Vom Wasserschloss zum Energiepalast?
Leitungsgebundene Energieversorgung
Ein See speichert nicht nur Wasser, sondern auch Energie. Diese soll helfen, die fossilen Brennstoffe zu ersetzen. Hunderte Millionen Franken werden für den Ausbau solcher Wärmeverbundsysteme bereitgestellt.
Zürich, Planet Erde, im Jahr 2050: Hitzigen Wochen im Sommer folgen klirrend kalte Wintertage. Nach wie vor ist der Gebäudebereich ein grosser Energiekonsument. Wie früher wollen die Menschen komfortabel wohnen und arbeiten. Der technische Klimatisierungsaufwand beinhaltet ebenso das Beheizen wie das Kühlen von Räumen. Einen grossen Schritt weiter ist die 2000-Watt-Gesellschaft dennoch: Als CO2-arme Energiereservoire werden hauptsächlich lokale Quellen vor Ort genutzt wie auch Sonne, Erdwärme und Aussenluft. Weite Teile des Stadtgebiets werden jedoch zentral mit Fernwärme aus der Kehrichtverbrennung (KVA) und einem Biomassekraftwerk versorgt. Ebenso weiträumig wird Abwärme von Rechenzentren und Abwasserkanälen verteilt. Und genauso unverzichtbar ist das thermische Potenzial von Grund- und Seewasser. Vor über 100 Jahren hat sich herumgesprochen, wie viel Energie in natürlichen Gewässern steckt.
Zürich, Europa, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg: Öl und Kohle werden knapp, weshalb die Zürcher Stadtbehörde beim Maschinenbaukonzern Escher Wyss drei grosse Wärmepumpen bestellt, um Heizwärme für die Rats- und Amtshäuser entlang der Limmat zu gewinnen. Das lokale Wärmereservoir dafür ist das Flusswasser selbst. Anfang der 1940er-Jahre erhielt auch das City-Hallenbad ein solches Energieversorgungssystem ohne fossile Energie. Und kurz darauf entschied der Bundesrat, die Gebäude des ETH-Zentrums mit der damals leistungsstärksten Wärmepumpenanlage der Welt auszustatten. Auch diese bezog die Grundenergie zum Heizen aus der Limmat. Der Rush auf lokale Energiequellen dauerte jedoch nur kurz. Kaum waren der Krieg und die Versorgungskrise bei der fossilen Energie beendet, nahm das Interesse an solchen Pionierleistungen ab. Der Bau einer weiteren Wärmepumpe für das Unispital wurde vorzeitig gestoppt und ad acta gelegt.
Zürich, Schweiz, heute: Die 10-MW-Wärmepumpe der ETH wurde inzwischen abgebaut, weil die kantonale Umweltbehörde vor zwei Jahren den Ersatz umweltschädlicher Kühlmittel angeordnet hat. Das Hochschulzentrum, aber auch die Geschäftsviertel in der City bis nach Zürich-West werden inzwischen mit KVA-Fernwärme bedient. Erdgas ist aber der am weitesten verbreitete Energieträger, mit dem Stadtbewohner heizen und das Wasser erwärmen. Und nur einer von fünf Hauseigentümern ist bereit, beim Heizungsersatz auf erneuerbare Energien umzustellen. Parallel dazu suchen Stadt, Kanton und umweltfreundliche Bauträgerschaften nach ökologischen Alternativen zur Versorgung mit fossiler Energie. Wolfgang Seifert, Energiebeauftragter der ETH Zürich, möchte abermals ein Oberflächengewässer als Energiequelle nutzen, anstelle der Limmat jedoch neu den Zürichsee. Das Seewasser könnte ausgiebiger zum Kühlen der Auditorien, Seminarräume oder Labors verwendet werden. «Ob das gelingt, ist weniger eine technische Frage als eine von Ökonomie und Organisation», sagt Seifert.
