Ge­fah­ren er­kannt – und die Ri­si­ken?

Risikokarten

Rund 95 % der Gefahrenkarten für die Schweiz sind erstellt – nun sind sie umzusetzen. Behörden und Liegenschaftenbesitzer müssen daraus Konsequenzen ziehen, denn hinter kleinen Gefahren können sich grosse Risiken verstecken. Risikokarten schärfen den Blick.

Publikationsdatum
17-03-2016
Revision
25-05-2016

Lange Jahre herrschte in der Schweiz die Meinung vor, dass mit entsprechend dimensionierten Schutzkonstruktionen die Gefahren, die durch die Natur drohen, abgewendet werden könnten. Als jedoch im August 1987 Dämme brachen, Flüsse und Seen über die Ufer traten wie noch kaum zuvor und enorme Schäden verursachten, platzte die Vorstellung der Beherrschbarkeit der Natur.

Ein Umdenken wurde unausweichlich; integrale Lösungen rückten ins Zentrum. Das Ziel lautete: «Von der reinen Gefahrenabwehr zur Risikokultur.» Um diesen Prozess zu fördern, erfolgte u. a. die Gründung einer ausserparlamentarischen Kommission, der PLANAT (Plattform Naturgefahren).1 Der Bundesrat beschloss zudem, dass in der ganzen Schweiz dort, wo Naturgefahren die bebauten oder anderweitig genutzten Zonen bedrohen, die Naturgefahren zu erfassen und zu kartieren sind. 

Im Bereich der Lawinengefahren gab es schon längere Zeit Gefahrenkarten. Die ersten erstellte man 1954 für Gadmen BE und 1960 für Wengen BE; weitere Gemeinden folgten. Doch bei den anderen Naturgefahren existierten kaum Grundlagen. Wie die Sektion Risikomanagement im Bundesamt für Umwelt (Bafu) erläutert, folgten die Grenzen der Gefahrenbereiche sehr oft mehr oder weniger den überbauten Zonen, und die Gefahrenzonen lagen meist ausserhalb der Überbauungen (vgl. «Mehr als ein Fünftel der Bauzonen sind gefährdet»).

Karten ergänzen – vor allem bei grossen Schadenspotenzialen

2005 waren erst 25 % der Gefahrenkarten realisiert. Heute – knapp 20 Jahre nach dem Startschuss – sind etwa 95 % der Gefahrenkarten von den dafür zuständigen Kantonen erstellt. Diese sind aber noch unvollständig. Vor allem beim Thema Hochwasser, die grosse Schäden verursachen, fehlen die Karten der Abflüsse an der Oberfläche, die nach starken Niederschlägen auftreten können. 

Oberflächenabflüsse treten bei intensiven Regenfällen auf – aufgrund der schieren Menge können die Wassermassen nach dem Auftreffen auf der Geländeoberfläche nicht (mehr) vollständig in den Boden eindringen, sondern fliessen unkontrolliert an der Oberfläche über Wiesen und Strassen einem Gewässer zu. Die vorhandenen Gefahrenkarten zeigen nur mögliche Überschwemmungen, die von einem Bach, Fluss oder See ausgehen. Oberflächenabflüsse können aber auch bei überlasteten Kanalisationen auftreten – diese werden im Allgemeinen auf ein 10-jährliches Ereignis ­ausgelegt.

Bei grösseren Ereignissen fliessen die anfallenden Wassermengen dann wegen der ungenügenden Kanalkapazität oder der überlasteten Einlaufschächte unkontrolliert über Strassen und Wiesen ab. Solche Abflüsse können mit zum Teil verheerenden Aus­wirkungen in meist ungeschützte Liegenschaften eindringen – obwohl sich dies mit geringem planerischem und baulichem Aufwand verhindern liesse. 

Die Dienststelle Verkehr und Infrastruktur (vif) im Departement Bau, Umwelt und Wirtschaft des Kantons Luzern liess (basierend auf Computersimulatio­nen) zusammen mit der Gebäudeversicherung Luzern im Jahr 2014 für den ganzen Kanton eine Oberflächenabflusskarte erstellen, um diese Lücke zu schliessen.

Ebenso er­stellte die Gemeinde Lyss BE zusammen mit dem Bafu nach etlichen schweren Überschwemmungen im Jahr 2007 eine Oberflächenabflusskarte, die nun kurz vor der definitiven Einführung auf Gemeindeebene steht und bei künftigen Baugesuchen zwingend zu berücksichtigen sein wird. Beide Karten entstanden aus der Erkenntnis heraus, dass sehr viele Schäden an und in Gebäuden in den letzten Jahren durch Oberflächenwasser entstanden sind. 

