Die En­er­gie­zu­kunft als Wil­lens- und Wis­sens­fra­ge

Vor acht Jahren fragte der Bundesrat die Wissenschaft, ob und wie die Energiewende gelingen kann. Nun antworten über 300 Forscherinnen und Forscher: «Die Transformation ist möglich, wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wirklich wollen!» Ohne bessere Technik und wirksamere Gesetze geht es aber nicht.

Publikationsdatum
21-01-2020

Für einmal hinkt die Forschung der Zivilgesellschaft hinterher: Während viele jugendliche Aktivisten, einige Kantone und Städte sowie mindestens ein Gericht sich offiziell zum «Klimanotstand» bekennen und deshalb die «Netto-Null-Bilanz» bis 2030 verlangen, lässt Hans-Rudolf Schalcher, emeritierter ETH-Professor, überraschenderweise entwarnen: «Wir haben 25 Jahre Zeit, um die Energieversorgung der Schweiz klimaverträglich umzustellen.» Der Ausstieg aus dem fossilen Zeitalter und die Abkehr von der Atomenergie gilt erst ab 2050. Bauingenieur Schalcher ist «felsenfest davon überzeugt», dass dies gelingt. Seine Gewissheit zieht er aus den Ergebnissen einer sechsjährigen Forschungskampagne, an der er selbst in leitender Funktion beteiligt war.

Über 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Fachrichtungen haben am nationalen Forschungsprogramm (NFP) «Energiewende» teilgenommen; Mitte Januar wurden die Erkenntnisse abschliessend präsentiert. Schalcher, Präsident der Leitungsgruppe, fasste sie zu folgender Botschaft zusammen: «Der Ausstieg aus den fossilen und nuklearen Energieträgern ist möglich, wenn alle wirklich wollen.» Dagegen spreche eigentlich wenig. Denn eine klimaschonende Energieversorgung sei technisch machbar, sozialverträglich und wirtschaftlich interessant. «Die Privatwirtschaft darf sich zum Beispiel auf zusätzliche Marktperspektiven freuen», sagte der NFP-70-Repräsentant an der Medienkonferenz. 

Zwar wurde der Investitionsbedarf in keinem NFP-Projekt bestimmt. Dennoch gab der ehemalige ETH-Professor eine Schätzung ab: «Der Aufwand für die Energiewende wird rund 100 Milliarden Franken kosten.» Weitere Einzelheiten zur Herleitung oder zur Zweckbestimmung dieser Summe nannte er jedoch nicht. 

Auch Widersprüche aufgedeckt

Neue Details wurden dagegen bekannt, wie der «Kampf gegen die Klimaerwärmung» zu verbessern ist. Zur wesentlichen Erkenntnis gehört, dass dazu eine breite Palette an neuer Technik erforderlich ist. Die Forschungsarbeiten bestätigen unter anderem, was die Solarbranche bereits vermutet: Die gebäudeintegrierte Photovoltaik ist unverzichtbar. Deren Ausbau eröffne aber «neue Spielräume» für die Bauwirtschaft. Auf Letztere warten jedoch weitere Hausaufgaben: Bei gängigen Konstruktionsverfahren, zum Beispiel mit Beton, lasse sich der Klimaeffekt um den Faktor 4 verbessern, im Vergleich zum aktuellen Stand der Praxis. Derweil stünden technische Lösungen für die Energiespeicherung noch in den Kinderschuhen. «Um dereinst auf importierten Kohlestrom verzichten zu können, braucht es weitere Forschungsarbeiten», bestätigte Schalcher. 

Nicht alle präsentierten NFP-Empfehlungen (siehe Kasten) stützen bisherige Klimaschutzbemühungen. So wird das Potenzial der Tiefengeothermie vornehmlich auf eine Wärmeproduktion bezogen, obwohl bislang viele Kantone und auch laufende Pilotvorhaben auf die Nutzung der unterirdischen Energiequelle für eine Stromerzeugung hoffen. Ebenso dürfe das Potenzial einer CO2-Speicherung hierzulande nicht überschätzt werden, um Treibhausgasemissionen nachträglich kompensieren zu können, so der NFP-Abschlussbericht. 

