An­na-Sei­ler Haus: Die Kunst der kur­zen We­ge

Das neue Anna-Seiler-Haus ging am 18. September 2023 in Betrieb und löste das bestehende Bettenhochhaus als Hauptgebäude des Inselspitals Bern ab. Der 63 m hohe Neubau ist hochkomplex, effizient und flexibel. Trotzdem steht der Mensch in seinem Zentrum.

Publikationsdatum
27-09-2023

Die medizinische Versorgung der Schweiz gilt als eine der besten weltweit. Selbst bei einer Befragung im Pandemie-Jahr 2020 beurteilten 98 % der Schweizer Wohnbevölkerung die Leistungen des Gesundheitssystems als sehr gut, gut oder akzeptabel. Doch es ist schon lange kein ­Geheimnis mehr: Die Kehrseite der Medaille ist die zunehmende Arbeitsbelastung durch Personalmangel, die vor allem der Akutsomatik zu schaffen macht.

In einer 2022 durchgeführten Repräsentativumfrage gab über die Hälfte der befragten Ärztinnen und Ärzte an, im vergangenen Jahr meistens oder häufig Stress erlebt zu haben. Der Fachkräftemangel macht auch vor dem Inselspital in Bern nicht Halt. Die grösste Spitalgruppe der Schweiz passte sich in ihrer über 650-jährigen ­Geschichte immer wieder neuen Tendenzen im Gesundheitswesen an.

So kann auch das kürzlich eingeweihte «Anna-Seiler-­Haus» als Zeichen seiner Zeit gelesen ­werden: Das neue Hauptgebäude des Inselspitals reagiert mit einer höchst effizienten Gebäudestruktur auf die aktuellen Herausforderungen des Spitalwesens und verschafft dem Personal mit einem durchdachten Raumkonzept mehr Zeit bei Patientinnen und Patienten.

Ein Gebäude wie eine Stadt

2013 lobte das Universitätsspital Bern einen anonymen Projektwettbewerb für das neue Anna-Seiler-Haus aus, den ersten Neubau in der Überbauungsordnung «Insel Areal III». In einer Präqualifikation für die Teilnahme am Wettbewerb konnten sich interessierte General­planerteams bewerben. Die Büros GWJ Architektur, IAAG Architekten und ASTOC Architects and Planners schlossen sich zur Planergemeinschaft «Archipel» zusammen und gingen schlussendlich mit dem Projekt «Cœur de l’Île» als Sieger hervor.

Das neue «Herz der Insel» fügt sich ins Zentrum des Spitalareals ein und ist mit vier oberirdischen ­Passerellen direkt an das Intensivbehandlungs-, Notfall- und Operationszentrum (INO) sowie an das Julie-­von-Jenner-Haus (Kinderklinik) angebunden. Im sechs­geschossigen Sockelbau mit den stark frequentierten Ambulatorien und Behandlungsräumen herrscht reges Treiben, während zwei schachbrettartig versetzte ­Türme hauptsächlich Bettenzimmer für die stationäre Pflege beherbergen.

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Um das räumliche Konzept des Anna-Seiler-Hauses zu erklären, zogen die Architekturbüros in der Entwurfsphase Begriffe aus dem Städtebau heran. Die Privatheit nimmt von unten nach oben zu – ähnlich wie in einer Stadt von den öffentlichen Räumen zu den einzelnen Wohnungen. Die Eingangshallen werden im Konzept als «Plätze» bezeichnet, da diese Bereiche von lebhaftem Betrieb und Austausch geprägt sind. Sie dienen als erste Anlaufstelle für Besuchende und verschaffen Orientierung.

Bereits beim Eintritt ins Gebäude sind deswegen die Lifte zu sehen, die täglich bis zu 5000 Personen befördern. Nebst dem Empfangsbereich befinden sich an diesen «Plätzen» multifunktionale Räume, die für Konferenzen genutzt werden, oder hochfrequentierte Ambulatorien. Zwei Lichthöfe versorgen diese Geschosse mit Tageslicht und unterstützen die grosszügige Wirkung der Hallen.

