Zum Tod von Ri­car­do Bo­fill: Das Recht auf Ge­nuss

Seine Wohngebirge zwischen Farbenfreude und Versailles lassen niemanden kalt. Der spanische Architekt Ricardo Bofill (1939–2022) war eine der faszinierendsten Persönlichkeiten der Architektur. Er starb im Alter von 82 Jahren.

Publikationsdatum
25-01-2022

Er war ein Weltstar, als Architektur zur Marke auf internationalen Bühnen wurde und noch niemand wusste, wer Rem Koolhaas ist: «Da steht er mit vierzig Jahren, (...) steigt zum zweihundertsten Mal in den Ring (...), ein Bobby Fischer der Architektur, ein Muhammad Ali der Architektur – ‹Mach es nicht, Ricardo!›» 1981, ein knappes Jahr nach Bofills Auftritt auf der Biennale Venedig jubelte der Architekturtheoretiker Charles Jencks über die Durchschlagskraft des jungen Katalanen. «Mach es nicht»: Damit meinte Jencks den Ruck zur neohistoristischen und monumentalen Fassaden aus eingefärbten Betonfertigteilen, die in den 1980er-Jahren zum Markenzeichen von Bofills Büro Taller de Arquitectura wurden.

Dass ein Architekt in seinen Vierzigern ein international so beachtetes bauliches Werk vorweisen konnte, war im 20. Jahrhundert eine Ausnahme. Ebenso, dass ein Architekt ohne Architekturdiplom mit 24 Jahren seinen ersten Architekturpreis für einen realisierten Wohnungsbau gewinnt: eine brutalistisch anmutende Baulückenschliessung mit roter Ziegelfassade in der barcelonischen Innenstadt.

Das zentrale Projekt seiner Zusammenarbeit mit Schriftstellern, Soziologen und Theatermachern und seiner Schwester Anna Bofill im «Taller» war die «Raumstadt», ein zwischen 1968 und 1972 entwickeltes Stadtprojekt und Gesellschaftsmodell, das seine Realisierung in der Peripherie von Madrid nur knapp verfehlte, aber den Ideengrundstock für kommende Jahrzehnte lieferte. Grundgedanke dieses Stadtmodells war die Auflösung von Strasse und Wohnblock durch das dreidimensionale Clustern von Mikroeinheiten: Die kleinste Einheit ist das Zimmer, jenseits dessen die Stadt mit Freiräumen und sozialen Infrastrukturen beginnt.

Recht auf Stadt

Ökonomisch sollte sich die Raumstadt auf Basis von kollektiven Eigentümerstrukturen im Selbstbau entwickeln. Praktisch bauten diese Konzepte auf Bauerfahrung mit experimentellen Feriensiedlungen am Meer auf (wie zum Beispiel Xanadú bei Calpe, 1965–1968) sowie Grossüberbauungen für Arbeiter (wie das Barri Gaudí in Reus, 1964–1972). Entscheidend ist: Bei der Raumstadt ging es nicht nur um eine Antwort auf das Wohnen für alle, sondern um die Erweiterung des Wohnens durch das Angebot kollektiver Erfahrungswelten in der urbanen Peripherie.

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Die beiden Projekte, in denen Teile dieser Ideen umgesetzt wurden, sind Walden 7 in Barcelona (1970–1975) und Les Espaces d’Abraxas in der Pariser Neustadt Marne-la-Vallée (1978–1984). Von der Fachöffentlichkeit wurden diese Projekte mit gemischten Gefühlen begrüsst. Zu monumental erschien die Sogkraft der urbanen Innenräume, zu dunkel die Wohnungen der unteren Geschosse. Die visionäre Bedeutung dieser Antworten auf eine sich ausdifferenzierende Gesellschaft blieb angesichts des Widerwillens, die postmoderne Ästhetik zu akzeptieren, auf der Strecke.

«Es war, als würde man an den Olympischen Spielen teilnehmen» oder «Es ist grossartig, in einem Palast zu wohnen», erinnerten sich im Gegenzug die Bewohnerinnen der monumentalen Espaces d’Abraxas an die ersten Jahre nach ihrem Einzug, vor allem jene, für die der Wohnungskauf oder die Zuweisung einer Sozialwohnung nach langer Wartezeit ein Aufstieg bedeutete und die nun inmitten eines Defilees an Künstlern, Architekturtouristen und Modeshootings wohnten. Hier geht es auch um das «Recht auf Stadt», das der Philosoph Henri Lefebvre 1968 in einem Manifest einforderte. Auch Lefebvre gehörte zu jenen, die Taller de Arquitectura während der Arbeit an der «Raumstadt» frequentierten.

«Recht auf Stadt» beschreibt das Recht auf politische Teilhabe, aber auch das Recht auf Vergnügen und Geniessen im Austausch von Informationen, Gütern und Affekten. Bei einem Besuch der Espaces d’Abraxas kann jedoch auch die unheimliche Dimension des Geniessens zutage treten; das Projekt diente als Filmkulisse für Blockbuster, die von einem dystopischen Überwachungsstaat handeln, erst 1984 für «Brazil» von Terry Giliam, dann 2015 für «Mockingjay: Part 2» der «Hunger Games».

In den 1980er-Jahren endete der Traum von Zentralität in Abraxas und anderen Pariser Neustädten jedoch abrupt in einer Schuldenkrise. Sie entstand durch die aggressive Vermarktung von Subprime-Krediten auf dem Wohnungsmarkt ab 1978 und erfasste nicht nur Einfamilienhaus-Siedlungen, sondern auch die jungen Neustadtzentren. Die damit einhergehende Vernachlässigung des urbanen Umfelds führte dazu, dass die Mittelklasse Abraxas genauso schnell verliess, wie dies bei den Grands Ensembles in den 1970er-Jahren der Fall war.

Weitgehendes Unverständnis

Der Grund dieses Versagens wurde auf die Ikonozität und Monumentalität von Abraxas projiziert und der Architekt in die Verantwortung gezogen, während die Wohnungsbaugesellschaft schon 1985 bankrottgegangen war. Mediales Unverständnis und der Streit mit nahezu allen Gründungsmitgliedern des Taller mögen dazu beigetragen haben, dass sich Ricardo Bofill ab den 1990er-Jahren weitestgehend aus der Fachöffentlichkeit zurückzog. Dennoch blieb er ein genialer Kommunikationskünstler, Manager und Ideengeber, dessen internationales Büro RBTA bis heute Grossprojekte von Marokko bis China realisiert. Mitte Januar starb Ricardo Bofill im Alter von 82 Jahren.

Anne Kockelkorn lehrt an der TU Delft und promovierte 2018 zu den Räumen des Abraxas und den Vorgängerprojekten von Taller de Arquitectura an der ETH Zürich.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in «Der Standard».

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