Auch weiche Faktoren müssen passen

Die Energiewende-Forschung umfasste auch ökonomische, soziologische und politologische Fragen. Unter der Leitung von Andreas Balthasar, Titularprofessor für Politikanalyse an der Universität Luzern wurde die «Steuerung des Energieverbrauchs» in mehreren sozialwissenschaftlichen Projekten untersucht. Unter anderem etwa, wie sich die Bevölkerung zum Umstieg des Energiesystems stellt oder ob man dafür persönliche Verhaltensänderungen toleriert? Einige Antworten fallen jedoch ernüchternd aus. Forschungsleiter Balthasar weist in seiner Zusammenfassung auf ein grosses Wissensdefizit hin: «Etwa ein Fünftel der Bevölkerung weiss über den Klimawandel nicht Bescheid.» 

Dieses zu beheben sei eine zentrale Empfehlung für alle beteiligten Institutionen und Akteure, die sich für die erneuerbare Energiezukunft engagieren, fasst der Luzerner Politikprofessor zusammen. Programmpartner Schalcher ergänzt dies mit einem Aufruf an die gesetzgebenden Gremien, nicht allzu sehr auf die Wirkung bestehender Vorschriften zu vertrauen. «Die heutigen Regeln im Bau- und Energiebereich unterstützen die erwünschte Transformation zu wenig.» Es seien flexiblere Rahmenbedingungen erforderlich.

Die Energiewende benötigt zudem partizipativere Umsetzungsinstrumente. Gemäss Balthasar seien die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar am Umbau der Energieinfrastruktur zu beteiligen, um die lokale Akzeptanz zu erhöhen – «am besten mit neuen Finanzierungsmodellen». Befragungen für die abgelaufene Energieforschungskampagne haben sogar ergeben: «Drei Fünftel der Bevölkerung wären durchaus bereit, eigenes Kapital für die dezentrale Energieproduktion zu investieren.»

Empfehlungen für die Energiewende


Der Schweizerische Nationalfonds hat die beiden Forschungsprogramme NFP 70 «Energiewende» und NFP 71 «Steuerung des Energieverbrauchs» in den letzten fünf Jahren mit 45 Millionen Franken gefördert. Vorgängig wurden 105 Forschungsprojekte aus den Bereichen «Wasserkraft», «Mobilität», «Gebäude und Siedlung», «Energienetze» und «Energiemarkt» ausgewählt. Das Gros der technischen und sozialwissenschaftlichen Experimentier- und Analysearbeiten wurde an den beiden Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne durchgeführt, ergänzt mit Untersuchungen an Fachhochschulen aller drei Landesteile und unter Mitwirkung von Privatfirmen, Branchen- und Umweltorganisationen sowie der öffentlichen Hand.


Entsprechend richten sich die Empfehlungen, wie die Energiestrategie 2050 umgesetzt werden kann, an einen weiten Kreis von Akteuren, die Energie produzieren oder verbrauchen. Folgende Massnahmen haben sich neben den Energieversorgungswerken und den politischen Behörden nun auch das Gewerbe, Immobilieninvestoren oder Privathaushalte zu überlegen: 

  • die Einführung wirksamer Lenkungsabgaben beim Konsum von fossilen Energieträgern
  • die Verbesserung der lokalen Verankerung von neuen Energieerzeugungsanlagen
  • das Einrichten von dezentralen Energienetzen im Siedlungsraum
  • eine Flexibilisierung der Bau- und Energievorschriften
  • ein Einbinden von Interessensverbänden und Berufsorganisationen in die Wissensvermittlung


Die einzelnen Projekterkenntnisse und das Gesamtresümee zur «Forschung für die Schweizer Energiezukunft» sind auf der Website NFP-Energie.ch abrufbar.

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