«Biodiversität wird planbar und konkret»
Mehr Biodiversität im Siedlungsraum steigert das Wohlbefinden und bietet wertvollen Lebensraum für Pflanzen und Tiere. Das neue Kennwertesystem «Biodiversität & Immobilien» hilft Architektinnen und Immobilienentwicklern, genügend Flächen und eine vielfältige Natur einzuplanen.
Seit der Industrialisierung verändern sich nicht nur die Temperaturen, auch die Biodiversität nimmt kontinuierlich ab. In der Schweiz sind fast die Hälfte der rund 230 Lebensraumtypen sowie mehr als ein Drittel aller Tier- und Pflanzenarten gefährdet. Biodiversität ist nicht einfach ein Synonym für «die Natur», sondern benennt ein komplexes System der biologischen Vielfalt, in dem Pflanzen, Tiere, Insekten und Pilze sowie ihre Lebensräume miteinander interagieren. Sie umfasst sowohl die Arten selbst als auch deren Lebensräume und genetische Vielfalt. Und die Biodiversität ist nicht nur schöner Selbstzweck, sondern erbringt auch sogenannte Ökosystemleistungen, die die Grundlage für alles Leben auf diesem Planeten sind. Bei der Bevölkerungsbefragung 2019 des Bundesamts für Statistik schätzten denn auch 54 % der Befragten den Verlust der Biodiversität als sehr gefährlich ein – der Artenverlust war somit noch vor dem Klimawandel die meistgenannte und am höchsten eingeschätzte Gefahr für Mensch und Umwelt.
Die Politik beschäftigt sich zwar auch mit dem Thema, ringt aber gleichzeitig mit zahlreichen Interessenkonflikten. Die internationale Staatengemeinschaft setzte sich Ende 2022 an der Weltbiodiversitätskonferenz in Montréal das Ziel, bis 2030 weltweit 30 % Biodiversitätsflächen zu sichern. Knapp zwei Monate davor lehnte der Nationalrat hingegen den Vorschlag des Bundesrats für ein Schweizer Flächenziel von 17 % bis 2030 als Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative ab. Stattdessen sollen qualitative Ziele die Biodiversität in der Schweiz verbessern – obwohl Wissenschaft, Verwaltung, Verbände und internationale Organisationen nachdrücklich darauf hinweisen, dass die heutigen Massnahmen in der Schweiz nicht ausreichen und der Rückgang der Artenvielfalt trotz jahrzehntelanger Bemühungen und verschiedenen Zielsetzungen noch immer nicht gestoppt werden konnte.
Mischnutzungen statt Flächenkampf
Während sich die internationalen und nationalen Debatten auf einer übergeordneten Ebene bewegen und alle Interessensgruppen ihre angestammten Flächen gegenüber anderen Ansprüchen mit Vehemenz zu verteidigen versuchen, etablieren sich auf der konkreten Ebene vermehrt Mischnutzungen, die der Biodiversität im Umfeld anderer Nutzungen mehr Raum geben. Auch Landwirtschaft kann die Biodiversität fördern, genauso wie städtische Pärke, grüne Fassaden und Nischen in Hinterhöfen. Denn bei hoher ökologischer Qualität und guter Vernetzung können auch kleinere Flächen einen wesentlichen Beitrag leisten – was nicht heissen soll, dass beispielsweise unsere städtischen Räume ein Naturschutzgebiet ersetzen könnten.
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Unsere Siedlungen und wachsenden Infrastrukturen sind wesentliche Treiber des Flächen- und Artenschwunds. Gleichzeitig nimmt gerade im Siedlungsgebiet die Bedeutung naturnaher Aussenräume zu. Einerseits lebt schon heute eine Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer in städtischen Gebieten, wodurch ein grösserer Bedarf an Erholungsräumen und Naturerlebnissen in der näheren Wohnumgebung besteht. Andererseits bieten unsere Siedlungen auch einiges an Potenzial für die Natur, weil hier trotz begrenzter Flächen vergleichsweise nah beieinander vielfältige Lebensräume und Nischen zur Verfügung stehen – wenn die Grünanlagen, Strassenräume, Hinterhöfe, Vorgärten und Gebäude entsprechend gestaltet und gepflegt sind.
