«Es kommt auf den Men­schen an»

Seit 2007 arbeitet der gehörlose Samuel Wullschleger mit einem 100-%-Pensum als Techniker HF Hochbau im Architekturbüro Archplan AG in Thalwil. 2011 wurde das Büro dafür mit dem This-Priis ausgezeichnet. Das vermeintliche Handicap bereichert die interne Kommunikation der Firma.

Publikationsdatum
03-02-2012
Revision
01-09-2015

Die Beschäftigung eines handicapierten Menschen setzt voraus, dass sich auch die Arbeitskollegen offen zeigen. Wurde die ‹Gehörlosigkeit› vor der Anstellung von Samuel Wullschleger im Team thematisiert?
Felix Sponagel, Mitglied der Geschäftsleitung: Samuel hat sich auf eine ausgeschriebene Stelle regulär bei uns beworben. Seine Bewerbung überzeugte. Nach dem Bewerbungsgespräch, bei dem eine Gebärdensprachdolmetscherin anwesend war, hatten wir das Gefühl, dass er von allen Bewerbern am besten ins Team passen würde. Wir haben dann die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen um ihre Meinung gebeten – wenn es ernsthafte Vorbehalte gegeben hätte, wäre es wohl nicht zu einer Anstellung gekommen.

Wie funktioniert die Kommunikation innerhalb des Büros konkret, wann braucht es Übersetzer?
F. S.: Im Gespräch mit Samuel ist es wichtig, sich auf ihn zu konzentrieren, ihm in die Augen zu schauen und sich klar auszudrücken – also eigentlich alles Dinge, die für eine gute Kommunikation selbstverständlich sein sollten. Reden und gleichzeitig etwas anderes machen, das geht nicht.
Samuel Wullschleger: Das Eins-zu-eins-Gespräch funktioniert mit einer Mischung aus Gebärden, Lippenlesen und Lautsprache. Schwierig wird es, wenn mehrere Menschen durcheinander reden, zum Beispiel in der Kaffeepause. Bei Bürositzungen kann ich auch einen Dolmetscher hinzuziehen. Ausserdem unterrichte ich die Kollegen und Kolleginnen einmal pro Woche eine halbe Stunde in Gebärdensprache.

Wie läuft dieser Unterricht ab?
S. W.: Wir treffen uns in der Kaffeepause und lernen dann einzelne Wörter, die oft gerade aktuellen Themen entsprechen. Ich schreibe die Wörter auf Kärtchen und zeige dann die entsprechende Gebärde. 

Gibt es im Büro einen Hauptansprechpartner, oder arbeiten Sie projektbezogen in wechselnden personellen Konstellationen?
Simon Langenegger, Mitglied der Geschäftsleitung: Das wechselt je nach Projekt. Samuel und ich arbeiten momentan zum zweiten Mal zusammen, nach dem Umbau eines denkmalgeschützten Fachwerkhauses arbeiten wir jetzt an einer Wohnüberbauung mit vier Neubauten in Gattikon.

Der Arbeitsalltag in einem Architekturbüro ist oftmals hektisch, es gibt kurzfristige Änderungswünsche und viele Anpassungen – ist es da nicht schwierig, sich Zeit zu nehmen für eine bewusste Kommunikation?
F. S.: Eigentlich sollte eine überlegte Kommunikation selbstverständlich sein. Aber es stimmt, es gibt Projekte, die sich weniger eignen, wie kurze Umbauprojekte, wo vieles auch situativ auf der Baustelle entschieden wird. Samuel ist allerdings klar im Vorteil, wenn es darum geht, konzentriert zu arbeiten. Er lässt sich nicht so leicht ablenken. Grössere Neubauten mit langen Planungszeiten und repetitiven Elementen, wie das aktuelle Projekt in Gattikon, sind perfekt für ihn.
S. L.: Die Kommunikation nach aussen übernimmt ohnehin immer der Projektleiter. Und auf der Infomappe zu unserem Büro wird zudem mit Piktogrammen hinter Samuels Namen auf seine Gehörlosigkeit hingewiesen. Wichtig ist, dass alle immer den gleichen Informationsstand haben. Architektur ist ohnehin stark visuell geprägt, die Informationen werden per Skizze und in den Plänen ausgetauscht und festgehalten. Ausserdem gibt es ja auch noch E-Mails.

Im Alltag ergeben sich vermutlich immer wieder Situationen, bei denen man als Hörender nicht weiss, wie man sich am besten verhält. Wie nähern Sie sich beispielsweise, wenn Herr Wullschleger an seinem Pult sitzt, um ihn nicht zu erschrecken?
F. S.: Man nähert sich so, dass man ohnehin im Gesichtsfeld auftaucht. Zusätzlich kann man sich auch durch Klopfen am Pult bemerkbar machen – Samuel spürt dann die Vibration. 

Hat diese besondere Sensibilisierung für die Bedürfnisse anderer Menschen, in diesem Fall für Gehörlose, auch einen Einfluss auf Ihre Architektur?
F. S.: Nein. Für uns steht immer die Beziehung zwischen einem Bau und dem Menschen und seiner Umwelt im Vordergrund. Was sich durch Samuel aber geändert hat, ist die interne Kommunikation: Wir mussten lernen, uns bewusster auszudrücken, einander anzuschauen, wenn wir miteinander sprechen, das Gegenüber ausreden zu lassen. Das kommt auch allen anderen im Team zugute.

Samuel Wullschleger, im Zusammenhang mit der Verleihung des This-Priises gab es einige Berichte in der Tagespresse über Sie und Ihre Arbeit. Stört es Sie manchmal, dass die Gehörlosigkeit als Charakteristikum dabei  sehr stark betont wird – und nicht Sie als Person im Zentrum stehen?
S. W.: Nein, das ist kein Problem für mich.
F. S.: Samuel hat hier keinen Behindertenbonus. Er ist ein Mitarbeiter wie alle anderen. Dass die Zusammenarbeit so gut funktioniert, liegt aber auch an seiner Persönlichkeit: Er ist ein sehr offener Mensch. Nach den positiven Erfahrungen mit Samuel haben wir versucht, noch eine gehörlose Mitarbeiterin zu beschäftigen. Das ist aber an der mangelnden Kommunikation gescheitert – obwohl Samuel die Mitarbeiterin betreut hat. Es kommt eben auch sehr auf die jeweilige Persönlichkeit an.

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