Schlicht und genüg­sam

Ein flammendes Plädoyer für die Rückbesinnung auf die Qualitäten von massivem Naturstein: Aus Sicht des in Frankreich und Afrika tätigen Architekten Gilles Perraudin birgt der Umgang mit Naturstein eine Anleitung zum ästhetischen Bauen.

Date de publication
15-11-2018
Revision
15-11-2018

Stein ist ein Baumaterial par excellence, schlicht und genügsam ­zugleich. Seine ökologischen Qualitäten machen das Bauen mit Massivstein zu einer ­Tugend. Häufig wird die vermeint­liche Seltenheit von ­Naturstein diskutiert, weil anstelle der generellen Menge nur ein­zelne Vorkommen betrachtet werden. Ein Beispiel: Carrara-­Marmor ist in seiner be­sonderen Qualität eine begrenzte Ressource, aber die Menge an Marmor auf der Welt ist insgesamt sehr gross. Anderenorts, zum­ ­Beispiel im Senegal, gibt es Marmor­vorkommen, die nicht ausgebeutet werden. Marmor gehört nicht zur sene­galesischen Bautradition, und ohne Verkehrsnetze ist die Verbreitung schwierig. Dies sind Einschränkun­genen, die für den Carrara-Marmor nicht gelten. Zudem geniesst er einen hervorragenden Ruf, der ihn weltweit zu einem begehrten Material macht.

Um beim Beispiel Senegal zu bleiben: Das Wissen um die ausgezeichneten Bausteine in diesem Land ist gering, zugleich ist die Entwicklung des Betonbaus schwindelerregend. Wo es jedoch ­Beton gibt, gibt es eine Zementproduktion. Mehrere Zementwerke im Senegal beliefern ganz Westafrika. Um Zement herzustellen, braucht man Stein, aber statt ihn als Ganzes einzusetzen, wird er pulverisiert. Mit diesem Zement werden Millionen unbequemer Wohnungen von geringer Lebensdauer in einer um­welt­schädlichen Bauweise gebaut, von Architekten, die einer vermeintlichen Moderne nacheifern.

Stein hat viele Qualitäten

In südfranzösischen Steinbrüchen wird ein eher ­wei­­ches Material abgebaut, das seine Beständigkeit aber seit zweitausend Jahren zum Beispiel am Pont du Gard, dem berühmten römischen Aquädukt, unter Beweis stellt. Dieser Stein bietet den Vorteil, dass er mit grossen Sägen einfach und präzise bearbeitet werden kann. Heutzutage ist es möglich, bis zu zwei Tonnen schwere Elemente zu transportieren und mit Mobil­kränen zu montieren. Im europäischen Kontext lohnt sich die Verwendung dieser Blöcke, da sie in den vorherrschenden Konstruktionsmethoden ein durchaus wettbewerbsfähiges Baumaterial darstellen.

Die Qualität der Steinoberflächen und ihre ­Widerstandsfähigkeit gegen schlechtes Wetter ermöglichen es, das Material ohne zusätzliche Veredelung zu verwenden. Weder Putz noch Farbe sind nötig – die pure Struktur kann sichtbar bleiben und die Gestalt des Baus prägen. Naturstein existiert in vielen Formen und Farben. Die Architekten und Bauherrschaften müssen den Bau an die jeweils greifbaren Ressourcen und die lokalen Gegebenheiten anpassen. Im afrikanischen Kontext sind reichlich Bauarbeiter vorhanden, Baumaschinen jedoch nicht. Das bedeutet zum Beispiel, dass der Einsatz von kleinen Steinformaten sinnvoller ist.

Helfende Hände versus Maschinenpark

Um eine schnelle Montage zu realisieren, ist eine ex­akte Vorplanung wichtig. Ein weiteres Thema ist der Energieaufwand, der während des Baus entsteht. Der zügige Aufbau der tragenden Natursteinkonstruktion verbraucht wenig Energie. Die Trockenmontage ermöglicht eine sofortige Belastung und eine schnelle Abfolge der Arbeitsschritte. Auf Kräne und Baumaschinen, die für ­einen Bau eingesetzt werden müssen, entfällt ein erheblicher Teil des Energieverbrauchs beim Bauen. Je mehr davon vor Ort sind, desto weniger Arbeits­kräfte können aufgrund der mit ihnen verbundenen Lohn­kosten engagiert werden. Paradoxerweise steigen damit aber auch die Kosten, die der Baustellenbetrieb verschlingt. Diese Rechnung wird durch den mehr­fachen Einsatz der Baumaschinen gerechtfertigt, mit dem jedoch ein weiterer Verbrauch fossiler Energie einhergeht.

Dabei geht es auch anders. In Afrika werden Häuser ohne maschinelle Unterstützung gebaut. Dies erfordert viel Personal, und für die Bevölkerung werden sinnvolle Arbeitsplätze geschaffen.

Die Trägheit der Masse

Der Einsatz von massivem Stein beim Bau ermöglicht einen ökologischen und ökonomischen Einsatz von ­Energie. Betrachten wir als Beispiel die Nutzung der thermischen Trägheit von Naturstein in Südeuropa. Die Masse des Steins kühlt während der Nacht aus, wenn die Tempe­raturen wesentlich niedriger sind. Tagsüber, wenn es draussen heiss ist, gibt der Stein die «gespeicherte» Kühle an die Innenräume ab. Mit dieser thermischen Trägheit kann Komfort erzeugt werden, mit wenig oder sogar ganz ohne Energieaufwand. Die Nutzung derselben Speichermasse oder die Integration von Spei­cher­masse in das Gebäude an Wänden oder auf Böden reduziert ge­nauso den Energieverbrauch im Winter.