Gefahrenkarten umsetzen – ein Prozess mit Haken und Ösen

In erster Linie dienen die Gefahrenkarten den kommunalen Behörden als Grundlage für die Richt-, Raum- und Nutzungsplanung, denn der Schutz vor Naturgefahren beginnt bereits mit diesen Planungsphasen. In zweiter Linie lassen sich dann anhand der Karten die (Um-)Bau- und (Um-)Nutzungsgesuche beurteilen.

Die Erkenntnisse aus den Gefahrenkarten auf bestehende Bauzonen oder gar auf bereits bestehende Bauten und Nutzungen anzuwenden ist allerdings ­wesentlich komplexer. Unter Umständen werden Bauherren und Planer mit Gefahren konfrontiert, die sie bisher kaum zu beachten hatten, die im Lauf der Zeit zunahmen oder die gar ganz neu sind.

Bei bestehenden Bauten sind einfache (Schutz-)Massnahmen nur beschränkt möglich. Bei Umbau- oder Umnutzungs­ge­su­chen können jedoch Bewilligungen verweigert werden. Ist die Gefahr einfach zu hoch, muss schlimmsten­falls zu harten, aber nicht zu umgehenden Massnahmen wie Umsiedlungen und Rückbau gegriffen werden (vgl. «Rückbau wird zur Option»). In vielen Fällen allerdings lagen zu jener Zeit, als die ursprünglichen Bewilligungen für den Bau und die Nutzung erteilt wurden, noch gar keine Gefahrenkarten vor, oder die Gefahren haben sich seit damals erhöht.

Oft wurde früher dem ­Aspekt der Gebiets-und Ortsentwicklung ein grosses Gewicht beigemessen; man vertraute auf die technischen und organisatorischen Möglichkeiten zur Abwehr von Naturgefahren.

Wie soll man heute damit umgehen? In solchen Fällen sind alle Beteiligten gefordert: Bauherren, Planer, Facility-Manager, Versicherungen und der Staat. Je nach Gefahrenlage, den möglichen Schutzmassnahmen und den gefährdeten Objekten ist das wirksamste Vorgehen oft eine Kombination von mehreren Massnahmen an verschiedenen Orten.

Dabei sind die zu treffenden Massnahmen oft zu umfangreich, um von einem einzelnen betroffenen Besitzer getragen zu werden. Ausserdem können sie bei flächenhaften Eingriffen oder wenn die Ursachen ausserhalb der Reichweite des Grundstücksbesitzers liegen gar nicht von einem Einzelnen realisiert werden.

Als Verantwortliche für die Umsetzung der Gefahrenkarten stehen die Kantone und Gemeinden vor grossen Herausforderungen. Um sich ein Bild der Aufgaben und Probleme machen zu können, die mit dem Umsetzen der Gefahrenkarten verbunden sind, hat die PLANAT im Jahr 2014 anhand von fiktiven, aber typischen Beispielen Testplanungen mit unterschiedlichen Um- und Neubauten an verschiedenen Lagen durchgeführt.2

Aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen, den raumplane­rischen und risikobasierten Abwägungen und Über­legungen (wie Vorwarnzeiten, Schadenspotenzialen, Handlungsspielräumen etc.) entstand ein Set von zentralen Fragen mit Checklisten, Entscheidungsbäumen und Hinweisen, die die betroffenen Behörden in ihrer Arbeit unterstützen sollen. Auch offene Fragen, die im Lauf von vertieften Studien künftig anzugehen sind, wurden erkannt.

Risiko nicht auf den ersten Blick erkennbar

Zunehmend rückt das Risiko – also die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses multipliziert mit dem potenziellen Schaden – in den Vordergrund, denn eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit multipliziert mit einem sehr hohen Schadenspotenzial kann zu hohen Risiken führen. Entscheidend ist, dass Grundstücks- oder Liegenschafts­besitzer erkennen, dass die Gefahren bei den in den Gefahrenkarten gelb oder gelb-weiss dargestellten ­Bereichen zwar klein sind, das Schadens­potenzial aber (abhängig von den Werten und Randbedingungen in den gefährdeten Gebäudeteilen) dennoch sehr hoch sein kann. 

In den Gebieten, die die Gefahrenkarten mit «geringer Gefährdung» oder mit «Restgefährdung» ausweisen, sind die Gefahren klein und werden deshalb oft kaum beachtet; die Grösse eines Risikos ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Diese Risiken lassen sich auf Karten darstellen, die die von der Schwere der Gefahren oft abweichenden hohen Risiken zeigen – solche Risikokarten sind aber erst wenige vorhanden. 