Ein Kennwertesystem für die Planung
«Biodiversität zu messen und zu beurteilen ist anspruchsvoll und setzt Fachwissen voraus, über das Planerinnen und Architekten oft nicht verfügen», erklärt die Geografin und Raumplanerin Katrin Hauser. Gemeinsam mit den Biologinnen Manuela Di Giulio und Danièle Martinoli haben sie darum ein Projekt lanciert, um ihr Fachwissen rund um die Biodiversität der Planung zur Verfügung zu stellen. Sie haben sich grosse Ziele gesetzt: Sie wollen den Anteil, die Qualität und die Vernetzung von Grünräumen für Biodiversität und Lebensqualität in Schweizer Siedlungsräumen erhöhen. Dafür realisierten sie verschiedene Pilotprojekte mit unterschiedlichen Partnern, von Gemeinden über Stiftungen bis zu privaten Eigentümerschaften.
Im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem Immobilienentwickler Senn entstand die Idee des Kennwertesystems «Biodiversität & Immobilien» (vgl. Kasten unten), das Architektinnen und Planer unabhängig vom Einzelprojekt auf jede Arealentwicklung anwenden können (vgl. «Ambitionierte Ziele machen kreativ»). Mit nur sieben Indikatoren bietet es eine einfache Hilfestellung, um Biodiversitätsflächen und -qualitäten zu messen und zu überprüfen. Und zwar so, dass dafür keine spezifischen Fachkenntnisse im Bereich der Biodiversität nötig wären, wie Manuela Di Giulio ausführt: «Projektleitende können während der gesamten Projektdauer selbstständig die Zielerreichung überprüfen. Für die Planung und Umsetzung der konkreten Massnahmen braucht es selbstverständlich weiterhin Fachwissen zur Biodiversität.»
Kennwertesystem «Biodiversität & Immobilien»
Sieben Indikatoren weisen auf die wichtigsten Elemente einer biodiversen Arealplanung hin:
- Biotopflächenfaktor BFF: Flächenanteil, der für Naturleistungen zur Verfügung steht;
- Grundlagen Biodiversitätsförderung: Die bestehenden Naturwerte sind bekannt und Fördermassnahmen definiert;
- Struktur- und Lebensraumvielfalt: Qualität und Anzahl Bäume, Sträucher und Wildhecken, Anzahl Lebensraumtypen (z.B. Blumenwiese, Wasserlebensraum, Trockenmauer etc.) und Strukturtypen (z.B. Niststrukturen für verschiedene Arten, Totholz, Steinhaufen etc.) sowie erhaltene Naturwerte (Baum- und Heckenerhalt als Bonuskennwert) werden berechnet;
- Lebensraumvernetzung: Tierfreundliche Bauweise, Vernetzung der Naturstrukturen in- und ausserhalb des Planungsperimeters sind sichergestellt;
- Invasive gebietsfremde Pflanzenarten: Keine Verwendung von invasiven gebietsfremden Pflanzenarten;
- Erstellungs- und Unterhaltspflege: Die Regelung der Erstellungs- und Unterhaltspflege ist vertraglich sichergestellt und wird jährlich kontrolliert;
- Naturerlebnis und Sinnlichkeit: Freiräume bieten vielfältige Sinneserlebnisse (Geräusche, Gerüche, essbare Pflanzen) und leisten einen Beitrag zu Erholung und Bewegung.
Biodiversität braucht erstens Fläche …
Der erste Indikator, der Biotopflächenfaktor BFF, wurde von der Humboldt-Universität zu Berlin entwickelt und berechnet den Anteil Vegetationsflächen eines Grundstücks, der für Naturleistungen zur Verfügung steht. Denn auch im kleinen Massstab bleibt die Flächenfrage zentral: Nur unversiegelter Boden kann seine natürliche ökologische Funktion als Lebensraum, Speicher und Filter wahrnehmen, und nur unversiegelter Boden hat die Fähigkeit, Stoffe umzuwandeln und abzubauen.
