom Gotthard her kommend. Grund hierfür ist die Mitbenutzung des Ce­neri-­­Basistunnels durch die Regionalbahn Bretella zwischen Locarno und Lugano (vgl. «Von Meer zu Meer, von See zu See»). 

Knoten Camorino: Schaustück des Ceneri

Der spektakulärste und auffälligste Bau, der den Basis­tunnel erst ermöglichte, knüpft an die Nordportale an: der über 1 km lange Viadukt, der den Tunnel mit der Be­standsstrecke Bellinzona–Locarno verbindet.1 Anstelle eines gewöhnlichen Eisenbahndamms legten die Planer die Gleise in einen auf die häufigen Nutzlasten bemessenen, voll vorgespannten Beton­kastenquerschnitt, der monolithisch mit V-förmigen ­Pfeilern verbunden ist. Die Pfeiler sind auf ihren Fundamenten, einer Kombination aus Pfahl- und Plattengründung, gelenkig gelagert.

Den vollständigen Artikel lesen Sie in TEC21 33/2020 «Metrò Ticino».

Grund für die ungewöhnliche Form der charakteristischen Zubringer waren äusserst schlechte Baugrundverhältnisse in der Schwemmebene: Die Fluss- und Schwemmablagerungen der Magadinoebene sind bis zu 200 m stark, setzungsempfindliche Tonschichten sind in Sand- und Kiesschichten eingelagert. Durch die V-Form ergeben sich weniger Fundamente, ausserdem kann das Tragwerk die horizontalen Lasten aus dem Bahnverkehr aufnehmen.

Diese ingenieurtechnische Raffinesse bringt aber auch landschaftsästhetische Vorteile mit sich. Normale Bahndämme hätten gewaltige Ausmasse angenommen und die Gegend sichttechnisch abgeschottet. Die Betonpfeiler hingegen lassen zahlreiche Durchblicksmöglichkeiten offen, und das Gelände unterhalb kann auch noch bewirtschaftet werden.

Schiene statt Kabel

Der Ceneri-Basistunnel ist für eine Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h für Personen- und 160 km/h für Güterzüge ausgelegt, wobei Letztere mindestens 100 km/h erreichen müssen. Dies wird aber erst im Jahr 2022 vollumfänglich umgesetzt werden können. Aus ökonomischen Gründen werden Gotthard- und Ceneri-­Basis­tunnel mit maximal 230 km/h durchfahren werden, in der Regel nur mit 200 km/h.

Die wenigen Jahre, die der Ceneri-Basistunnel jünger ist als sein nördlicher, grosser Bruder, der Gotthard, zeigen sich bereits in der Bahntechnik. Kommen beim Gotthard noch konventionelle Fahrleitungen mit Kettenwerk zum Einsatz, besitzt der Ceneri nun Deckenstromschienen – das entspricht dem neuen Standard der SBB für Fahrleitungen in Tunneln.

Die Vorteile von Deckenstromschienen überzeugen. Nachspanneinrichtungen entfallen, was eine kompaktere Bauweise und geringere Bauhöhen ermöglicht. Deckenstromschienen besitzen eine höhere Stromtragfähigkeit, sind weniger anfällig für Kurzschlüsse, brandbeständiger, können höher abgenützt werden und haben dadurch auch eine längere Lebenszeit.

Kavernen für die Zukunft

Ein bedeutender Unterschied der beiden Vorzeigetunnel der AlpTransit wird sich zukünftig zeigen. Man kann den «alten Vater» Gotthard-Basistunnel als in sich abgeschlossenes System betrachten – er transportiert Menschen und Waren schnellstmöglich von Nord nach Süd, ohne sich von seiner Umgebung besonders beeindrucken zu lassen. Dies tut der «Jungspund» Ceneri auch, allerdings weiss er noch nicht recht, ob es ihn weiter gen Süden nach Italien drängt. Bleibt das Ziel Lugano, oder gibt es doch eine Anbändelung nach Chiasso und Como?

Seine Planer wollten dem Ceneri jedenfalls keine Steine in den Weg legen. So bauten sie bereits 2.5 km nördlich des Südportals die Abzweigung von Sarè in zwei Kavernen. Sie würde eine Fortsetzung des Tunnels in Richtung Como erlauben. Komme was wolle, nach Italien geht es. Die Frage ist nur, auf welchem Weg und zu welchem Preis.

Anmerkung
1 Ausführliche Artikel finden sich in TEC21 41/2008 «Il nodo di Camorino» und hier

Mit der Durchquerung des Monte Ceneri wird zugleich eine geografische und kulturelle Barriere überwunden. Die aktuelle Ausgabe 5/2020 unserer Schwesterzeitschrift Archi widmet sich der Bedeutung des Ceneri-Basistunnels aus gestalterischem und kulturpolitischem Blickwinkel.
Mehr unter espazium.ch/it

 

AM BAU BETELIGTE

Bauherrschaft
AlpTransit Gotthard, Luzern

Bauleitung/Projektingenieure 
Consorzio DSPP: Spataro Petoud, Bellinzona; dsp, Uster; Consorzio Ingegneri Piano di Magadino CIPM: Filippini, Biasca; G. Dazio, Cadenazzo; Bernardoni, Viganello; Brenni Engineering, Mendrisio; Ingenieurgemeinschaft ITC: Pini Swiss Engineers, Lugano; AF Toscano, Zürich; Amberg Engineering, Regensdorf

Rohbau Tunnel
Consorzio Cossi LGV Ceneri: Cossi Costruzioni, Sondrio; LGV Impresa Costruzioni, Bellinzona; Consorzio CPV: CSC, Lugano; Pizzarotti, Bellinzona; Consorzio Matro Sud: Pizzarotti, Bellinzona; Pizzarotti & C, Parma; Ennio Ferrari, Lodrino; LGV, Bellinzona; Rodio Geotechnik, Urdorf

Bahntechnik
ArGe MonsCeneris: Mancini & Marti, Bellinzona; Marti Tunnel, Moosseedorf; Pizzarotti, Bellinzona; Impresa Pizzarotti, Parma (I); G.C:F:, Grottaglie (I); Gefer, Rom; ARGE CPC: Cablex Porr Consorzio, Affoltern am Albis

Tunnelleittechnik
Nokia Schweiz, Zürich

Gestaltung
BGG Beratungsgruppe für Gestaltung c/o Feddersen & Klostermann, Zürich

Vermessung
Consorzio Cogesud: Berna­sconi e Forrer Ingegneria e misurazioni, Breganzona; Studio Meier, Minusio;
Studio d’ingegneria Antonio Barudoni, Muralto; Studio d’ingegneria Antonio Bottani, Caslano

Sicherungsanlagen
Thales Rail Signalling Solutions, Zürich

Weitere Beteiligte
AWK Group, Zürich; IG Gobatech: Basler &Hofmann, Zürich; SNZ, Zürich; IG GoTTrazione: Enotrac, Thun; Pöyry / pkag, Dübendorf; IG Geste-Emch + Berger CBT: Geste Engineering, Lausanne; Emch + Berger, Bern; IG KlimAT: HBI Haerter, Zürich; Pöyry Schweiz

Baukosten
2.6 Mrd. Fr.

Bauzeit
Juni 2006 – August 2020

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