Schon beim Abbau des Materials, das in gros­sen Mengen verfügbar und vorhanden ist, sowie beim Bauen und später beim Wohnen ist ein bewusster Energie­verbrauch planbar. Die Trägheit starker Wände erzeugt eine thermische Verschiebung und macht eine zusätzliche Wärmedämmung überflüssig. Um dem Kaltwandeffekt entgegenzuwirken, kann es notwendig sein, die Wände mit Holztäfer zu versehen. Sinnvoll angeordnet, bietet das im Winter thermische Behaglichkeit, ohne den Sommerkomfort zu beeinträchtigen.

Neuere Studien haben gezeigt, dass Gebäude aus massi­vem Stein, ohne Isolierung oder Doppelverglasung, Leis­tungen bieten, die im Vergleich viel überzeugender sind ­als die unserer «intelligenten» aktuellen Gebäude.1 Die Studie kommt weiterhin zu dem Schluss, dass die Verwendung eines sparsamen Materials wie Stein mit geringem fossilem Brennstoffverbrauch bei Bauen die Gebäude hinsichtlich des CO2-Fussabdrucks effizient macht, wenn langfristig Daten erhoben werden.

Die Poesie der Einschränkung

Um eine wirtschaftliche Systematik zu erlangen, ist die Suche nach einem Modulformat eine Möglichkeit. Seine Parameter basieren auf einer optimalen Aus­nutzung des Rohertrags. Die Abmessungen resultieren aus Abwägungen aufgrund mehrerer Kriterien: wenig Nachschneiden des Ausgangsblocks; eine angemessene Dimension in Bezug auf das Gewicht als Widerstand beim Herauslösen aus dem Steinbruch; eine Trägheit, die eine ausgezeichnete thermische Phasenverschiebung er­möglicht; und ein Gewicht, das die Transportkosten begrenzt und an die aktuellen Hebezeuge angepasst ist. Eine weitere Regel zur Konzentration auf eine einfache Bauweise ist, den Block nur in horizontaler oder vertikaler Position zu verwenden. Ein Block kann zum Beispiel die Proportionen a, 2 a, 4 a haben, wobei a die Dicke der Wand ist.

Dieser Ansatz stimmt genau mit den Prinzipien der Autorengruppe «Oulipo»2 überein. Deren Mitglieder gehen davon aus, dass Zwang befreiend ist. Poesie in strengen Formaten wie Sonett, Alexandriner oder japanischem Haikus auszudrücken befeuert die poetische Inspiration. Dasselbe kann auch für die Architektur ­gelten. Die konstruktive Logik des Steins bringt ge­wisse Regeln mit sich und befreit von der Notwendigkeit, eine neue Form zu erfinden. Diese Befreiung kann den architektonischen Ansatz revolutionieren und zu einer Einfachheit wie in der volkstümlichen Architektur führen, in der der Architekt abwesend zu sein scheint.

Den Gegensatz dazu verkörpern die moder­nen Architekten: die Besessenheit von Erfindung, Kreativität und formaler Neuheit als treibender Kraft der Architektur. Die Strenge eines konstruktiven Modells zeigt, dass keine Formen erfunden werden müssen, und führt zu den Grundlagen der Architektur: Materie, Rhythmus, Proportion und Licht.

Entgegen der Moderne

Beim Bauen mit Naturstein taucht auch immer wieder die Frage nach der Modernität auf. Die Moderne hat Gebrauchsarchitektur und traditionelle Gebäude verschwinden lassen. Ihr bekanntester Verfechter, Le Corbusier, hat dies mit dem «plan voisin» (Nachbarschaftsplan, um 1920) für Paris, einer Ode an die Zerstörung, perfekt demonstriert. Die Folgen werden jetzt an der verhängnisvollen Übernutzung unserer Ressourcen ablesbar. Demgegenüber steht die Maxime von Roland Barthes: «Plötzlich war es mir egal, nicht modern zu sein.»3

Eingeschränkt durch konstruktive Regeln und damit zugleich befreit von allen Ansprüchen an die Moder­ne, lässt sich die Stärke der volkstümlichen Architekturen wiederentdecken: Sie sind einfach, schlicht und genügsam.

Dieser Text erschien zuerst in Archi 5/2018; Originaltext auf Französisch: espazium.ch/archi5-18_perraudin. Übersetzung aus dem Französischen: Hella Schindel.

Anmerkungen

  1. Tesi EPFL 4999, 2011; Stefano Zerbi, Luca Ortelli.
  2. «Oulipo» bedeutet «Ouvroir de Littéra­ture Potentielle» und bezeichnet einen 1960 gegründeten Kreis von Schriftstellern – u. a. mit Italo Calvino –, dessen Ziel die Spracherweiterung durch formale Zwänge ist. (Anm. d. Red.)
  3. Roland Barthes (1915–1980) war ein bedeutender französischer Literaturtheoretiker.
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