In den Pflegegeschossen betritt man zunächst das «Quartier»: Dieser Ort im Zentrum der punktsymmetrisch gestalteten Grundrisse dient als Ankunfts-, Begegnungs- und Erschliessungszone. Hier finden Besuchende eine Informationstheke, einen Aufenthaltsbereich und einen Balkon mit Blick auf die Stadt.

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Die Möblierung und Materialisierung entsprechen denjenigen des zentralen Eingangsbereichs im Erdgeschoss. Von hier aus erschliessen sich zwei «Nachbarschaften»: Wie verkehrsberuhigte Quartierstrassen, die vor allem von Anwohnerinnen und Anwohnern genutzt werden, führen Korridore zu den aussenliegenden Patientenzimmern oder den Behandlungs- und Pflegestützpunk­ten im Gebäudeinnern. Raumhohe Verglasungen versorgen die Gänge mit Tageslicht und machen diese «Nachbarschaften» zu Orten, die sich nicht nur auf ihre reine Funktionalität beschränken.

Da jeder Korridor auf ein Fenster ausgerichtet ist, kann das Pflegepersonal beim Wechsel zwischen den Räumen immer wieder über die Stadt blicken. Auch die prominent platzierten Pausenräume an zwei Ecken des Gebäudes steigern die Arbeitsqualität der Mitarbeitenden.

Durch eine graue Tür ­betritt man schlussendlich das «Zuhause»: Die Pflegezimmer, die intimsten Bereiche des Spitals, sind von beigen und warmweissen Farbtönen geprägt. Lambris in Holzoptik und graue Linoleum-­Böden verbinden ästhetische und hygienische Anforderungen. Dank der tiefen Fensterbrüstungen profitieren diese Räume von grossartigen Ausblicken und viel Tageslicht. Die Planerinnen und Planer setzten auf den Ansatz der «healing architecture», einer Architektur, die den Heilungs­prozess fördern soll (vgl. TEC21 32/2020 «Kann Architektur heilen?»). Gleichzeitig entschieden sie sich für eine ruhige und professionelle Raumgestaltung, die Ästhetik nicht über Funktionalität stellt.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 31/2023 «Die Insel setzt neue Standards»

Projektbeteiligte


Bauherrschaft
Inselspital, Universitäts­spital Bern, Direktion Immobilien und Betrieb, Insel Gruppe

Generalplanung
Planergemeinschaft Archipel, Bern

Architektur
IAAG Architekten, Bern;
GWJ Architektur, Bern; ASTOC Architects and Planners, Köln

Tragwerksplanung Hochbau
dsp Ingenieure & Planer, Uster

Tiefbau und Verkehrsplanung
Kissling + Zbinden, Bern

Landschaftsarchitektur
David Bosshard Land­schaftsarchitekten, Bern

Lean Construction
refine Schweiz, Zürich

Bauphysik, Akustik, Nachhaltigkeit/Minergie, Raumluftmessungen
Gartenmann Engineering, Bern

Elektroplanung
Bering, Bern

Lichtplanung
Reflexion, Zürich

Lineare Leuchten und Langfeldleuchten
Zumtobel Licht, Zürich

HLKK-Planung
Amstein + Walthert, Bern

Spitalbetriebsplanung
Lead Consultants, Bern

Apparate Starkstrom USV-Anlagen
ABB Schweiz, Baden


Projektdaten


Planungs- und Bauzeit
2014–2023

Geschossfläche (SIA 416)
82 000 m2

Höhe
63.3 m

Investitionskosten
670 Mio. Fr.

Anzahl Geschosse
18

Anzahl Räume
3254

Anzahl Betten
532

Zertifizierung
Minergie-P-Eco

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