Mehr Platz, bitte!
Wenn man alles will und nichts mehr geht, tritt man manchmal besser einen Schritt zurück und fängt von vorne an – so wie es die Architekten Nicole Wallimann und Christoph Reichen bei einem Mehrfamilienhaus in Basel getan haben. Statt des gewünschten Erhalts zeigte sich, dass ein Neubau die beste Lösung war. Und dass die gesetzlichen Vorgaben unerwarteten Spielraum bieten.
Nachverdichtung im innerstädtischen Raum ist gewünschter Konsens im Schweizer Architekturbetrieb. Oft ist es ein schwieriges Unterfangen, auf einer engen Parzelle eine höhere Ausnützungsziffer zu realisieren. Diese wird durch Nachbarbebauungen, das zulässige Bauprofil, den Lichteinfallswinkel und zuletzt natürlich durch den kommunalen Bauzonenplan eingegrenzt. Trotzdem entstehen immer wieder Beispiele, die durch kreative Lösungen und ein platzsparendes Konzept mehr Wohnraum in die Innenstädte bringen.
Solch ein Projekt haben Nicole Wallimann und Christoph Reichen vom Architekturbüro Walliman Reichen im Basler Matthäusquartier mit einem Ersatzneubau realisiert. Ursprünglich stand auf der Parzelle ein Wohnhaus mit Untergeschoss, drei Vollgeschossen und einem Dachgeschoss mit kleinformatigen Fenstern und einer gelben Eternitschindelverkleidung. Das schönste vor Ort war vielleicht die begrünte Pergola, die dem Strassenraum ein schattiges Plätzchen bescherte.
Trotzdem wollten Wallimann Reichen den Altbau erhalten und erweitern. Neben dem ökologischen Gedanken handelte es sich immerhin um das Elternhaus von Christoph Reichen. Die Überlegung, das Gebäude umzubauen, stand schon lange im Raum. Ein erster Anlauf direkt nach dem Studium scheiterte aber, da sich der Architekt der Aufgabe noch nicht gewachsen fühlte. Er stellte das Projekt also auf unbestimmte Zeit zurück und realisierte als erstes einen Kindergarten im aargauischen Würenlingen zusammen mit einem erfahrenen Architekturbüro in der Bauleitung.
Als dann die Idee der Instandsetzung des alten Hauses in Basel wieder ins Zentrum rückte, stellte sich die Zusammenarbeit mit Nicole Wallimann als ideale Partnerschaft heraus. Nicole Wallimann hatte bereits zwei Jahre Erfahrung in der Bauleitung in einem Zürcher Architekturbüro gesammelt. So wurde aus Estrada Reichen Architekten das Büro Wallimann Reichen.
Erhaltungsversuch gescheitert
Basel-Matthäus in Kleinbasel, ein ursprüngliches Arbeiterquartier, ist geprägt durch kleine Industrie- und Handwerksbetriebe in den Erdgeschossen und Hinterhöfen sowie Mehrfamilienhäuser mit Kleinwohnungen. Die Klientel setzt sich aus Familien, Senioren, Menschen mit Migrationshintergrund und Studierenden zusammen.
Auch aufgrund der Gesellschaftsstruktur des Quartiers wollten die Planenden das Mehrfamilienhaus erhalten. Die Konstruktion setzte sich aus einem Bruchsteinmauerwerk der Nord- und Südfassade und im Innern aus Holzbalkendecken und Holzständerwänden zusammen.
Sie bot jedoch keine gute Grundlage für eine Instandsetzung. Immer wieder gab es Probleme mit dem Abwasser, das aus der Kanalisation nach oben drückte. Im Zusammenhang mit der geplanten Aufstockung hätten die Planenden eine massive Erdbebenertüchtigung vornehmen müssen, mit der eine weitgehende Entkernung der Bausubstanz einhergegangen wäre. Zusammen mit neuen Fenstern in der Fassade wäre vom Bestandsbau nicht mehr viel übriggeblieben. Und auch die Nachverdichtung hätte nicht nach den gewünschten Vorstellungen realisiert werden können. Also entschieden sich Nicole Wallimann und Christoph Reichen für einen Ersatzneubau.
Wieviel ist möglich?
Für die Dimensionierung eines Neubaus bilden die kantonalen Baugesetze von Basel die Vorgabe. Diese beinhalten das zonenkonforme Bauprofil und die Ausnützungsziffer. Hätten die Architekten das Bauprofil maximal ausgenutzt, hätte der Bau die zulässige Bruttogeschossfläche überschritten. Eine Nachverdichtung des Quartiers wird so quasi verunmöglicht.