Beim BFF werden nicht nur unversiegelter Boden, sondern auch Grünflächen an Fassaden und Dächern sowie unterbaute und teilversiegelte Flächen angerechnet: Vegetationsfläche mit Bodenanschluss, also ohne Über- oder Unterbauung, wird mit Faktor 1.0 angerechnet, bodengebundene Fassadenbegrünung mit Faktor 0.5, teilversiegelte Flächen mit Faktor 0.1 etc. Verschiedene Städte wie Berlin, Paris, Singapur und Brüssel verwenden den BFF bereits heute, um präzise Zielvorgaben bei öffentlichen Bauprojekten festzulegen.
… und zweitens Qualität
«Der BFF eignet sich hervorragend als quantitativer Kennwert, macht aber kaum Aussagen zu Qualitäten», erklärt Manuela Di Giulio. Es wird etwa nicht unterschieden, ob die Vegetationsfläche mit Bodenanschluss ein kurzrasierter englischer Rasen mit Thuja-Hecke oder eine magere Blumenwiese mit alten, einheimischen Bäumen ist. «Darum erweiterten wir das System um sechs qualitative Indikatoren, bei denen neben Musskriterien jeweils eine Mindestpunktzahl und eine Maximalpunktzahl erreicht werden können», ergänzt Danièle Martinoli. Hinzu kommen Bonusindikatoren wie der Erhalt von Naturwerten, die nicht bei allen Projekten vorausgesetzt werden können, aber einen besonderen Mehrwert für die Biodiversität darstellen.
Je besser, vielfältiger und umfassender die Potenziale zur Biodiversitätsförderung ausgeschöpft werden, desto mehr Punkte erhält ein Projekt. Dabei steht jeder Kennwert für sich und kann nicht durch einen anderen Kennwert kompensiert werden. So wird sichergestellt, dass die Planung alle relevanten Aspekte einer naturnahen und vielfältigen Immobilienentwicklung berücksichtigt.
Veröffentlichung als Webtool
Aus den ersten Anwendungsversuchen mit einer Rechentabelle entsteht nun das Webtool BioValues, das öffentlich zugänglich und frei verfügbar sein wird. Im Rahmen eines Forschungsprojekts wird das Kennwertesystem momentan getestet und validiert. «Wir konnten das Bundesamt für Umwelt für die Finanzierung gewinnen», freut sich Manuela Di Giulio. «Nur wenn so ein Werkzeug möglichst breit angewendet wird, können wir der Biodiversität im Siedlungsraum einen Schub verleihen.» Beim Immobilienentwickler Senn ist die Anwendung des Kennwertesystems bereits der Standard, bei jedem Projekt werden Vorgaben zur Biodiversität gemacht und überprüft (vgl. «Ambitionierte Ziele machen kreativ»). Der Zielwert der Vernetzung ist oft am schwersten zu erreichen. Denn hier stösst man wortwörtlich an Grenzen – der Parzelle wie auch der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Aber auch wenn man nicht alle Zielwerte erreicht, kann das Kennwertesystem dabei helfen, die Potenziale eines Grundstücks und eines Projekts zu erkennen und möglichst auszuschöpfen. Denn die Fläche zählt auch im grösseren Kontext: Je mehr Areale, Parzellen, Hinterhöfe, Fassaden und Dächer etwas Platz für die Natur schaffen, umso mehr Leben und Vielfalt wird in unsere Siedlungsräume einkehren.
Testversion Webtool «BioValues»
Überprüfen Sie die Biodiversität Ihres Projekts anhand des Kennwertesystems «Biodiversität & Immobilien»:
«Siedlungsnatur gemeinsam gestalten» ist ein Projekt des Forums Biodiversität Schweiz der Akademie der Naturwissenschaften, von Natur Umwelt Wissen und scaling4good association. Es wird von den Bundesämtern für Umwelt, Wohnungswesen, Raumentwicklung und Gesundheit sowie verschiedenen Stiftungen und mehreren Pilotpartnern unterstützt.