Präzisierte Analysen zeigen sogar, dass der Zürichsee die grösste Stadt der Schweiz vollständig mit Wärme und Kälte versorgen könnte. Selbst für den Bedarf der übrigen Seegemeinden hätte es noch genug.
Eine Wärmepumpe zum Heizen
Die Schweiz ist ein Seenland mit über einem Dutzend grösserer Gewässer, an deren Ufer einige Städte, dichte Agglomerationen und wachsende Dörfer liegen. Bisher wird die Nähe zum Wasser mit guter Wohnlage, aber kaum mit einem energetischen Privileg in Verbindung gebracht. Das schlummernde Potenzial ist jedoch riesig: Die 30 grössten Seen speichern mehr Wärme, als die Schweiz aktuell benötigt. Und würde man alle angrenzenden Siedlungen damit beheizen, wäre fast ein Fünftel der Gemeinden autark versorgt. Ebenso wurde abgeklärt, ob eine thermische Nutzung von Seewasser das Ökosystem nicht zu sehr stört.1
Eine Abkühlung um 1 °C wird als unproblematisch erachtet; aquatische Gutachten halten die biologischen Eingriffe jedenfalls für gering. Die Energienutzung ist dabei saisonal umkehrbar: Im Winter lässt sich Seewasser, dannzumal eher wärmer als die Luft, für die Wärmeversorgung nutzen. Mithilfe von Wärmepumpen wird die Temperatur auf Heizniveau gebracht. Im Sommer kehren sich die Temperaturverhältnisse um, sodass Seewasser direkt zur Gebäudekühlung benutzt werden kann.
Noch beziehen erst wenige Gebäude ihre Energie aus dieser reversiblen Offshorequelle; im Engadin etwa ein Hotel und ein Schulhaus, am Vierwaldstättersee immerhin das Bürgenstock-Resort (vgl. TEC21 1–2–3/2018) und am Quai von Zürich ein grosses Geschäftshaus (vgl. TEC21 6–7/2018). Daneben erweitern nun die Zürich Versicherungen ihren Hauptsitz; alle vier Gebäude werden ab nächstem Jahr mit Seewasser zum Heizen und Kühlen versorgt.
Aber nicht nur private Bauinvestoren sind auf das lokale Angebot an klimafreundlichen und vielfältig einsetzbaren Energiequellen aufmerksam geworden. Auch das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich prüfte, ob nicht sogar Teile der Innenstadt vom Seebecken bis zum Hauptbahnhof mit der Energie des Seewassers beliefert werden könne, bestätigt Reto Burkart, Leiter Verkauf und Realisierung Energiedienstleistungen von ewz.
Ausserhalb von Zürich soll die thermische Quelle ebenfalls reichlicher sprudeln. In Zug und Luzern sind regionale Energieversorger daran, weitläufige Seewasser-Wärmeverbundnetze zu knüpfen. In den Zentralschweizer Zentren sollen Anlagen mit einem Leistungsbezug zwischen 9 und 12 MW entstehen. Mit der Energie aus den Oberflächengewässern werden Neubau- und Verdichtungsareale ebenso wie bestehende Wohn- und Geschäftsquartiere bedient werden, selbst wenn sie mehrere Kilometer entfernt von den Seeufern liegen.
Die Vorteile sind auch für thermodynamische Laien nachvollziehbar. «Jeder See ist eine zuverlässige Energiequelle, jederzeit verfügbar, und bietet ein enormes Leistungsangebot», bestätigt Matthias Kolb, Mitglied der Geschäftsleitung im Ingenieurbüro anex, das sich auf aquatische Verbundprojekte spezialisiert hat. Ein paar Hürden sind dennoch zu überwinden, um ein solches System für die emissionsarme Gebäudeversorgung auf Effizienz zu trimmen.
Anmerkung
1 Bodensee-Richtlinien 2005, Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB), 2018
Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 36/2019 «Einmal fossilfrei, bitte!».