Bei den Planenden kam die Frage auf, wie man vom dichten Bauen in der Stadt sprechen kann, die kantonalen Baugesetze dies aber gleichzeitig verhindern. Liest man die Baugesetze jedoch genau, findet man Möglichkeiten, um nachzuverdichten. So wird etwa ein nicht selbstständig erschlossenes Untergeschoss nicht der Bruttogeschossfläche angerechnet. Zudem darf die Fläche nicht mehr als 50 % der überbaubaren Grundstücksfläche betragen.
Die Architekturschaffenden begannen, mit den Möglichkeiten zu spielen und konnten beim Bauinspektorat zusätzliche 17 m2 durchsetzen. Dieser Kniff zeigt sich heute als Untergeschoss des Ateliers, in dem sich die Arbeitsplätze von Wallimann Reichen befinden und dass über eine Wendeltreppe mit dem EG verbunden ist. Über dessen grosszügigen Luftraum blickt man von der strassenseitigen Teeküche in den Garten.
Der Neubau fügt sich nun mit einem Atelier im Erdgeschoss, drei Regelgeschossen mit je 50.5 m2 und zwei Attikageschossen mit total 60 m2 in die Häuserzeile ein. Zur 350 m2 umfassenden Bruttogeschossfläche kommen die 17 m2 Untergeschoss und weitere fast 14 m2 im zweiten Dachgeschoss hinzu, die nach Basler Baugesetz ebenso wenig der BGF hinzugerechnet werden.
Platzsparend durch Materialwahl
Die Aussenansicht des Atelier- und Wohnhauses ist geprägt durch vorgehängten Welleternitplatten und die Bandfenster, die über die gesamte Gebäudebreite reichen. Die Strassenfassade ist nach Süden orientiert, weswegen die Planenden Markisen in hellrosa integrierten – eine Reminiszenz an das Nachbargebäude. Das Atelier im Erdgeschoss sticht offen von der Strasse zum Garten durch. Im hinteren Bereich liegt ein überhoher Raum im UG, der über eine Wendeltreppe erschlossen ist.
Dieser Raum ist der Kniff des Architekturteams, um die Quadratmeter im gesetzlich eng abgesteckten Rahmen weiter auszureizen. Statisch notwendiger Ortbeton prägt die Räume des Ateliers. In den oberen Geschossen setzt sich der Beton in Form eines konstruktiven Erschliessungskern fort. Die Wohnungen der drei Regelgeschosse sind geprägt vom raumabschliessenden weiss gestrichenen Ziegelmauerwerk, braunen Holzeinbauten und grauen Zementestrich und Betondecken.
Die studioartigen Grundrisse der Wohnungen bilden einen Rundlauf um den Treppenhauskern. Im Süden liegt der grosszügige Wohnraum, der rechts und links des Kerns in Schlafzimmer und Küche über geht. Auf der Nordseite liegt das Bad. Für die Einbauten wie die Küchen oder die Schiebetüren wählten Wallimann Reichen farblos lackierte MDF-Platten, deren Materialität und Farbigkeit den Innenräumen eine warme Atmosphäre verleiht. Durch die grossen Bandfenster fällt viel Licht in die Wohnungen und mit den Hebeschiebefenstern lässt sich der Ess- und Wohnbereich in eine luftige Loggia verwandeln.
Im Attikageschoss liegt strassenseitig eine grosszügige Terrasse, die durch raumhohe Verglasungen vom Innenraum abgetrennt ist. Der nördliche Bereich der Wohnung befindet sich bereits unter der Dachschräge, die mit Seekiefer verschalt ist. Über das interne Treppenhaus erreicht man das oberste Geschoss, indem sich das Schlafzimmer befindet. Um diese Ebene zu erschliessen mussten die Planenden eine schmale und steile Treppe einbauen.
Wallimann Reichen erklären, dass diese Lösung auch nur deshalb möglich war, weil es sich um eine wohnungsinterne Erschliessung handelt. Ein offener Luftraum schafft einen Sichtbezug von der oberen Etage in den Wohnraum. So entsteht eine gewisse Leichtigkeit im doch eher engen Schlafbereich.
Mit ihrem Konzept haben Wallimann Reichen die Struktur des Quartiers weitergeschrieben. Das Potenzial der Verwendung von Beton liegt in der Schaffung von mehr Wohnquadratmetern. Mit einem effizienten Tragwerk aus Beton erfüllen bereits geringe Dimensionierungen die erforderlichen Schall- und Brandschutzvorschriften. In einer solch schmalen Baulücke zählt jeder Zentimeter.