Das quantitative Schadenspotenzial auf einem Grundstück lässt sich auf verschiedene Arten ermitteln, z. B. pro Fläche, pro Grundstück, in Funktion des Zonenmittel­werts oder pro Raumeinheit. Je nach Darstellung sind der Interpretation aber Grenzen gesetzt, oft sind die Ab­weichungen in Funktion der gewählten Darstellung sehr gross.3

Um im Rahmen einer Übersicht die «Hot­spots» der Risiken zu erkennen und Prioritäten zu setzen, sind Risikokarten wichtig und informativ – sie sind die logische Weiterentwicklung der Gefahrenkarten.  Risikokarten liefern nützliche Informationen, auch wenn die Risiken nur qualitativ erfasst und dargestellt werden (vgl. Kasten). Statt nur festzu­stellen, wo etwas wie häufig passieren kann, zeigen sie, welche Konsequenzen im Schadenfall zu erwarten sind.

Ein Sportplatz in einer Landgemeinde, der in einer «er­heblich gefährdeten» Zone liegt, hat ein vernachlässigbareres Risiko als ein Spital in einer «Restgefähr­dungszone», vor allem, wenn dort keine speziellen Schutzmassnahmen getroffen wurden. Bei Infrastrukturbauten ist zu fragen, welche Folgen zu erwarten sind, wenn diese ausfallen oder die in diesem Gebäude ausgeübte Tätigleit nicht mehr ausgeführt werden kann.

Risikokarten sind vor allem für die vorausschauende Planung von Interesse. Sie weisen darauf hin, wo bei Neubauten, Umnutzungen oder der Anpassung von Bauzonen Hotspots liegen und wo somit mit grosser Wahrscheinlichkeit neue oder grössere Risiken entstehen können. Mit diesen Grundlagen lassen sich auch die Auswirkungen von Verdichtungen abschätzen. Zudem sind sie ein Instrument für den partizipativen Dialog mit den Eigentümern.

Die Risiken lassen sich meistens einer Liegenschaft oder Parzelle zuordnen und damit in ein Geo­informationssystem integrieren. Der logischen Erweiterung der Gefahrenkarten zu Risikokarten im Hinblick auf Raum-, Orts- und Städteplanung steht nichts entgegen. Die Nutzniesser sind insbesondere Gemeinden, Kantone, Planer und Versicherungen.

Anmerkungen

  1. PLANAT, «Plattform Naturgefahren», www.planat.ch
  2. www.planat.ch/fileadmin/PLANAT/planat_pdf/alle_2012/2011-2015/Camenzind__Loat_2015_-_Risikobasierte_Raumplanung.pdf, Dezember 2014
  3. Publikation «Agenda» der «Fachleute Naturgefahren Schweiz», 01/2015, Seite 11

Pilotprojekt Risikokarten Hochwasser im Kanton Zürich

Das Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft (AWEL) des Kantons Zürich hat ein Pilotprojekt gestartet und im Oktober 2014 eine Risikokarte für das Risiko «Hochwasser» publiziert.1 Es hat diese Risiken beinahe im ganzen Kanton untersucht und kartiert – und manche Resultate sind aufrüttelnd: Aus den gelb eingefärbten Feldern («geringe Gefährdung») der Gefahrenkarten wurden zum Teil dunkelrote Felder in der Risikokarte, also ­Gebiete mit dem höchsten Risikopotenzial.

Fachexperten haben den übergeordneten Risiko­arten Bevölkerung, Verbindungen, Versicherungswerte, Umwelt und Kulturgüter insgesamt 42 verschiedene geo­referenzierte Parameter nach ihrer vermuteten Auswirkung im Schadenfall zugeordnet. So entstand eine qualitative Risikoanalyse für den Kanton Zürich mit Risiken von «vernachlässigbar», über «klein», «mittel» bis «gross».2

Anmerkungen

  1. www.awel.zh.ch/internet/baudirektion/awel/de/wasser/hochwasserschutz/risikokarte.html
  2. Üblicherweise wird ein Risiko in Fr./Jahr angegeben. Auf diesen herkömmlichen, quantitativen Ansatz wurde hier verzichtet, weil für eine glaubwürdige und reproduzierbare Aussage ein immenser Untersuchungsbedarf für den ganzen Kanton Zürich bestanden hätte. (AWEL)

Weitere Informationen
TEC21 17–18/2011 «Unberechenbare Sihl»
TEC21 31–32/2013 «Wie viel ein Hochwasser
in Zürich kostet»

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